19. Januar 2003:

Gedanken über den Vater, am Ort des Grauens

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Alexander Groß in Berlin-Plötzensee

Eine kurze Vorbemerkung:
Als ich vor einiger Zeit von Wolfgang Bürder gebeten wurde, in diesem Jahr die Ansprache hier in Plötzensee zu halten, wußte ich, dass ich damit keine leichte Aufgabe übernehmen würde. Was kann ich an diesem Ort sagen, an dem mein Vater auf grausame Weise ermordet wurde? Was verträgt dieser Raum an Worten, an Zurückhaltung oder sogar an kritischen Äußerungen? Sind nur Gedanken in die zurückliegende Geschichte oder eine Form von andächtigem Betrachten erlaubt? Sollten deshalb aktuelle Bezüge außen vor bleiben? Wäre vielleicht sogar Schweigen die einzig richtige Haltung zwischen diesen schrecklichen Wänden? Ich habe darauf keine selbstverständliche Antwort. Deshalb denke ich, dass ich das sagen sollte, was ich für richtig und was ich für notwendig halte.

Wer heute durch das Agnesviertel in Köln geht, wo wir damals gewohnt haben, der stößt auf drei sogenannte Stolpersteine. Es gibt sie inzwischen auch in Berlin. Sie sollen die Passanten darauf aufmerksam machen, dass dort einmal Menschen lebten, die unter dem NS-Regime gelitten haben und ermordet worden sind. Es sind nur gewöhnliche Pflastersteine, die mit einer Bronzeplatte oben abgedeckt sind, in denen die Daten zu der jeweiligen Person eingehämmert sind. Mit dieser Aktion erinnert der Künstler Gunter Demnig in Köln also auch an Prälat Dr. Müller, an Bernhard Letterhaus und an meinen Vater und damit zugleich an die Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Es gibt heute viele derartige basisnahe Projekte, Geschichtswerkstätten und Initiativen, die sich in der Stadt oder auf dem Dorf mit der Erforschung der Geschichte des Nationalsozialismus vor Ort befassen. Sie stoßen hierbei nicht nur auf vergessene Opfer der Diktatur, auf die ´kleinen widerständigen Leute´, sondern stellen sich auch zugleich heutigen rassistischen und menschenfeindlichen Tendenzen entgegen.

Wenn man bedenkt, dass in unserer Gesellschaft nicht wenige der Meinung sind, dass man endlich Schluß machen sollte mit der ständigen Erinnerung an die Nazizeit, dann wird die Bedeutung von Gegenaktionen offensichtlich. Diejenigen, die die Schlußstrichpositionen vertreten, kommen nicht nur aus dem Kreis rechtskonservativer Historiker und Schriftsteller, sondern auch aus der Mitte unserer Gesellschaft. Sie plädieren dafür, dass sich Deutschland endlich von der historischen Last der Naziära frei machen und zu einer Normalität - was immer das heißen mag - zurückkehren sollte.

Hier gegen zu halten und sich von der Notwendigkeit einer Erinnerungsarbeit nicht beirren zu lassen, ist der Auftrag, der auch hier von Plötzensee ausgeht. Damit ist diese Gedenkstätte einem Stolperstein ähnlich, einem Ort, der uns immer wieder zum Nachdenken über Vergangenheit und Gegenwart verleiten sollte. Die Wunden, die das Naziregime hinterlassen hat, sind noch längst nicht geschlossen. Angesichts des tiefen Zivilisationsbruches und des großen moralischen Niederganges dürften sie sich auch kaum völlig schließen lassen.

Wenn wir an die Widerstandskämpfer gegen die Naziherrschaft denken, dann erinnern wir uns an Menschen, die einen hohen ethisch-moralischen Anspruch an sich stellten und die sogar bereit waren, ihren Einsatz für Frieden und elementare Menschenrechte mit dem eigenen Leben zu bezahlen. Gewiß kam der konkreteste aller Umsturzversuche im Juli 1944 spät, sehr spät. Wie wäre die Geschichte verlaufen, wenn das mutige Attentat von Georg Elser 1939 im Münchener Bürgerbräu tatsächlich zum Erfolg geführt hätte? Es hat viel zu lange gebraucht, bis diesem einsamen aber verantwortungsbewußten Widerstandskämpfer eine öffentliche Anerkennung zuteil geworden ist. Vor kurzem konnte an seinem 100. Geburtstag erinnert werden.

Aber selbst im Juli 1944 war es weiß Gott nicht zu spät. Viele und Vieles wären noch gerettet worden, wenn das Attentat den gewünschten Erfolg gebracht hätte. Aber das war leider nicht der Fall. So kam es zu den Verhaftungen von über einhundertfünfzig Frauen und Männer. Es war nicht so, wie Hitler es noch am selben Tag im Rundfunk ausdrückte, daß nämlich eine kleine Clique "ergeiziger, gewissenloser und zugleich verbrecherischer dummer Offiziere" diesen Komplott geschmiedet hätte. Denn schon bald nach dem 20. Juli mußten sich die Machthaber eingestehen, dass der Kreis der Beteiligten nicht nur viel größer als angenommen war, sondern dass in ihren Gruppen angesehene und gewichtige Persönlichkeiten aus vielen Schichten der Bevölkerung waren, auch die Männer der KAB.

Wie kamen diese Frauen und Männer, vor allem die Christen dazu, einen aktiven politischen Widerstand gegen die herrschende Staatsgewalt zu leisten? Diese Frage drängt sich besonders auf, wenn man die Lehren der Kirche und die traditionelle Sozialisation der Christen in damaliger Zeit näher betrachtet. Da ist vor allem die Stelle im Römerbrief des Apostels Paulus zu nennen. Im Kapitel 13, 1-2 heißt es: "Jeder leiste den Trägern der staatlichen Gewalt den schuldigen Gehorsam. Denn es gibt keine staatliche Gewalt, die nicht von Gott stammt; jede ist von Gott eingesetzt. Wer sich daher der staatlichen Gewalt widersetzt, stellt sich gegen die Ordnung Gottes, und wer sich ihm entgegensetzt, wird dem Gericht verfallen" (in damaligen Ausgaben hieß es sogar: der wird der ewigen Verdammnis anheimfallen).

Diese Vorschriften und Weisungen des heiligen Paulus hatten in der Kirche einen hohen Stellenwert. Deshalb wurden die Christen seit Jahrhunderten zum Gehorsam gegenüber der weltlichen und kirchlichen Macht angehalten und bei Abweichungen von dieser Grundhaltung streng bestraft. Folglich gab es auch für die Christen kein ausgeprägtes und praxisorientiertes Widerstandsrecht, geschweige eine entsprechende Berücksichtigung in der Pastoral - wenn man von den abstrakten Lehrsätzen eines Thomas von Aquin einmal absieht. Umso höher muß die Entscheidung derjenigen Christen angesehen werden, die ihrem eigenen Gewissen gefolgt sind und gegen das verbrecherische NS-Regime Widerstand geleistet haben.

Sicher waren die Vorgehensweisen und Ziele der Widerstandskämpfer unterschiedlich. Was die Männer der KAB angeht, so hatten ihre Zielsetzungen ausgesprochen politische Akzente. Neben Überlegungen für eine neue christlichorientierte Gesellschaftsordnung und einer Vernetzung verschiedener Gruppen untereinander stand vor allem die Mitverantwortung für einen Umsturzversuch des verbrecherischen Regimes im Vordergrund, ja man schloß in den Reihen der KAB sogar die Möglichkeit des Tyrannenmordes nicht aus. Ich kann nicht mit letzter Gewißheit sagen, welche Einstellung mein Vater zu einem Tyrannenmord hatte. Von Prälat Müller und von Bernhard Letterhaus wissen wir (auch von Pater Delp), dass sie für ein Attentat auf Hitler waren und ich nehme an, dass mein Vater ebenso dachte.

Aber bis dahin war der Weg noch weit; denn der Widerstand gegen das NS-Regime mußte mühsam und stets neu bedacht und immer wieder konkret erfahren werden. Jeder Schritt in den Widerstand, jedes konspirative Treffen mit Gleichgesinnten, jede Erarbeitung einer schriftlichen Stellungnahme waren mit einem hohen Risiko verbunden. Immer mußte man sich fragen, kannst du das und willst du das verantworten, nicht nur vor den Menschen und der eigenen Familie, sondern auch vor Gott. Viele christliche Widerstandskämpfer waren tiefgläubige Menschen, denen das Schwimmen gegen den Strom der übrigen Christen wie auch der Kirchenleitung keineswegs leicht fiel. Dazu kam, dass die damaligen Bischöfe den Laien keine Kompetenz in solchen Fragen zubilligten, auch keine qualifizierte eigene Gewissensentscheidung.

So wurde etwa dem österreichischen Kriegsdienstverweigerer Franz Jägerstätter noch lange nach dem Ende des Dritten Reiches von bischöflicher Seite ein "irriges Gewissen" bescheinigt, weil er sich nicht verhielt, wie alle übrigen Katholiken in der Kriegsfrage und die Bibel in einer solch wichtigen Entscheidung von seinen eigenen Grundeinstellungen her anders auslegte.

Wir müssen deshalb festhalten, dass es das große Verdienst der Widerstandskämpfer war, dem eigenen Gewissen gefolgt zu sein und sich nicht auf zweifelhafte Kompromisse einer Vertröstung auf die Zeit nach dem NS-Regime eingelassen zu haben. Neben dem grundlegenden Gebot der Staatstreue kam noch eine sehr konkrete Anweisung durch die deutschen Bischöfe auf die künftigen Widerstandskämpfer zu. Ich meine hier das Hirtenwort vom 28.3.1933, in dem unmißverständlich den Gläubigen gesagt wurde: "Für die katholischen Christen, denen die Stimme ihrer Kirche heilig ist, bedarf es auch im gegenwärtigen Zeitpunkte keiner besonderen Mahnung zur Treue gegenüber der rechtmäßigen Obrigkeit und zur gewissenhaften Erfüllung der staatsbürgerlichen Pflichten unter grundsätzlicher Ablehnung allen rechtswidrigen oder umstürzlerischen Verhaltens." Mit ähnlichen Worten haben die Bischöfe auch in den späteren Jahren das Verbot zum Widerstand gegen die rechtmäßige Regierung wiederholt , besonders an die Adresse der kath. Verbände.

Ich will mit diesen Zitaten und Hinweisen nur deutlich machen, dass die Widerstandskämpfer schweren Herzens andere Wege als die der Bischöfe und des Vatikans gegangen sind. Für sie war die Stunde des persönlichen Bekenntnisses gekommen, auch wenn dies Verfolgung, Haft und Tod bedeuten sollte. Dietrich Bonhoeffer hat diesen Anruf an die Christen und die Kirchen mit dem Bild umschrieben, dass es an der Zeit sei, "dem Rad der Geschichte in die Speichen zu greifen." Und an anderer Stelle schrieb Bonhoeffer, dass nur der gregorianisch singen dürfe, der auch mit den Juden schreien würde. Aber solche Einstellungen und Haltungen waren damals nur bei wenigen Menschen anzutreffen. Die Mehrheit der Deutschen und sicher auch der Christen unterstützten das Regime oder ließen es zumindest gewähren. Wer diesem Rad bereits in die Speichen gegriffen hatte, der saß beispielsweise in der Haftanstalt in Berlin-Tegel, nicht weit von Plötzensee. Dort war auch mein Vater die meiste Zeit nach seiner Verhaftung am 12.8.44 in Einzelhaft. Dort kam er aber auch wieder mit Pater Delp zusammen, den er ja seit 1942 öfters in Köln oder in München getroffen hatte, um mit ihm über wichtige gesellschafts- und kulturpolitische Fragen zu beraten und die Kontakte zum Kreisauer Kreis zu pflegen. In seinem Brief vom 5.1.1945 schrieb Pater Delp an seine Mitbrüder in München: "Bitte mitglauben und mitbeten, immer wieder. Wir beten hier zu vieren, zwei Katholiken und zwei Protestanten und glauben an die Wunder des Herrgottes." Mit den vieren meinte Delp noch Graf Moltke, Eugen Gerstenmaier und meinen Vater. Es war eine authentische und intensive ökumenische Betgemeinschaft. Was Delp mit dem ´glauben an die Wunder des Herrgottes´ gemeint hat, wissen wir nicht. Wahrscheinlich war es der Ausdruck einer großen Hoffnung auf Befreiung aus den Fängen der Gestapo. Aber die Wirklichkeit war auf jeden Fall anders; denn nach den Hinrichtungen meines Vaters, Moltkes und weiteren acht Mitstreitern am 23. Januar 1945 kam für Pater Delp am 2. Februar der Tag seiner Hinrichtung.

Die Intensität seines Gebetes, auf die hier Pater Delp hinweist, war auch für meinen Vater charakteristisch. Bevor ich mich mit einigen Aspekten aus den Briefen meines Vaters befasse, die er aus dem Gefängnis geschickt hat, möchte ich einen kurzen Text aus dem Apostelbrief an die Kolosser zitieren. Ich glaube er passt an dieser Stelle, da er auch manche Parallelen zu den Männern in Tegel aufweist.. Im 4. Kapitel, Verse 2-6 heißt es: "Laßt nicht nach im Beten; seid dabei wachsam und dankbar! Betet auch für uns, damit Gott uns eine Tür öffnet für das Wort und wir das Geheimnis Christi predigen können, für das ich im Gefängnis bin; betet, dass ich es wieder offenbaren und verkündigen kann, wie es meine Pflicht ist. Seid weise im Umgang mit den Außenstehenden, nutzt die Zeit! Eure Worte seien immer freundlich, doch mit Salz gewürzt; denn ihr müßt jedem in der rechten Weise antworten können." (4, 2-6)

In den 29 Briefen und Kassibern, die mein Vater aus dem Gefängnis an meine Mutter und die Kinder gerichtet hat, nimmt allein in 24 das Beten einen wichtigen Raum ein. Es war für ihn nicht nur eine entscheidende Brücke zu Gott, sondern zugleich auch die enge und tiefempfundene Verbindung mit seiner Familie, deren existenzielle Bedeutung er in immer wiederkehrenden wie auch immer neuen Worten nicht genug hervorheben kann. Im Gebet befindet er sich aber auch in Zwiesprache mit sich selbst, in einem bisweilen bedrückenden wie auch erlösenden Klärungsprozess, was seine erbarmungswürdige Lage angeht. Um das Weihnachtsfest 1944 ist sein Gebetsanliegen besonders intensiv: "Heißer werden meine Gebete nie zum Himmel aufgestiegen sein. Ich bin aber auch gewiß, dass uns die Gnade nie näher sein wird als an diesem Tage..."

Und doch sind da neben einer solchen Gewißheit auch immer wieder Zweifel und Bitten, wie dies in seinem Brief vom 5.11.44 zum Ausdruck kommt: "Aber ich bitte Euch mit heißem Herzen: Vergest mich nicht in Eurem Gebet und Opfer. ...Ich brauche Euch und baue auf Euch, wie ich andererseits auch für Euch tue, was ich kann." - Wie hätten wir ihn je vergessen können, wie hätten wir ihn in unserem fürbittenden Gebet übersehen oder übergehen können?

In einem der beiden Briefe, die er mir nach Süddeutschland schickte, wo ich in einer Art privaten Kinderlandverschickung bei einer Familie in Baienfurt bei Ravensburg untergekommen war, schrieb er am 13.1.1945, zwei Tage vor seiner Verurteilung zum Tode: "Für uns beide war es ein schweres Opfer, Weihnachten fern von der Familie verbringen zu müssen." Ich habe mich oft gefragt, warum er seine lebensbedrohliche, nahezu hoffnungslose Situation mit meiner vergleicht. Mit gefesselten Händen schreibt er und versucht dennoch, durch einen solchen Vergleich seinem Sohn Trost zu spenden. Und weiter heißt es in dem Brief: "Jedes Opfer trägt seinen Segen in sich, und gewiß auch unser Opfer."

Das Wort ´Opfer´ hat in unserer Erziehung und im Alltagsleben stets eine wichtige Rolle gespielt. Das lag schon nahe bei einer Familie mit sieben Kindern und einem bescheidenen Einkommen des Vaters. So kam der Appell zum Opfern immer wieder in unserer Erziehung vor - genau so wie im religiös-kirchlichen Bereich. Selbst in der Gefängniszelle dachte mein Vater daran, Opfer zu bringen, obwohl seine ganze existenzielle Befindlichkeit in den langen Monaten der Haft ein einziges Opfer war. Jedenfalls verzichtete er, der starke Zigarettenraucher, bewußt auf derartige Möglichkeiten.

Als mein Vater verhaftet wurde, frug ihn meine jüngste, damals 4 Jahre alte Schwester: "Vater, wohin gehst Du?" Später schreibt mein Vater aus dem Gefängnis, dass sich dieser kleine Satz brennend in seiner Seele festgesetzt habe. Seine Antwort auf diese Frage teilt er auch mit: "Ich weiß, dass ich dahin gehe, wohin mich der Wille Gottes weist." Den Willen Gottes tun, das war das entscheidende Programm in seinem Leben. In mehreren Briefen taucht dieser Anspruch auf, besonders im Brief vom 3.12.44: "Ja, was auch geschehen mag, was wir erleiden oder worüber wir uns freuen - es sei alles zur Ehre Gottes. Und unser guter Wille, der uns den Frieden bringt, den Frieden des Herzens, den Frieden Gottes, soll darin bestehen, dass wir Gottes Willen tun."

Mit solchen Gedanken und in derartigen Prozessen hat sich mein Vater auf das Ende seines Lebens vorbereitet, das unaufhaltsam auf ihn zukam. Deshalb konnte er in seinem letzten Brief vor seinem Tod, am 21.1.1945 schreiben: "...Fürchtet nicht, dass angesichts des Todes großer Sturm und Unruhe in mir sei. Ich habe täglich immer wieder um die Kraft und Gnade gebeten, dass der Herr mich und Euch stark mache, alles geduldig und ergeben auf uns zu nehmen...Und ich spüre, wie es durch das Gebet in mir still und friedlich geworden ist...Darum weinet nicht und habt auch keine Trauer; betet für mich und danket Gott, der mich in Liebe gerufen und heimgeholt hat."

Sie können sich vorstellen, dass für ein Kind diese Worte des Vaters besonders wertvoll sind. Da waren am Ende dieses Leidensweges kein Hadern mit seinem Schicksal, keine Verzagtheit der Seele, kein Haß gegenüber seinen Peinigern und Mördern, sondern ein Zustand der inneren Ruhe und des Friedens. Solche Worte und die Gewißheit, dass er diese schwerste Stunde seines Lebens voll Vertrauen auf Gottes Liebe und Menschenfreundlichkeit mit dem nötigen Starkmut und der inneren Bereitschaft durchgestanden hat, gibt auch mir hier die Kraft, über dies alles an diesem Ort zu reden.

Aber dieser Ort ist nicht nur ein Ort der Erinnerung an die Opfer, so vorrangig dies auch sein dürfte, hier ist auch ein Ort der Täter. Wir Christen werden meistens nur auf die Opfer hingewiesen, auf ihr beispielhaftes Leben und Sterben, auf ihre guten Werke und ihre Nähe zu Gott. Sie werden uns als Vorbilder hingestellt. An die Täter zu denken und sich auch mit ihnen weiter auseinander zu setzen, kommt uns viel seltener in den Sinn. Vielleicht verleitet uns dazu die christliche Nächstenliebe oder der Anspruch auf Versöhnung. Gerade diese Einstellung und Praxis haben aber nach 1945 bewirkt, dass viele NS-Täter in keine Strafverfolgung einbezogen wurden und schon bald wieder in Amt und Würden waren. Sogar schlimmste Gewalttäter aus den Reihen der Nazis fanden - bisweilen sogar mit kirchlicher Hilfe - das Schlupfloch in Richtung Südamerika; sie konnten sich damit jeglicher Strafverfolung entziehen. Ob das was mit Nächstenliebe oder Versöhnung zu tun hat, ist für mich eigentlich keine Frage mehr. Eine kleine Gruppe junger Theologen hat vor kurzem ein Buch herausgegeben mit dem Titel "Von Gott reden im Land der Täter". Darin heißt es: "Der allzu schnelle Verzicht auf Strafe und der christliche Ruf nach Vergebung hat zur Folge, dass die legitimen Ansprüche der Opfer ignoriert und vorschnell Schuldeinsicht oder Reue auf Seiten der Täter vorausgesetzt werden. Viele, der zum Tode verurteilten NS-Verbrecher hielten sich für ´gerecht´ und sahen keinen Grund zur Reue."

Wahrscheinlich trifft das auch auf einen Mann zu, der für mich immer noch ein Synonym für Brutalität und Willkürherrschaft ist : Kriminalrat Herbert Lange. An ihn mußten wir nach der Verhaftung des Vaters unsere Briefe richten. Er war für die Vernehmungen und Folterungen und damit auch für das weitere Schicksal meines Vaters in Drögen bei Ravensbrück zuständig. Vorher hatte er sich durch den Einsatz von Gaswagen an der Liquidierung von Juden und Russen im Generalgouvernement in Posen beteiligt. Über sein Verbleib nach dem NS-Regime ist nichts Genaues bekannt, auch nicht von einer Strafverfolgung.

Die Schuld dieser mangelhaften Strafverfolgung nach 1945 liegt nicht nur bei der Justiz, die allerdings schon bald wieder viele ehemalige Nazis als Richter und Staatsanwälte in den Gerichtssälen präsentierte, sie liegt auch bei uns allen. Der Kölner Schriftsteller Ralph Giordano spricht hier von der ´Zweiten Schuld´, d.h. von den vielen Versäumnissen, die wir uns in der Nachkriegszeit geleistet haben. Jedenfalls lautet heute das Urteil über die Nachkriegsjustiz im Hinblick auf die Strafverfolgung von Naziverbrechern: zu spät (im Termin), zu wenig (von der Anzahl), zu gering (im Strafmaß).

Zu diesem Themenkomplex gehört allerdings auch - ich will das nur kurz erwähnen - die schwierige und öfters auch traurige Situation, in der sich die Kinder von Nazitätern nach 1945 befunden haben. Sie hatten und haben z.T. noch sehr zu kämpfen mit der schrecklichen Vergangenheit ihrer Täter-Familie, mit ihrem Vater oder mit beiden Elternteilen und damit auch mit ihrer eigenen Biografie. Ich denke, dass bei den Kindern der Täter noch am ehesten Ansätze für eine Versöhnung möglich wären.

Ich kann dieses Thema "Täter" überhaupt hier nur andeuten und nicht weiter vertiefen; aber es sollte uns klar sein, dass der Ruf nach Versöhnung oder Vergebung den Anspruch auf Würde und Gerechtigkeit der Opfer nicht aufhebt. Eine Versöhnung, die einseitig zu Lasten der Opfer, der Schwachen und der Minderheiten geht, ist in Wirklichkeit keine echte Versöhnung.

Ein Hauptanliegen der Karmel-Schwestern hier in Plötzensee, wo wir anschließend zu Gast sein werden, aber auch in Dachau und in Auschwitz ist die Arbeit an dem gemeinsamen Schwerpunkt ´Sühne und Versöhnung´. Zusätzlich hat der Berliner Karmel noch den Komplex ´Widerstand´ in die Arbeit einbezogen. Die Schwestern wollen damit die Erinnerung an alle Opfer der NS-Zeit lebendig halten und zu einer Verantwortlichkeit für unsere Zeit beitragen. Auf ihrer Internetseite stellen die Karmeln-Schwestern kritisch fest, dass gemessen an dem Massenmord an den Juden, dem millionenfachen Mord an Polen und anderen Nationalitäten, nur eine Minderheit von Christen damals den Mut zum Widerstand besaß. Angesichts der Shoa gilt auf jeden Fall für Christen, wenig überlegte Gesten der Versöhnung zu vermeiden und vor allem jegliche Ansätze einer Christianisierung von Auschwitz zu unterlassen. Die Banalität des sinnlosen Leidens und Sterbens an diesem Ort läßt eine theologische Überhöhung und allzu griffige Deutung kaum zu. Dass wird uns vor allem angesichts des damaligen Staatsziels klar, als die Nazis verordneten, einfach eine Million jüdischer Kinder umzubringen! Die große Ratlosigkeit, die selbst in einer ´Theologie nach Auschwitz´ steckt, vermag auch hierauf keine Antwort zu geben. Den Holocaust kann man nicht logisch begreifen, auch nicht neben andere Epochen historisch einordnen. Hier versagen unsere Erklärungsmuster und unsere Maßstäbe. Elie Wiesel, Publizist und Schriftsteller, Überlebender von Auschwitz hat einmal im Hinblick auf den Holocaust gesagt: "Schweigen ist verboten, sprechen ist unmöglich." An diesem Ausspruch wird deutlich, wie schwierig es in diesem Kontext ist, Wege der Versöhnung zu finden und auch zu gehen. Auf jeden Fall müssen die Schritte aufeinanderzu authentisch und wahrhaftig und damit frei von diplomatischen Spielregeln und Gepflogenheiten sein.

Wo wollen, wo können wir ansetzen in unserem ehrlichen Bemühen um Versöhnung? Da geht es zunächst und vor allem um die Gerechtigkeit, die in unsererm Kontext das oft verschwommene Wort der Wiedergutmachung bekommt. Gewiß ist hier schon viel getan worden, oft sehr spät, wie die Entschädigung für die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter deutlich macht. Aber es warten noch viele auf eine Anerkennung ihrer Leiden und auf eine konkrete Hilfe. Ich nenne hier nur einige dieser Opfergruppen: die Sinti und Roma, die Zwangssterilisierten und Euthanasie-Geschädigten, die Homosexuellen, die Kriegsdienstverweigerer, die Deserteure und die Zeugen Jehovas. Letztlich gibt es keinen anderen Weg als den, der Erinnerung nicht auszuweichen und neue Zeichen für einen wirklichen und wirksamen Shalom zu setzen. Dazu gehört auch die kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte unserer Kirche und ihrer Autoritäten, wie es Kardinal Sterzinsky im Zusammenhang mit der Seligsprechung meines Vaters gefordert hat.

Ich komme noch einmal auf die Widerstandskämpfer zurück, die hier in Plötzensee ihr Leben lassen mußten. Sie alle sollten ´Stolpersteine´ sein und bleiben. Das wünsche ich mir vor allem für meinen Vater, damit sein Andenken nicht nur im ganz persönlichen Leben des einzelnen und im kirchlichen Raum eine Bedeutung hat, sondern auch im Bereich von Politik und Gesellschaft. Vor allem sollte mein Vater ein Stein des Anstoßes sein und bleiben, wo die Würde des Menschen mit Füßen getreten wird, wo die Folter regiert und wo Menschen sterben müssen, weil sie den Interessen der Mächtigen im Wege stehen. Märtyrer sollten uns deshalb nicht den Blick verstellen auf die Opfer unserer Tage und auf die Aufgaben und Verpflichtungen, die uns heute aufgetragen sind.

Es würde zu weit führen, hier über die großen politischen Probleme unserer Zeit etwas zu sagen: die vielen militärischen Konflikte und Kriege, die zunehmende Verarmung überwiegend in den Ländern der südlichen Hälfte unserer Erde, die unübersehbaren ökologischen Probleme und die immer noch zahlreichen Diktaturen weltweit - um nur einige hier zu nennen. Vor allem wäre es notwendig, hier etwas ausführlicher zu den massiven Vorbereitungen eines sogenannten Präventivkrieges gegen den Irak zu sagen. Gewiss wäre die Entmachtung von Sadam Hussein das Beste für die irakischen Völker. Dennoch steht eines heute schon fest: Im Krieg leidet vor allem die Bevölkerung; leiden wird auch die Wahrheit, wie das beim ersten Golfkrieg und bei anderen Kriegen nur allzu deutlich der Fall war. Der eindringliche Appell des Papstes sollte uns motivieren, sich engagiert und in vielfältiger Weise gegen alle Kriegspläne und ihre Befürworter zu stemmen. Wörtlich sagte Papst Johannes Paul II: "Krieg ist niemals ein unabwendbares Schicksal. Krieg bedeutet immer eine Niederlage für die Menschheit." Ich kann in unserem Zusammenhang hier nur an die Widerstandsgeschichte gegen den Naziterror erinnern und an den Schwur von Buchenwald: Nie wieder Faschismus - nie wieder Krieg! Es liegt somit an uns die herausfordernden und notwendigen Schlüsse aus der Erinnerung an diese Vergangenheit zu ziehen und mit Mut und Hoffnung unsere Aufgaben heute wahrzunehmen, d.h. uns für Frieden und Gerechtigkeit sowie für die Würde jedes einzelnen Menschen wie auch für Minderheiten bei uns und unter allen Völkern der Erde einzusetzen. Ich denke, dass das die Botschaft ist, die von diesem Raum ausgeht.

Alexander Groß
Berlin-Plötzensee am 19.1.2003


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