Januar 2003:

Nikolaus Groß - Zeugnis in schwieriger Zeit

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Essay zu den Briefen aus dem Gefängnis

Alexander Groß

Der Weg in den Widerstand

Die Briefe meines Vaters aus dem Gefängnis stehen am Ende seiner Widerstandstätigkeit gegen das NS-Regime. Vorausgegangen waren Jahre, in denen es immer wieder zu konspirativen Treffen mit Gleichgesinnten gekommen war. Hierbei ging es vor allem um eine klare Analyse der politischen Verhältnisse und Entwicklungen, um ein Nachdenken über wichtige Aspekte und Aufgaben für einen Neuanfang nach dem Ende der Nazidiktatur, um eine engere Vernetzung mit anderen Widerstandsgruppen und um Möglichkeiten und Pläne für einen politischen Umsturz des Regimes. Gleichzeitig wuchsen nicht nur die Risiken und Gefahren für das Leben vieler Menschen im eigenen Land sowie in den am Krieg beteiligten Nationen, sondern es wuchsen auch die Gefahren für das eigene Leben der Widerstandskämpfer. Dass sie trotzdem weitermachten und sich hiervon nicht beirren ließen, zeugt von ihrem großen Verantwortungsbewusstsein und von ihrer hohen moralischen Einstellung.

Der Anteil von Christen in den verschiedenen Widerstandsgruppen war beachtlich. Von ihrer Kirche hatten sie keinen Auftrag und keine Aufmunterung erhalten. Die Kirchenleitung tat sich schwer im Umgang mit den neuen Machthabern, die als politische Partei und Bewegung vor dem 30.1.1933 seitens der Bischöfe eindeutig abgelehnt worden waren. Nun standen sie als angeblich legitime wie legale politische Kraft im Zentrum der Staatsgewalt. Der alten Tradition des Paulus-Wortes in Rö-mer 13 entsprechend (alle Staatsgewalt kommt von Gott) waren nun die Nazis die "rechtmäßige Obrigkeit", der man den schuldigen Gehorsam zu leisten hatte. Aus dieser theologischen wie kirchenpolitischen Einstellung heraus kam deshalb das gemeinsame Hirtenwort der deutschen Bischöfe am 28.3.1933 nicht von ungefähr. Es ermöglichte nicht nur für die Katholiken die aktive Mitarbeit in den NS-Organisationen, es brachte nicht nur dem neuen Staatswesen eine offizielle Anerken-nung, es legte vor allem den Gläubigen die heilige Pflicht auf, gegen das neue Regime kein rechtswidriges oder umstürzlerisches Verhalten an den Tag zu legen. Laut dieser Weisung der Kirchenleitung war damit ein Widerstand gegen die sich bald stabilisierende Hitlerdiktatur nicht erlaubt.

Am 20.8.1935 brachten die Bischöfe in einem Schreiben an Hitler diese persönliche Einstellung und innerkirchliche Vorschrift speziell im Hinblick auf die katholischen Verbände nochmals deutlich zum Ausdruck: "Wir Bischöfe, auf deren Gewissen die Aufsicht über die katholischen Verbände liegt, verbürgen uns, daß diese katholischen Verbände keine politischen, oder gar, was Wahnsinn wäre, dem jetzigen Regiment feindlichen Tendenzen pflegen."

Im Hinblick auf diese Position der Kirchenleitung sind die christlichen Widerstandskämpfer nicht aus einem Gehorsam, sondern aus einem Ungehorsam heraus in den Widerstand gegangen. Ähnlich sieht dies auch der Kirchenhistoriker Konrad Repgen, wenn er feststellt: "Es haben aber auch Katholiken sich mit dieser defensiven Selbstbewahrung nicht begnügen wollen und die Risiken des aktiven Widerstands auf sich genommen: Namen wie Bernhard Letterhaus, Joseph Wirmer und Alfred Delp SJ stehen für viele. Sie haben dies nicht im Auftrag der kirchlichen Führung getan und sind von dieser dabei auch nicht gestützt worden. Die Bischöfe haben aktiven Widerstand nicht als Sache der Kirche verstanden."

Wie wenig die Bischöfe einen ethisch-politischen Widerstand damals verstanden haben, geht aus dem Schreiben von Erzbischof Gröber, Freiburg, an den Präsidenten des Volksgerichtshofes Roland Freisler vom 16.10.1943 hervor, in dem er sich kategorisch von seinem Diözesanpriester, Dr. Max Josef Metzger, distanziert und sich sogar für das "Verbrechen" entschuldigte,. das dieser begangen hätte. Metzger hatte es als seine Aufgabe als Christ und Gründer des Friedensbundes deutscher Katholiken angesehen, durch eine Mitarbeiterin eine Friedensbotschaft zu einem schwedischen Bischof gelangen zu lassen. Allerdings war diese eine Spitzel der Gestapo, so dass es zur Verhaftung von Metzger und am 17.4.1944 zu seiner Hinrichtung kam (s. Quellen-Anhang 2).

Aber auch nach den Ende der Naziherrschaft dachte die Kirchenleitung in Freiburg nicht anders. In einem Schreiben vom 19.2.1947 an die Schriftleitung der Jugendzeitschrift "Der Fährmann" warnte der Freiburger Generalvikar davor, das Mitglied der Widerstandsgruppe "Weiße Rose" Christoph Probst "als großes und leuchtendes Vorbild" herauszustellen. Er bescheinigte zwar "Probst und seinen Gesin-nungsgenossen" einen guten Willen für ihr Handeln, objektiv jedoch - so meinte er - könnte ihr Weg "nicht als der der Nachfolge Christi" anerkannt werden. Probst wurde zusammen mit den Geschwistern Scholl am 22.2.1943 hingerichtet (s. Quellen-Anhang 4).

Selbst die Kriegsdienstverweigerung des österreichischen Bauern Franz Jägerstätter, die er aus tiefen religiösen Gründen vertrat, war den Bischöfen moralisch suspekt und als eine Vorbildfunktion für Christen ungeeignet, wie es in dem Schreiben des Bischöflichen Ordinariates von Linz (Donau) vom 11.8.1945 zum Ausdruck kommt. Franz Jägerstätter wurde am 9.8.1943 hingerichtet (s. Quellen-Anhang 3).

Bei einer solchen Sicht der Kirchenleitung hatten die Widerstandskämpfer kaum eine Chance, vom eigenen Bischof verstanden oder sogar unter Berücksichtigung ihrer eigenen Gewissensentscheidung zum Widerstand gegen das Unrechtssystem ermuntert und bestärkt zu werden.

Es ist das besondere Verdienst der katholischen Widerstandskämpfer, auf die eigene innere Stimme gehört zu haben und ihrem Gewissen gefolgt zu sein, auch wenn die Interessen der Kirchenleitung weiter in Richtung Anpassung und institutionelle Selbstbewahrung für die Kirche gingen. In den zwölf Jahren der Nazidiktatur ergaben sich deshalb immer wieder Differenzen zwischen der KAB und den Ortsbischöfen sowie öfters frustrierende Anläufe mit dem Ziel, die Kirchenleitung zu bewegen, ihre Tonart gegenüber den Nazis zu verschärfen. Vor allem fühlten sich die Verbandsvertreter durch die undefinierte Absicherung im Reichskonkordat im Stich gelassen, was von der Gegenseite reichlich ausgenutzt wurde.

Völlig unverständlich und enttäuschend dürfte für die KAB-Leitung wie überhaupt die Katholiken im Erzbistum Köln die Anordnung von Kardinal Schulte im "Kirchlichen Anzeiger" vom 5. April 1939 mit der allzu devoten Haltung gegenüber dem Diktator Hitler gewesen sein (s. Quellen-Anhang 1). Es liegt deshalb nicht fern zu sagen, dass die christlichen Widerstandskämpfer - bei aller Anerkennung und Verbundenheit gegenüber den Bischöfen - auch an ihnen gelitten haben dürften.

Auf jeden Fall dürfte der Weg in den Widerstand den meisten Widerstandskämpfern keineswegs leicht gefallen sein; er musste mühsam erlernt und immer wieder neu riskiert werden. Jedes neue Treffen konnte das letzte sein, jede schriftliche Ausarbeitung war potenziell zugleich ein belastendes Beweisstück, jede Weitergabe von wichtigen Informationen und Abmachungen konnte am nächsten Tag schon bei der Gestapo aktenkundig sein. Schließlich war die Denunziation zum Strukturelement von Staat und Gesellschaft der Nazizeit geworden.

Dies ist hier nur die grobe Skizze eines Teils des Kontextes, in dem sich der Widerstand von Christen gegen das NS-Regime abspielte und in dem sich auch mein Vater befand, als ihn die Gestapo in die Gefängnisse in Ravensbrück/Drögen, Berlin-Tegel und Plötzensee einsperrte. Die nachfolgenden persönlichen Gedanken geben - auf der Grundlage der Briefe aus dem Gefängnis - Einblicke in die letzten Monate seines Lebens. Sie werden von mir eingeleitet mit einem kleinen Auszug aus dem A-postelbrief an die Kolosser.


Die Briefe aus dem Gefängnis

Laßt nicht nach im Beten; seid dabei wachsam und dankbar! Betet auch für uns, damit Gott uns eine Tür öffnet für das Wort und wir das Geheimnis Christi predigen können, für das ich im Gefängnis bin; betet, daß ich es wieder offenbaren und verkündigen kann, wie es meine Pflicht ist. Seid weise im Umgang mit den Außenstehenden, nutzt die Zeit! Eure Worte seien immer freundlich, doch mit Salz gewürzt; denn ihr müßt jedem in der rechten Weise antworten können
(Aus dem Brief an die Kolosser, 4, 2-6)

Als der erste Brief aus dem Gefängnis zu Hause ankam, war es - trotz der traurigen Situation - eine gewisse Erlösung. Seit dem 12. August 1944, dem Tag seiner Verhaftung durch die Gestapo, hatte die Familie nichts mehr von ihm gehört. Bei der notorischen Willkürherrschaft des Naziregimes war alles möglich, auch bereits sein Tod. Aber der Vater lebte. Der Brief vom 3.9.1944 kam aus der Sicher-heitspolizeischule Drögen, ganz in der Nähe des KZ Ravensbrück. Dort in Drögen hatte die Gestapo die zentralen Verhöre der direkt oder indirekt Mitbeteiligten am Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 organisiert. Häufige Bestandteile dieser Verhöre waren Folter und schwere psychische Drangsalierungen. Der Gestapo ging es darum, möglichst bald und möglichst umfassend über das Komplott "ehrgeiziger, gewissenloser und zugleich verbrecherischer dummer Offiziere" (Hitler gegen ein Uhr nachts im Rundfunk) die erforderlichen Kenntnisse zu erhalten. Schon bald nach dem 20. Juli mussten sich die Machthaber eingestehen, dass der Kreis der Beteiligten an diesem konkretesten Umsturzversuch gegen das NS-Regime weitaus größer und bedeutsamer war als dies ursprünglich angenommen worden war. Auf jeden Fall begann sogleich die große Verfolgung aller ‚Mitschuldigen' und der Einsatz der bereits bekannten Vernichtungsmaschinerie.

Der erste Brief meines Vaters aus dem Gefängnis bringt zunächst und vor allem seine Freude zum Ausdruck, "daß ich Euch allen liebe und herzliche Grüße schicken kann." Es folgen eine Reihe von Bemerkungen, die im Laufe der nächsten Monate immer wieder in den Briefen auftauchen. Diese Wiederholungen sind alles andere als Leerfloskeln. Sie vermitteln vielmehr gleich zu Beginn seiner Haftzeit wichtige Anliegen und Botschaften, die meinen Vater in dieser existenziellen Bedrängnis stark bewegt haben. Es geht ihm immer wieder um

Alle diese Standards kommen - wie gesagt - in dem ersten Brief vom 3. September bereits zur Sprache. Verständlich, dass in diesem Brief auch einige konkrete Wünsche für die Zusendung wichtiger Gegenstände enthalten sind. Zwar musste mein Vater bereits seit längerer Zeit, vor allem aber nach dem Attentat auf Hitler, mit einer Verhaftung und einem Verhör rechnen. Dennoch kam der ‚Besuch' der Gestapo an diesem Samstagmittag im August 1944 zu plötzlich, um entsprechend gerüstet zu sein. So fehlte ihm vieles, als er schließlich in der Zelle des Gestapogefängnisses als politischer Gefangener Nr. 1499 4/144 inhaftiert wurde. Und doch ist die Liste seiner Wünsche eher bescheiden: Rasierzeug, Wäsche und vor allem Briefpapier und Briefmarken. Auch im nächsten Brief, vom 5.-7. September 1944, tauchen Wünsche für ein kleines Paket auf. Im Inhalt etwa ein Hut ("nicht den besten..."), Nähzeug und Schnürsenkel.

Die Briefe meines Vaters aus dem Gefängnis legen die Vermutung nahe, dass mit ihnen zugleich eine bestimmte Strategie verfolgt werden sollte und sie Bestandteile einer Verteidigungsposition waren, die in der Tat bis zur Verhandlung vor dem Volksgerichtshof am 15.1.1945 durchgehalten wurde. Es ist die Position eines Familienvaters, dem nur das Wohl der Seinen am Herzen liegt. Es ist die Rolle eines eher unwissenden Mitbeteiligten im Widerstand, was auch z.T. in der Urteilsbegründung durch den Vorsitzenden Roland Freisler zum Ausdruck kommt: "Gross gab seine Tat offen zu, behauptete allerdings, als Nichtakademiker sich über deren Tragweite nicht klar geworden zu sein. Doch konnte ihn das nicht retten. ‚Er schwamm mit im Verrat, muß folglich auch darin ertrinken.'(Freisler)" Und dann heißt es abschließend weiter in dem Bericht des Prozessbeobachters für die Parteikanzlei: "Bescheiden im Wesen, bei der Urteilsverkündigung dem Weinen nahe."

Dass sich der berüchtigte Freisler in seiner Urteilsbegründung über die wirkliche, umfangreiche Widerstandstätigkeit meines Vaters geirrt hat, steht auf einem anderen Blatt. Denn mein Vater war alles andere als ein bloßer Mitläufer in der Widerstandsbewegung. Vieles, was er an konspirativer Tätigkeit geleistet hat, blieb der Gestapo und dem Volksgerichtshof verborgen. Aber das soll hier nur kurz angemerkt werden, denn an dieser Stelle geht es um seine Strategie gegenüber den NS-Schergen und einer evtl. Verhandlung vor dem höchsten Sondergericht der Nazis.

Eine solche Prozess-Strategie war keineswegs außergewöhnlich Auch andere Widerstandskämpfer, etwa sein Zellennachbar Eugen Gerstenmaier, haben versucht, diesen Weg in der Hoffnung auf ein milderes Urteil zu beschreiten. An ihm wie auch an weiteren Fällen zeigt sich, dass dies tatsächlich den entsprechenden Nutzen bringen konnte. Andererseits ist festzuhalten, dass es sicher keinen großen Spielraum gab, auf dem offiziellen Postweg politische Gedanken zur augenblicklichen Lage oder im Hinblick auf die Zukunft mitzuteilen.

Andere Widerstandskämpfer legten sich nicht auf eine solche Strategie fest. Von Alfred Delp, Dietrich Bonhoeffer und Graf Moltke sind viele Schriftstücke aus der Gefängniszeit vorhanden, die einen ausgesprochen politischen oder weltanschaulichen Inhalt und Ton haben. Sie wurden in der Regel aus dem Gefängnis geschmuggelt, insbesondere von dem protestantischen Gefängnisseelsorger Harald Poelchau. Delp wie auch Bonhoeffer haben auf diesem Weg der Nachwelt wesentliche Gedanken ihrer engagierten Theologie hinterlassen.

Die Wahl einer anderen Prozessstrategie heißt natürlich nicht, dass mein Vater aufgehört hätte, politisch zu denken und sich während der Haftzeit für die Entwicklung der politischen Verhältnisse nicht mehr zu interessieren. Vielmehr dürfte es für ihn wichtig gewesen sein, jede mögliche Information oder Meinung von anderen Mithäftlingen mitzubekommen und in seiner Zelle weiter zu verarbeiten. Schließlich wuchsen mit dem Vorrücken der alliierten Truppen möglicherweise auch die Chancen des eigenen Überlebens.

Dennoch: mein Vater vermeidet, von wenigen Ausnahmen abgesehen, den Weg von Delp und Bonhoeffer sowie jeden politischen Inhalt in seinen Briefen. Lediglich in seinem Brief vom 17.9.1944 sind einige Zeilen so dick schwarz durchgestrichen, dass das Geschriebene völlig unkenntlich gemacht wurde. Es gibt keinen Anhaltspunkt, was er dort mitteilen wollte. Ansonsten hält er sich an diese un-politische Linie, und er bittet zugleich seine Briefschreiber, sich ebenfalls daran zu halten. "Ich brauche Euch nicht zu sagen, daß andere Fragen und Angelegenheiten als die unseres persönlichen und familiären Lebenskreises in unseren Briefen nichts zu suchen haben." (5.9.1944) Hinter einer solchen Vorgehensweise steckt viel Hoffnung, steckt die Erwartung, dass ein solches Verhalten für die Beurteilung eines Häftlings möglicherweise entlastend wirken könnte und der ‚Kelch' eines bitteren, gewaltsamen Todes, der Hinrichtung durch den Strang, doch vorübergehen möge. Diese Hoffnung ist identisch mit der Liebe zum Leben und zu seiner Familie. Und diese ist es auch, die meinem Vater immer wieder die Kraft gab, sich nicht einfach in das böse Schicksal einzufügen, sondern dagegen anzugehen. In diesem Kontext waren auch seine Briefe sowie die wenigen Kassiber (herausgeschmuggelte Nachrichten) vor allem Bestandteile der Hoffnung auf ein Wiedersehen mit seiner Frau und seinen Kindern. In dem Kassiber vom 4.12.1944 kommt dies besonders stark zum Ausdruck. Er schreibt der Mutter: "Sei getrost: Ich habe die feste Überzeugung, daß mit mir alles gut auslaufen wird. Das ist keine billige Selbsttäuschung. Wir müssen nur Geduld haben und beten. Laß Dich unter keinen Umständen niederdrücken: Gott hilft uns, und eines Tages werden wir ihm alle vereint aus tiefstem Herzen für seine Hilfe danken." - Die Erwartung eines Wiedersehens in Freiheit ging leider nicht in Erfüllung. Am Ende seiner Haftzeit stand nicht die Heimkehr, sondern der Tod.

Der zweite Brief aus Drögen wird an drei aufeinander folgenden Tagen geschrieben "Man muß sich die Freude gut einteilen", schreibt er. Von besonderer Bedeutung ist für ihn der mittlere Tag. Der 6. September erinnert ihn an die Nachricht, die ein Jahr zuvor zu Hause eintraf, dass nämlich der älteste Sohn in Russland vermisst sei. Schon früher war meinem Vater die Idee gekommen, den Äl-testen spirituell, aber auch z.T. ganz praktisch im Familienkreis weiter präsent zu halten. Die Überlegung war, dass wir Geschwister reihum den Sonntagsgottesdienst zwei Mal besuchen sollten, das zweite Mal an Stelle unseres Bruders. Nach seiner Verhaftung wurde auch der Vater in das besondere Memento der Kinder beim Messbesuch einbezogen. Er empfindet es, so schreibt er, als ein "kleiner Funke stillen Glücks", mit uns im Geiste verbunden zu sein, auch beim Gottesdienst am Sonntag.

Die Briefe nach Drögen mussten adressiert werden "z.H. von Herrn Krim. Rat Lange", der auch die Verhöre leitete. Dieser Name war und ist immer noch für mich ein Synonym für Brutalität und Raffinesse, für Willkür und Vernichtung. Vor Jahren versuchte ich herauszufinden, was mit ihm nach dem Ende des Regimes geschehen ist, welche Karriere ihm vielleicht in den nachfolgenden bundesrepublikanischen Gegebenheiten noch gelungen war. Leider sind die Ergebnisse dieser Recherchen nicht besonders ergiebig. So kann ich hier nur auf einen Beitrag von Johannes Tuchel aus dem Jahr 1994 verweisen, der im Auftrag des Landes Brandenburg in einem Sammelband unter der Überschrift "Die Sicherheitspolizeischule Drögen und der 20. Juli 1944 - zur Geschichte der ‚Sonderkommission Lange'" erschienen ist. Es ist der gleiche Gestapobeamte, der sich bereits Jahre vorher mit dem Einsatz von Gaswagen an der Liquidierung von Juden und Russen im Generalgouvernement in Posen hervorgetan hat. Über sein persönliches Schicksal und seinen evtl. Verbleib nach dem NS-Regime ist nichts Genaues bekannt, ebenso nicht von einer Strafver-folgung nach dem Krieg. Damit ist der Fall durchaus symptomatisch.

Mit der Thematik der ‚Straflosigkeit von NS-Verbrechen' nach dem Ende des Naziregimes habe ich mich seit vielen Jahren immer wieder befasst. Es ist ein weiteres dunkles Kapitel deutscher Geschichte. Auch die Kirche war hieran nicht ganz unbeteiligt. Ehemalige Parteigenossen bekamen allzu schnell und allzu leicht den gewünschten ‚Persilschein', mit dem sich die Tore für Beruf und Karriere leichter öffnen ließen. Aber auch grausame Schreibtischtäter und Massenmörder (Eichmann, Barbie, Rauff etc.) aus der NS-Zeit erhielten kirchliche Hilfestellungen, um sich straflos nach Südamerika absetzen zu können.

Bei aller Priorität des Gedenkens an die Opfer der Nazidiktatur sollte man die Täter nicht aus den Augen verlieren, Begriffe hierbei nicht verwischen und keiner allzu oberflächlichen Versöhnung auf Kosten der Wahrheit und der Menschlichkeit das Wort reden. Das ist nicht nur eine politische Ansicht. Eine kleine Gruppe junger Theologen hat vor kurzem ein Buch herausgegeben mit dem Titel "Von Gott reden im Land der Täter". Hier geht es u.a. um die Frage eines Verzichtes von Strafe, eine Diskussion, die von Chile über Südafrika bis nach Europa hin heute geführt wird. Wörtlich heißt es in dem Buch: "Der allzu schnelle Verzicht auf Strafe und der christliche Ruf nach Vergebung hat zur Folge, dass die legitimen Ansprüche der Opfer ignoriert und vorschnell Schuldeinsicht oder Reue auf Seiten der Täter vorausgesetzt werden... Viele der zum Tode Verurteilten NS-Verbrecher hielten sich für ‚gerecht' und sahen keinen Grund zur Reue." Dies und vieles mehr einfach mit dem Hinweis auf den ‚barmherzigen Gott' zuzudecken und in ein pauschales moralisches Vergebungsmuster einzupacken, kann sicher nicht die erforderliche Antwort sein.

Die Bedeutung des Erhalts eines Briefes im Gefängnis war für meinen Vater lebenswichtig. Vor allem, so schreibt er, "warte ich mit Sehnsucht auf Nachricht". Zur Zeit seiner Verhaftung fanden fast Nacht für Nacht Fliegerangriffe auf Köln und auf andere Städte statt. Er wusste deshalb um die Gefährdungen, denen die Familie ausgesetzt war. "Es kann bei Euch in der Zeit meiner Abwesenheit viel vorgegangen sein. Daran bin ich mit dem Herzen beteiligt." (5.9.1944)

Schon vor der Verhaftung meines Vaters war die Familie nicht mehr vollständig im Kölner Elternhaus zusammen, und so nach und nach wurde auch für die übrigen Angehörigen eine Lösung gefunden. Mein jüngerer Bruder kam zu einer befreundeten Familie an die obere Sieg. Meine Mutter ging mit zwei meiner Schwestern in ihr Heimatdorf nahe Essen und zwei weitere Schwestern, die in einem Lazarett arbeiteten, fanden eine Unterkunft bei Verwandten in einem Nachbarort. Ich selbst wurde mit Hilfe des Caritasverbandes an eine Familie in Baienfurt bei Ravensburg (Südschwa-ben) vermittelt, wo ich ein Jahr zubrachte. Alle traurigen Nachrichten, auch die vom Tod meines Vaters, musste mir die dortige Pfarrschwester Johanna nahebringen; eine schwierige und undankbare Aufgabe, die sie selbst oft nur mit Tränen in den Augen leisten konnte. Als ich schließlich Mitte Juni 1945 wieder zu Hause ankam, fehlten nicht nur weiterhin der älteste Bruder, sondern jetzt auch der Vater.

In mehreren Briefen denkt mein Vater voller Dankbarkeit namentlich an die hilfreichen Menschen, die uns vor allem in den letzten Kriegsjahren wirksam unterstützt haben. Einige sollen hier beispielhaft genannt werden: Das war vor allem der damalige Hilfsgeistliche an der Heimatpfarrei, Rektor Hans Valks, der in allen Phasen dieser Tragödie unerschrocken zur Groß-Familie gehalten hat und oft prak-tische Auswege wusste. Das war der KAB-Mann Bernhard Exeler aus Rheine, der in Köln beim Technischen Hilfsdienst stationiert war und während seiner Freizeit viele Tätigkeiten in Haus und Garten verrichtete. Das war der Hausmeister des Kettelerhauses, Matthias Schmitz, der immer ideen- und hilfsbereit, ja bisweilen sogar Rettung vor der Gestapo in letzter Sekunde war. Das war der stille Buchhalter der KAB, Commertz, der auch nach der Verhaftung meines Vaters die Gehälter weiter an die Mutter auszahlte. Das war der Journalist Theodor Hüpgens, der sich um den inhaftierten Vater in Berlin Sorgen machte und mit Marianne Hapig Hilfsmöglichkeiten wahrnahm. Das war der spätere Verbandsvorsitzende der KAB Johannes Even, der die Möglichkeit hatte, uns bisweilen einen Sack Mehl zukommen zu lassen. Das waren auch einige Geschäftsinhaber im Wohnviertel, die uns wohl-wollend gesinnt waren.

Mein Vater denkt aber auch an ganz praktische Probleme, für deren Lösung er in all den früheren Jahren ‚zuständig' war: die Wintervorsorge mit Kartoffeln, Heizung und Heizmaterial, kleine Schulden gegenüber dem Kettelerhaus, noch ausstehende Honorare für seine schriftstellerische Tätigkeit, der alte Mantel, der zum Änderungsschneider sollte. In Gedanken ist er mitten unter uns; zumindest unter-nimmt er immer wieder diesen Versuch. Vor allem geht ihm die Frage meiner jüngsten Schwester nicht aus dem Sinn, die bei der Verhaftung sagte: "Vater, wohin gehst Du?" Dieser kleine Satz hat sich "brennend...in der Seele" festgesetzt. Seine Antwort ist ein klares Manifest: "...Ich weiß [auch], daß ich dahin gehe, wohin mich der Wille Gottes weist."

Den Willen Gottes tun, das war das entscheidende Programm in seinem Leben. In mehreren Briefen taucht dieser Anspruch auf, besonders ausgedrückt in seinem Brief vom 3.12.1944, zu Beginn der Adventszeit: "Ja, was auch geschehen mag, was wir erleiden oder worüber wir uns freuen - es sei alles zur Ehre Gottes. Und unser guter Wille, der uns den Frieden bringt, den Frieden des Herzens, den Frieden Gottes, soll darin bestehen, daß wir Gottes Willen tun." Solche programmatischen Gedanken seines Glaubens und seiner Lebenspraxis finden sich immer wieder in den Briefen meines Vaters aus dem Gefängnis. Sie weisen auf seinen Starkmut und seine tiefe Gläubigkeit hin, die ihn - trotz mancher Tiefen und Ängste - letztlich bis zum Tod getragen und erfüllt haben. Mit großer Eindringlichkeit kommt dies in seinem letzten Brief (vom 21.1.1945) zum Ausdruck: "Der Name des Herrn sei gepriesen. Sein Wille soll an uns geschehen."

Den Willen Gottes in dieser schrecklichen Entwicklung von Gefangennahme, Folter, Verurteilung zum Tode bis hin zur Hinrichtung unbeirrt zu sehen und zu akzeptieren, das konnte mein Vater nur durch seine große Liebe zu Gott und den Menschen erreichen. Für viele ist die tiefe Gläubigkeit und eine Ergebenheit in den Willen Gottes heute kaum nachvollziehbar, dennoch bringen sie einer solchen Einstellung und Praxis eine große Hochachtung entgegen. Das hat nicht nur das umfangreiche Presseecho auf die Seligsprechung meines Vaters gezeigt, das erfahre ich immer wieder, sogar in Begegnungen mit fremden Personen, auf die der Lebensweg meines Vaters einen großen Eindruck gemacht hat. Darin kommt sicher auch der große Wunsch nach authentischen Vorbildern für die Orientierung im eigenen Leben zum Ausdruck.

Ohne das Vorgenannte in irgendeiner Weise zu schmälern: Nicht immer sind es die Stärke und Unbeirrbarkeit, die in den Briefen aus dem Gefängnis zum Ausdruck kommen. Neben den (sicher dominanten) Höhen sind da in einer Reihe von Briefen auch Tiefen zu erkennen, Unruhe und Unsicherheit. Das hat bisweilen auch körperliche Ursachen, denn sein chronisches Magenleiden machte ihm offensichtlich Probleme. Schwerwiegender aber waren die Schmerzen der Trennung von seiner über alles geliebten Frau und von den Kindern. Nichts sehnlicher wünscht er, als dass Gott "uns alle erretten und wieder zusammenführen" möge.

Wie sehr mein Vater vor allem um das Weihnachtsfest mit seinen Gefühlen gekämpft haben muss, wird in seinem Brief vom Heiligabend, dem 24.12.1944, deutlich. "Meine Hände sind leer. ... Aber an jeden einzelnen habe ich gedacht, für jeden von Euch meine besonderen Bitten und Wünsche ausgesprochen. In dieser liebenden Sorge bin ich allmählich in einen Weihnachtsfrieden gekommen, es hat in aller Einsamkeit und Trennung ein Zustand stillen Glückes mein Herz ergriffen, wie ich ihn früher nie so gespürt habe...deshalb sind diese Weihnachten nicht nur traurig, sondern auch gesegnet und gnadenvoll."

In einem Brief, den er zwei Tage vor der Verhandlung vor dem Volksgericht an mich nach Süddeutschland schickte, schreibt er: "Für uns beide war es ein schweres Opfer, Weihnachten fern von der Heimat und der Familie verbringen zu müssen." Ich habe mich oft gefragt, warum er seine lebensbedrohliche, erbarmungswürdige Lage mit meiner in der überaus guten Gastfamilie vergleicht, wo ich das letzte Jahr untergekommen war. Mit gefesselten Händen schreibt er und versucht dennoch, durch einen solchen Vergleich seinem Sohn Trost zu spenden. Ich weiß heute nicht mehr, was ich zunächst beim Lesen dieser Zeilen empfunden habe. Aber nachträglich kamen da Anfragen und Bedenken. Das betraf auch den folgenden Satz in diesem Brief: "Jedes Opfer trägt seinen Segen in sich, und so gewiß auch unser Opfer."

Das Wort ‚Opfer' hat in unserer Erziehung und im Alltagsleben stets eine wichtige Rolle gespielt. Das lag schon nahe bei einer Familie mit sieben Kindern und einem bescheidenen Einkommen des Vaters. Deshalb durften die Wünsche für Geschenke nicht in den Himmel wachsen; mit anderen Worten: sie mussten bescheiden bleiben. Gerade in der Vorweihnachtszeit, wenn die Erwartungen an die Geschenke besonders groß waren, gab es bereits deutliche Dämpfer. So wurde z.B. zu Beginn der Adventszeit ein leeres Krippchen aufgestellt in der Erwartung, dass am Heiligabend das Jesuskind auch schön weich auf Stroh liegen würde. Das ging aber nur, wenn möglichst viele gute Werke zusammen kamen, die mit einem Strohhalm für das Krippchen belohnt werden konnten. Als der Verbandsvorsitzende der KAB, Josef Joos, bereits im Jahr 1940 verhaftet und in das KZ Dachau inhaftiert wurde, hieß es in der Familie Opfer zu erbringen, um ihm von Zeit zu Zeit ein Päckchen schicken zu können.

Dazu kamen die Pflichten, die uns innerhalb und außerhalb des Elternhauses in Anspruch nahmen und die bisweilen auf der Schnittstelle zum ‚Opfer' hin lagen. Hierzu zählten besonders freiwillige Hilfen im Haus und Garten, das Säubern der schmutzigen Schuhe, das Wegtragen der Schlacke aus dem Heizungskeller. Ein ‚Opfer' war auch, die Graupensuppe zu essen oder das Kohlgemüse, das man partout nicht mochte usw. Selbst mein Vater dachte in der Gefängniszelle daran, Opfer zu bringen, obwohl seine ganze existenzielle Befindlichkeit in diesen Monaten ein einziges Opfer war. Jedenfalls verzichtete er, der starke Zigarettenraucher, bewusst auf derartige Möglichkeiten.

Nun war dieses ‚Opfer erbringen' nicht bloß ein pädagogischer Anspruch in unserer Erziehung, es prägte sich uns auch als ein wichtiger Bestandteil unseres Glaubens ein. Schon im Kindesalter stand uns der Opfertod Jesu am Kreuz immer wieder vor Augen und in der damaligen katholischen Jugendarbeit kam es in vielen Liedern und Gedichten fast zu einer Opferseligkeit. Aber auch viele Heilige, in deren Leben das Opfer oder die Aufopferung eine Rolle spielten, wurden uns als Vorbilder nahe gebracht. Deshalb erstaunt es mich nicht, wenn mein Vater in einigen Briefen von dem Opfer spricht, das Gott uns in diesen schrecklichen Zeiten abverlangt oder zumindest zulässt. Auf dem Hintergrund unserer Erziehung hatte dieses ‚Opfer-bringen' deshalb für mich einen durchaus religiösen Anspruch. (Heute habe ich einige Schwierigkeiten mit einer solchen Sprache und Opfertheologie.)

Die fünf Kassiber, davon drei ziemlich kurze, stehen im Zusammenhang mit den Besuchen meiner Mutter in der Haftanstalt in Berlin-Tegel. Sie wurden durch eine Mitarbeiterin des katholischen Gefängnispfarrers Buchholz heraus geschmuggelt und enthielten vor allem Informationen für die bevorstehenden Besuche bzw. für das, was am zweckmäßigsten mitgebracht werden sollte. Beim ersten Besuch Ende November 1944 begleitete meine älteste Schwester die Mutter nach Berlin. Sie hat von den Kindern den Vater als Letzte noch gesehen.

In einem langen Kassiber vom 4.12. teilt mein Vater meiner Mutter mit, wie sehr ihn der vorangegangene Besuch beglückt und aufgerichtet hat: "...die halbe Stunde Besuch wiegt Monate des Alleinseins auf." Aber dann versucht er noch einiges zu klären und zu regeln, so die bevorstehende Feier des Weihnachtsfestes, eine Unterstützung für ihn mit Lebensmitteln und etwas Taschengeld sowie Grüße an Kinder, Verwandte und Freunde. Selbst in diesem Kassiber versäumt er es nicht, eindringliche Worte des Gebetes, des Dankes und der Hoffnung der Familie zu sagen.

Anlass für den zweiten Besuch meiner Mutter in Berlin war die Nachricht eines Freundes meines Vaters, dass die Verhandlung vor dem Volksgerichtshof in Kürze stattfinden könnte. In dem Kassiber vom 11.1.45 schreibt jedoch mein Vater: "Die Sache ist vertagt und es steht in keiner Weise in Aussicht, wann sie stattfindet." Trotz manchem Hin und Her ist am 15.1. der Prozess, der mit dem Todesurteil endet. Am 18.1. darf meine Mutter ihn noch einmal für genau 15 Minuten besuchen und sich für dieses Leben von ihm verabschieden. Sie versucht dann noch, den päpstlichen Nuntius Orsenigo zu veranlassen, für meinen Vater ein Gnadengesuch an die Regierung zu richten. Diese Bitte wurde jedoch von einem Sekretär der Nuntiatur mit den Worten zurückgewiesen: "Für die Leute vom 20.Juli kann der Nuntius nichts tun." Meine Mutter lässt dennoch ein Schreiben da, das den Wortlaut hatte:

"Berlin, den 20.Januar 1945

Seine Eminenz den hochwürdigsten Herrn Apostolischen Nuntius Orsenigo, Berlin, bitte ich inständig, sich meines Mannes Nikolaus Groß anzunehmen, der vor dem Volksgerichtshof am 15.1.1945 zum Tode verurteilt ist. Er hat von frühester Jugend als armer und treuer Sohn der Kirche für die christliche nationale Arbeiterbewegung gewirkt und für Glaube und Sitte in der Arbeiterbewegung gekämpft. Alles Nähere ist aus meinem Gnadengesuch an den Herrn Reichsjustizminister zu entnehmen, das ich in aller Ehrfurcht beifüge.

Für jedes gütige Wort, das Eminenz für meinen Mann einlegen, bin ich mit meinen sieben Kindern aus tiefstem Herzen dankbar.

Elisabeth Groß"

Leider führte auch diese schriftliche Bitte beim Nuntius, der bekanntlich dem Naziregime nicht geringe Sympathien entgegenbrachte, nicht zum Erfolg. Aber das war keineswegs ein Einzelfall, denn auch keiner der deutschen Bischöfe hat zu Lebzeiten meines Vaters ihm in die Zelle des Gestapogefängnisses einen Gruß oder einen Segenswunsch gesandt. Wahrhaftig eine bittere Enttäuschung, besonders für meine Mutter, an der sie auch in den nachfolgenden Jahren schwer zu tragen hatte. Aber auch eine offene Wunde im Hinblick auf die Rolle der Kirche in der NS-Zeit, die von mir nicht zugedeckt wird, wie dies so oft in Reden, Publikationen, Ausstellungen und Diskussionsbeiträgen geschieht, meistens nicht ohne den allzu oberflächlichen Hinweis auf die "große pastorale Verpflichtung für alle Menschen", in der sich der Papst und die deutschen Bischöfe befunden hätten. Angesichts der brutalen Willkürherrschaft des Regimes, der unzähligen Opfer und des gesamten Ausmaßes der Naziverbrechen ist ein solches Entschuldigungsverfahren nicht nur hohl, sondern geradezu zynisch.

Zweifellos stand für meinen Vater das Gebet im Zentrum der ganzen über fünfmonatigen Haftzeit. Es ist das Hauptthema seiner Briefe und zugleich die wirksamste Stütze im täglichen Kampf um das Leben. So schreibt auch P. Alfred Delp an seine Mitbrüder in München: "Bitte mitglauben und mitbeten, immer wieder. Wir beten hier zu vieren, zwei Katholiken und zwei Protestanten und glauben an die Wunder des Herrgottes..." Mit den Vieren meint Delp noch Graf Moltke, Eugen Gerstenmaier und meinen Va-ter.

Hier wie auch an anderen Stellen taucht die Frage nach der Art der Frömmigkeit meines Vaters auf. Dabei habe ich den Eindruck, dass (im Sinne Bonhoeffers) bei ihm wie auch bei anderen Widerstandskämpfern eine gewisse Unterscheidung zwischen Glauben und Religion gemacht wird. Diese Frömmigkeit ist bestimmt von der Notwendigkeit des Standhaltens - ohne zugleich die Gewissheit eines festen Bodens unter den Füßen zu haben. Für Bonhoeffer ist der Glaubende zu "verantwortlicher Tat gerufen, der Verantwortliche, dessen Leben nichts sein will als eine Antwort auf Gottes Frage und Ruf: Wo sind die Verantwortlichen?" Diese Antwort musste - auch aus dem Glauben heraus - immer neu gegeben werden; sie wurde einem nicht einfach in den Schoß gelegt; und sie kam um die Akzeptanz einer "volle(n) Diesseitigkeit des Lebens" nicht herum.

Jedenfalls stehen in den Briefen meines Vaters aus dem Gefängnis deutlicher die persönliche Glaubenshaltung als seine Religionszugehörigkeit im Vordergrund seiner Äußerungen. Die Frömmigkeit des Widerstandes war - wie Klemens von Klemperer es betonte - vor allem eine Praxis des Leidens und Mitleidens. Und sie war ökumenisch auf der Basis existenzieller Erfahrungen und nicht dogmatischer Grenzziehungen. Für die Widerstandskämpfer stand die ethische Motivierung im Vor-dergrund einer Frömmigkeit, die sich für die Welt verantwortlich weiß, und gerade hier trafen sie sich auch mit ihren sozialistischen Freunden.

Deshalb war die individualistische Frage nach dem persönlichen Seelenheil nicht das Wichtigste, sondern die Gerechtigkeit und das Reich Gottes auf Erden. "Nicht der religiöse Akt macht den Christen, sondern das Teilnehmen am Leiden Gottes im weltlichen Leben." Ich denke, dass vor einem solchen Glaubenshintergrund mögliche Zugänge für ein Verständnis der Frömmigkeit meines Vaters liegen dürften. Aus diesem Geist ging er in den Widerstand und in den Tod am Galgen. Das Martyrium des Glaubens ist deshalb nicht zu trennen von dem unbedingten Engagement für Gerechtigkeit und Frieden in einer Zeit unvorstellbaren Massenmordes und Zerstörungen.

Damit soll nicht zum Ausdruck gebracht werden, dass mein Vater nur eine lose Bindung an die Kirche, ihre Geschichte und ihre Ordnung gehabt hätte. Er achtete die Bischöfe, erfüllte die den damaligen Katholiken auferlegten Gebote, lebte in den Festkreisen der Kirche und war ein engagierter Verteidiger des Glaubens. Und dennoch - so denke ich - gab es im Laufe der Jahre ein zunehmendes Maß an Selbstverantwortlichkeit, Hören auf das eigene Gewissen und das Bewusstsein persönlicher Kompetenz - auch in Glaubensfragen. Wie anders hätte er den Weg des politisch und moralisch verankerten Widerstandes - entgegen den ‚heiligen' Weisungen der Bischöfe und der Kirche - sonst überhaupt gehen können? Seine Schrift "Unter heiligen Zeichen" (eine neue Form der Glaubenslehre), die bis heute nicht veröffentlicht wurde, dürfte ein Beispiel für die Fähigkeit eines Laien sein, sich in zent-ralen Fragen des Glaubens selbstbewusst zu Wort zu melden. Eine Vorahnung auf das Zweite Vatikanische Konzil?

Was der Apostel im Gefängnis erfahren und worüber er in seinem Brief die Christinnen und Christen in Kolossä informiert, steht als Zitat am Beginn dieses Beitrags. Viele Parallelen finden sich hier zum Schicksal meines Vaters. Wachsamkeit und Dankbarkeit verbindet der Apostel mit seinem nicht nachlassenden Beten - zugleich aber auch die Hoffnung auf Befreiung. So, wie mein Vater noch viel tun wollte und noch wichtige Aufgaben vor sich sah, möchte auch er eine neue Chance haben, das Geheimnis Christi, seine befreiende Botschaft weiter verkünden zu können. Der Apostel empfiehlt deshalb den Christen in Kolossä schon als Vorbereitung hierauf: "Nutzt die Zeit, seid vernünftig im Umgang miteinander, seid freundlich und zugleich ehrlich, denn nur aus einer solchen Haltung heraus könnt ihr jedem in der rechten Weise eine sinnvolle Antwort geben."

Wer die vielen Stellen mit dem Stichwort ‚Beten' in den Briefen aus dem Gefängnis nachliest, wird feststellen, wie sehr sich hier Geist und Anliegen des Apostels widerspiegeln. Von den 29 Briefen und Kassibern kommt mein Vater in 24 auf das Gebet zu sprechen. Es muss für ihn nicht nur die entscheidende Brücke zu Gott gewesen sein, sondern zugleich auch die enge und tiefempfundene Verbindung mit seiner Familie, deren existenzielle Bedeutung er in immer wiederkehrenden wie auch immer neuen Worten nicht genug hervorheben kann. Im Gebet befindet er sich aber auch in Zwiesprache mit sich selbst, in einem bisweilen bedrückenden wie erlösenden Klärungsprozess mit seiner erbarmungswürdigen Lage. Auch in den Briefen, die an meine älteste Schwester und an mich gerichtet sind, legt der Vater in aller Eindringlichkeit seinen Kindern das Gebet ans Herz. Nicht selten gehört das Gebetsversprechen zum Abschiedsritual am Schluss mancher Briefe. Um das Weihnachtsfest 1944 ist sein Gebetsanliegen besonders intensiv: "Heißer werden meine Gebete nie zum Himmel aufgestiegen sein. Ich bin aber auch gewiß, daß uns die Gnade nie näher sein wird als an diesem Tage..."

Und doch sind da neben einer solchen Gewissheit auch immer wieder Zweifel und Bitten, wenn er z.B. die Hoffnung zum Ausdruck bringt, ihn doch im Gebet nicht zu vergessen., wie dies vor allem in seinem Brief vom 5.11.1944 zum Ausdruck kommt: "Aber ich bitte Euch mit heißem Herzen: Vergeßt mich nicht in Eurem Gebet und Opfer. Laßt es Euch nicht zur kalten oder lauen Gewohnheit werden. Ich brauche Euch und baue auf Euch, wie ich andererseits auch für Euch tue, was ich kann. " - Wie hätten wir ihn je vergessen können, wie hätten wir ihn in dem fürbittenden Gebet übersehen oder übergehen können?

Aber der Schlussakt in dieser grausamen Tragödie nahte unaufhaltbar; und mit ihm wuchs auch der Starkmut meines Vaters. In seinem letzten Brief, den er am St.Agnestag, dem 21.1.1945 an die Familie schreibt, blickt er noch einmal zurück in die vergangenen Monate seiner Haftzeit. Als Trost für die Seinen stellt er fest, dass Gott doch eigentlich alles wunderbar gefügt habe: "Er ließ mich in einem Hause, in dem ich auch in der Gefangenschaft manche Liebe und menschliches Mitgefühl empfing. Er gab mir fünf Monate Zeit - wahrlich eine Gnadenzeit -, mich auf die Heimholung vorzubereiten. Ja, er tat viel mehr: Er kam zu mir im Sakrament, oftmals, um bei mir zu sein in allen Stürmen und Nöten, besonders in der letzten Stunde. Alles hätte ja auch anders sein können. Es war nur ein kleines dazu nötig, ich brauchte, wie viele andere nach dem Angriff vom 6.10. nur in ein anderes Haus verlegt werden, und ich hätte vieles und Entscheidendes nicht empfangen. Muß ich nicht Gottes weise und gnädige Fügung preisen und Ihm Dank sagen für seine Güte und väterliche Obhut?"

Als Termin für die Hinrichtung wurde kurzfristig der 23.Januar 1945 festgelegt. Zusammen mit neun weiteren Widerstandskämpfern, darunter Graf von Moltke, Franz Sperr und Theodor Haubach, wurde mein Vater in der Haftanstalt Berlin-Plötzensee hingerichtet.

In dem vorher erwähnten Abschiedsbrief schreibt er:

"....Fürchtet nicht, daß angesichts des Todes großer Sturm und Unruhe in mir sei. Ich habe täglich immer wieder um die Kraft und Gnade gebeten, daß der Herr mich und Euch stark mache, alles geduldig und ergeben auf uns zu nehmen...Und ich spüre, wie es durch das Gebet in mir still und friedlich geworden ist.... Darum weinet nicht und habt auch keine Trauer; betet für mich und danket Gott, der mich in Liebe gerufen und heimgeholt hat.".

Gedanken zum Martyrium

Am 7. Oktober 2001 wurde mein Vater, zusammen mit drei Nonnen und drei Priestern, in Rom selig gesprochen. Es war die erste Seligsprechung für einen Mann und Familienvater, der sich aktiv im politischen Widerstand gegen das Naziregime engagiert hat und dafür hingerichtet wurde. Auf dem Petersplatz wurde er als ein Martyrer bezeichnet, der den Gläubigen als Vorbild dienen sollte.

Innerhalb der katholischen Kirche hat vor allem die in Lateinamerika verbreitete "Theologie der Befreiung" einen neuen Zugang zum Verständnis des Martyriums eröffnet, der für unser heutiges (europäisches) Verständnis sehr hilfreich sein dürfte. Hierüber hat Ludger Weckel vom Institut für Theologie und Politik in Münster eine informative wie engagierte Publikation vorgelegt. Für die Theologie der Befreiung ist das Martyrium kein anzustrebendes Ideal zur persönlichen Vervollkommnung, sondern die Folge ungerechter Verhältnisse, die einem Teil der Menschen durch den anderen Teil aufgezwungen werden. Es ist also die nicht gewollte Begleiterscheinung eines unerwünschten und ungerechten Zustandes. Denn weder die Situation der Ungerechtigkeit ist erwünscht, noch der Umstand, dass Menschen, die diese Ungerechtigkeit aufdecken und die gegen die Missachtung grundlegender Menschenrechte vorgehen, bei diesem Unterfangen umkommen. Deshalb postuliert die Theologie der Befreiung eben keine moralische Forderung, das Martyrium zu erleiden, sondern reflektiert über die Erfahrungen mit dem Unrecht und dem Sinn geschehener Opfer. Ludger Weckel schreibt aber auch: "Trotzdem ist das Martyrium ein Ort der Gnade, denn durch das ‚Opfer' des Martyriums wird die Sünde als solche offenbar und bekämpfbar." So wie Jesus sich an die Seite der Opfer stellte und dadurch selbst zum Opfer wurde, weist er zugleich auf das große Ziel hin, das Reich Gottes, in dem weder Gewalt noch Ungerechtigkeit regieren. Damit wird auch für uns heute ein Weg gewiesen, der sich an den aktuellen Widersprüchen der jeweiligen Gesellschaft und deren Opfer einerseits sowie an der Frohen Botschaft für die Armen und Entrechteten, wie sie Jesus verkündet hat, orientiert (Ludger Weckel).

Es ist unschwer auszumachen, dass die europäische Theologie immer noch das individuelle Verdienst des Märtyrers - vor allem unter dem Frömmigkeitsideal - in ehrfürchtiger Andacht hervor hebt. Hierbei wird der konfliktive Kontext ausgespart, um möglichst bald das Martyrium in einer triumphalistischen Sicht erscheinen zu lassen - eine Praxis übrigens, die sogar von den Mächtigen und Herrschenden dieser Erde ohne weiteres mitgetragen werden kann, weil sie zu keiner Veränderung der ungerechten Bedingungen einschneidend beiträgt. Wo aber eine tätige Parteilichkeit zu Gunsten der Schwachen und Bedürftigen eingenommen wird, entsteht der gesellschaftliche und politische Konflikt, in dessen Verlauf auch der Märtyrer zum Opfer wird. Deshalb schlussfolgert Ludger Weckel: Der Christ wird nicht zum Märtyrer um des Martyriums willen, sondern weil er konsequent für Recht und Freiheit des Menschen eintritt. Insofern stellen sich Märtyrer den Konflikten, die sie beseitigen wollen; sie suchen nicht den Tod, sondern das Leben für alle Menschen und vor allem für die ganz konkret, für die sie eine besondere Mitverantwortung tragen. Märtyrer werden getötet, weil sie das Leben verteidigen, sie sterben um des Lebens willen.

In der Vorbereitung der Seligsprechung meines Vaters wurde mir, meinen Geschwistern, Freunden und Bekannten der Familie ein Fragebogen zugesandt, der solche Deutungen des Martyriums in keiner Weise anklingen ließ. Vielmehr wurde eine mittelalterlich anmutende Form der Befragung praktiziert, was eine Auswahl der Fragen, die beantwortet sein sollten, deutlich macht:

Ziffer 28 c.: "War seine Tätigkeit von rein religiösen Motiven beseelt oder spielte dabei auch eine politische Komponente eine Rolle?"

Ziffer 31 b.: "Hatte er stets die Verteidigung des Glaubens vor Augen, d.h. handelte er immer hauptsächlich im Hinblick auf die Bewahrung des Glaubens? ...Hatte er deshalb niemals Angst oder mangelnden Mut gezeigt?"

Ziffer 34 c.: "War er sich bewußt, dass er das eigene Blut aus Liebe zu Christus vergoß? Schauderte ihm davor oder nicht?"

Ziffer 36 d.: "Ist er bis zuletzt seinem Vorsatz als Märtyrer zu sterben treu geblieben?"

Ich erspare mir hier einen weiteren Kommentar zu geben. Wie ich jedoch in Rom erfahren habe, war der Fragebogen und seine Beantwortung vor allem den vatikanischen Behörden sehr wichtig und es bestand dort ein ernsthaftes Interesse, auch mit solchen Vorgehensweisen die Seligsprechung zu begründen.

Ähnlich abgehoben und losgelöst aus dem historisch-politischen Kontext war auch die Argumentation, die der Postulator für das Seligsprechungsverfahren, Prälat Albert Kaußen, vornahm. Er schrieb in einem Artikel u.a.: "Liegt dem Opfer von Nikolaus Groß die Tatsache zugrunde, dass er sich an einem politischen Umsturzversuch beteiligte und als Hochverräter hingerichtet wurde? Oder war dieser Tod wirklich ein Opfertod für den Glauben?" Er unterschied deshalb zwischen den "wahren Bekennern" und den "Opfern politischer Gewalt", zwischen dem wegen eine Umsturzversuches Hingerichteten und dem Blutzeugen Christi. Damit tritt erneut der uralte Dualismus in der Theologie hervor, d.h. die Trennung von Himmel und Erde, von Glauben und gesellschaftlichem Engagement, von Spiritualität und Praxis. Man verkennt hier, dass es sich um die zwei Seiten derselben Medaille handelt; oder konkret ausgedrückt: um das ganze Leben meines Vaters.

Angesichts solcher Positionen und Tendenzen im Seligsprechungsverfahren für meinen Vater hatte ich alle Veranlassung, meine Bedenken und meinen Protest öffentlich zu machen. Dass dies dann am 7. Oktober 2001 in Rom anders dargestellt wurde, war für mich eine Überraschung wie auch eine Zufriedenstellung. Denn in den öffentlich auf dem Petersplatz verlesenen Texten zum Leben und Sterben meines Vaters wurden sowohl sein gesellschaftliches und sozialpolitisches Engagement als auch seine bedeutsame Widerstandstätigkeit gegen das NS-Regime unmissverständlich hervorgehoben, ohne dabei in den vorgenannten Dualismus zurückzufallen. Das kann der nachfolgende Text verdeutlichen:

Auszüge aus den Texten, die anlässlich der Seligsprechung von Nikolaus Groß in Rom am 7. Oktober 2001 verlesen wurden:

Bei aller Liebe zu seiner Familie "kennt Groß keinen Rückzug in die Familienidylle. Er bleibt wach für die großen gesellschaftlichen Probleme gerade auch in der Verantwortung für die Familie. Arbeit und gesellschaftliche Verpflichtungen sind für ihn der Ort, an dem er seinen christlichen Auftrag verwirklicht."

Nikolaus Groß hat einen Blick für die "tägliche[n] Pflichterfüllung in den kleinen Dingen des Alltags", aber auch und vor allem für die "besondere Liebe" gegenüber "den Armen und Kranken."

Er vermittelt in seiner journalistischen Arbeit "den katholischen Arbeitern Orientierung in vielen Fragen der Gesellschaft und der Arbeitswelt...Dabei wird immer wieder deutlich, dass für ihn die politischen Herausforderungen einen sittlichen Anspruch enthalten und dass ohne geistliche Bemühungen die sozialen Aufgaben nicht zu lösen sind."

Groß hat ein "klares Urteil über den heraufziehenden Nationalsozialismus... Er betitelt schon damals die Nazis als ‚Todfeinde des heutigen Staates'...Als Redakteur des KAB-Organs schreibt er am 14. September 1930: 'Wir lehnen als katholische Arbeiter den Nationalsozialismus nicht nur aus politischen und wirtschaftlichen Gründen, sondern entscheidend auch aus unserer religiösen und kulturellen Haltung entschieden und eindeutig ab.'"

Im Rahmen seiner Widerstandstätigkeit hielt Nikolaus Groß die "gemeinsamen Überlegungen...in zwei Aufzeichnungen fest, die später der Gestapo in die Hände fielen: ‚Die großen Aufgaben' und ‚Ist Deutschland verloren?' Sie führten mit zu seiner Verurteilung."

"Groß musste ab 1940 Verhöre und Hausdurchsuchungen über sich ergehen lassen. Nach dem Verbot der Verbandszeitung gab er eine Reihe Kleinschriften heraus, die helfen sollten, Glaubens- und Wertbewußtsein bei den Arbeitern zu stärken."

Die Beweggründe für die Widerstandstätigkeit von Nikolaus Groß und seinen Freunden liegen in ihrem Glauben und in ihrem Verantwortungsbewusstsein für das Leben der Menschen. "Sie gingen ihren Weg auch in der Bereitschaft, einen qualvollen Tod um der Freiheit willen auf sich zu nehmen... Für Groß war das Vertrauen auf Gott das Fundament, auf dem er nicht wankte."

"Nach dem fehlgeschlagenen Attentat vom 20. Juli 1944 überschlugen sich die Ereignisse. Groß, nicht selbst an Vorbereitungen und Ausführung beteiligt, wurde am 12.August 1944 gegen Mittag in seiner Wohnung verhaftet und zunächst in das Gefängnis Ravensbrück und dann ins Zuchthaus nach Berlin-Tegel gebracht. Meine Mutter kam zweimal nach Berlin, um ihn zu besuchen. Sie berichtete über deutliche Folterspuren an seinen Händen und Armen. Seine Briefe aus dem Gefängnis bezeugen eindrucksvoll, dass für Nikolaus Groß das beständige Gebet der Kraftquell in seiner schwierigen und am Ende aussichtslosen Lage ist."

Nikolaus Groß wurde am 15. Januar 1945 durch den Volksgerichtshofvorsitzenden Roland Freisler zum Tode verurteilt und am 23. Januar 1945 in Berlin-Plötzensee erhängt.

In seiner persönlichen Ansprache führte Papst Johannes Paul II. u.a. aus: "Unser Blick richtet sich auf den seligen Nikolaus Groß, den Journalisten und Familienvater. Mit Scharfsinn erkannte er, dass sich die nationalsozialistische Ideologie nicht mit dem christlichen Glauben verbinden lässt. Mutig griff er zur Feder, um ein Plädoyer für die Würde des Menschen abzulegen."

Und in einer Fürbitte im Gottesdienst heißt es: "Der selige Nikolaus Groß war ein vorbildlicher Vater, ein Bergmann und Journalist, der bis zum Martyrium kämpfte, um den Glauben zu verteidigen und Totalitarismus und rassistischer Unterdrückung zu widerstehen."

Bei aller Würdigung der ‚Texte von Rom' war dennoch kaum zu erwarten, dass auf dem Petersplatz gleichzeitig auch eine Kritik an dem eigenen angepassten Verhalten der Kirche zum Nationalsozialismus oder ein Bekenntnis über die Distanz, die die Bischöfe zum politischen Widerstand damals hatten, zur Sprache kamen. Noch kann sich die Kirche nicht aufraffen, ihre wirkliche Rolle und Praxis in der NS-Zeit klarer und offener zu dokumentieren und ihr Verhalten in einen moralischen Bezug zu stellen. So dürfte die Aufforderung des Berliner Kardinals Sterzinsky noch keineswegs als ein Paradigmenwandel betrachtet werden. Der Kardinal hatte die Auffassung vertreten, die Seligsprechung von Nikolaus Groß als Anlass zu nehmen, dass sich die Kirche neu und kritisch mit der Beurteilung des Verhaltens ihrer geistlichen Autoritäten befassen sollte.

Wie weit entfernt von einem solchen Wandel die Kirche heute tatsächlich ist, hat vor allem die Heiligsprechung des Gründers und langjährigen Leiters des Opus Dei Josemaria Escriva fast auf den Tag genau ein Jahr nach der Seligsprechung meines Vaters gezeigt. Escriva, der nicht nur mit dem Faschistenführer Franco und lateinamerikanischen Diktatoren enge freundschaftliche Beziehungen unterhielt, sondern auch ein autoritäres Menschenbild, ein familienfeindliches Erziehungsideal und eine Inkompetenz des persönlichen Gewissens vertrat, kann deshalb in vielfacher Hinsicht nur im Gegensatz zu meinem Vater gesehen werden. Damit stellen sich zwangsläufig die Fragen: Welche Bedeutung hat die Seligsprechung meines Vaters tatsächlich für die Kirche und welche Werte will sie eigentlich vertreten bzw. welche Vorbilder für die Gläubigen herausstellen? Über die offensichtlich schwerwiegenden Ungereimtheiten einfach hinweg zu sehen, käme einer Distanzierung gegenüber meinem Vater wie auch der Infragestellung der Texte gleich, die am 7. Oktober 2001 in Rom verkündet wurden. Hier ist die Glaubwürdigkeit der Kirche herausgefordert. Deshalb sollte mein Vater stets ein Stein des Anstoßes bleiben und ein Grund zur Weiterführung der Diskussion noch offener Fragen nicht nur in der Kirche, sondern auch in Gesellschaft, Kultur und Politik.

Vor allem sollte mein Vater ein Stein des Anstoßes sein und bleiben, wo die Würde des Menschen mit Füßen getreten wird, wo die Folter regiert und wo Menschen sterben müssen, weil sie den Interessen der Mächtigen im Wege stehen. Märtyrer sollten uns nicht den Blick verstellen auf die Opfer unserer Tage, auch wenn sie auf unseren Plätzen oder in unseren Kirchen besondere Ehrenplätze erhalten. Ihr Platz ist an der Seite der Armen und Entrechteten. Nur in dieser Funktion werden die Heiligen zum Ort der Authentizität der Heilsbotschaft und ihres Wirkens in der Welt heute.


Quellen-Anhang

1. Kirchlicher Anzeiger für die Erzdiözese Köln vom 5. April 1939 mit der Anordnung "Zum 50. Geburtstag des Führers und Reichskanzlers"

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Aus Anlaß des 50. Geburtstages des Führers und Reichskanzlers erlasse ich folgende Anordnung:

  1. Am 19.d.M., am Vorabend des Geburtstages, wird von 18.00 bis 18.30 Uhr in allen Kirchen feierlich geläutet.
  2. Am 20.d.M. zeigen alle Kirchen und kirchlichen Dienstgebäude sowie Dienstwohnungen der Geistlichen die Reichs- und Nationalflagge.
  3. Am gleichen Tage wird in allen Pfarr- und Rektoratskirchen zur Erflehung von Gottes Segen über Volk und Führer ein feierliches Votivamt zu Ehren des heiligen Michael, des Patrons unseres deutschen Volkes, zu geeigneter Stunde gehalten. Am Schlusse dieses Gottesdienstes ist das Allgemeine Gebet für Volk und Vaterland gemeinsam mit den Gläubigen zu verrichten.

Köln, den 3. April 1939
Karl-Joseph Kardinal Schulte
Erzbischof von Köln

2. Schreiben von Erzbischof Conrad Gröber vom 16. Oktober 1943 an den Vorsitzenden des Volksgerichtshofes Roland)

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Hochverehrter Herr Präsident des Volksgerichtshofs!

Eben erhalte ich die Nachricht über die Verhandlung, die vorgestern zum Todesurteil meines Diözesanpriesters Dr. Max Metzger geführt hat. Ich bedaure aufs allertiefste das Verbrechen, dessen er sich schuldig gemacht hat. Wenn ich ihn in meinem, an Herrn Rechtsanwalt Dr. Dix gerichteten Schreiben als Idealisten geschildert habe, so geschah es, ohne dass ich irgend eine Kenntnis des von ihm verbrecherisch Unternommenen hatte. Ich lege Wert darauf, Ihnen das mitzuteilen, weil es mir völlig fern liegt, seine Tat in das Gebiet des Idealismus, wie ich ihn geschildert habe, einzubeziehen.

Wenn ich Herrn Rechtsanwalt Dr. Dix ein Charakterbild des Verurteilten in gedrängter Zeit entworfen habe, so glaubte ich als sein Erzbischof verpflichtet zu sein, etwas für ihn zu unternehmen.

Mit dem Ausdruck meiner hohen Verehrung und Wertschätzung

Ihr ergebenster
Konrad
Erzbischof

3. Schreiben des Bischöflichen Ordinariates Linz/Donau vom 11. August 1945 an das Pfarramt in St. Radegund zur Kriegsdienstverweigerung von Franz Jägerstätter

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An das hochwürdige Pfarramt in St. Radegund

Ich danke für die Zusendung des Berichtes über Franz Jägerstätter. Ich bin überzeugt, dass der Mann persönlich ein Heiliger war, doch hat eine Verbreitung seines Lebens und Sterbens in der Öffentlichkeit manche Bedenken. Seine Exzellenz hat auf den Akt folgenden Vermerk angebracht: "Der Antrag wird von mir abgelehnt. Bei aller Achtung vor der subjektiven Haltung des Mannes kann er nicht als objektiv gültiges Vorbild für seine Haltung zur Militärpflicht hingestellt werden. Hümmeler und andere werden gewiß eine Reihe von Kriegern und Gefallenen als Helden und Heilige hinstellen, die wegen ‚ihrer Treue bis in den Tod' es verdienen. Übrigens habe ich bei meiner Unterredung mit Jägerstätter ebenso wie seine Seelsorger und Angehörigen seine Haltung gebilligt."

Vorläufig können wir also in der Sache nichts unternehmen. Vorbild ist und bleibt er in der absoluten Treue zu seinem Gewissen.

Bischöfliches Seelsorgeamt Linz
Generalsekretär

4. Schreiben des Erzbischöflichen Ordinariates Freiburg (Br.) vom 19.2.1947 wegen der Mitarbeit von Christoph Probst in dem Widerstandskreis der "Weißen Rose"

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An die Schriftleitung des "Fährmann"

Betr.: Druckgenehmigung

In den vorgelegten Probedrucken der Märznummer müssen wir in dem großen Aufsatz "Christoph Probst" beanstanden, daß dieses Opfer eines gewiß tragischen und schmerzlichen Geschickes ohne Vorbehalt der deutschen Jugend als "großes und leuchtendes Vorbild" hingestellt und von ihm gesagt wird, er und seine Leidensgenossen "haben ihr Leben hingegeben für uns alle in der Nachfolge Christi". Denn abgesehen davon, daß letzteren von einem Manne in schon reiferen Jahren - Probst war verehelicht und Vater von Kindern -, welcher erst wenige Stunden vor seinem gewaltsamen Tode getauft wurde, für den entscheidenden Teil seines Lebens, insbesondere seiner Jugendjahre, nicht gelten kann, so gingen doch er und seine Gesinnungsgenossen in der Bekämpfung des sogenannten Dritten Reiches Wege, welche nicht in Einklang stehen mit christlichen Moralgrundsätzen. Denn Revolution, auch gegenüber einer Regierung, welche Unrecht übt und eine Tyrannei darstellt, ist nicht erlaubt. Für den gläubigen Christen gibt es nur eine Verweigerung des Gehorsams für den Fall, daß Unrecht verlangt wird, oder Bekämpfung der betreffenden Regierung mit gesetzlich erlaubten Mitteln. In dem beanstandeten Artikel ist aber ausdrücklich gesagt, daß Probst und seine Gesinnungsgenossen "glaubten", und daher wohl beabsichtigten, ihre Aktion werde eine "offene Revolution" im Gefolge haben. Der ideale Sinn und Heldenmut der Akteure kann wohl bewundert und ihnen die bona fide zuerkannt werden, aber ihr Weg objektiv nicht als der der Nachfolge Christi.

Wenn darum der Aufsatz in vollem Umfange erscheinen soll, dann können wir das nur unter der Bedingung gestatten, daß die Schriftleitung eine Vorbemerkung im Sinne unserer obigen beanstandeten Ausführung vorausschickt. Sie wolle uns noch im Wortlaut vorgelegt werden....

Der Generalvikar


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