Rezension

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aus: Archiv für Sozialgeschichte 44, 2004, S. 704-706

Vera Bücker, Nikolaus Groß. Politischer Journalist und Katholik im Widerstand des Kölner Kreises. Mit einem Essay über die Gefängnisbriefe von Alexander Groß (Anpassung Selbstbehauptung Widerstand. Bd. 19), Lit-Verlag Münster etc. 2003, 296 S., kart. 17,90 €.

Die eindrucksvolle Biografie von Nikolaus Groß, dem langjährigen Herausgeber der Westdeutschen Arbeiterzeitung und Mitverschwörer des 20. Juli 1944, entstand im Zusammenhang mit dessen Seligsprechung am 7. Oktober 2001, für die Vera Bücker, die mit einschlägigen Studien zur Geschichte des sozialen Katholizismus hervorgetreten ist, die wissenschaftlichen Vorarbeiten leistete. Sie schildert den politischen Lebensweg des 1998 in Niederwenigem geborenen Bergmanns und späteren Sekretärs des Gewerkvereins christlicher Bergarbeiter und dessen Weg in die Opposition gegen Hitler. Ihre ungewöhnlich sorgfältig recherchierte Studie stellt einen wichtigen und in vieler Hinsicht innovativen Beitrag zur Vorgeschichte des 20. Juli 1944 dar.

Nach 1927 stieg Groß rasch zum leitenden Redakteur der Westdeutschen Arbeiterzeitung auf und wurde Vorstandsmitglied der Katholischen Arbeiterbewegung (KAB). Früh ergab sich eine enge Arbeitsteilung mit Bernhard Letterhaus. Beide nahmen eine entschiedene Frontstellung gegenüber der Katholischen Aktion und den innerhalb der Zentrumspartei vordrängenden konservativen Kräften ein. Groß zeichnete sich durch eine vorbehaltlose Unterstützung der Weimarer Sozialpolitik aus. Er begrüßte das Gesetz zur Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung und sprach 1928 im Blick auf die Massenaussperrung in der nordwestdeutschen Stahlindustrie von einem "Generalangriff der Arbeitgeber", Fr verteidigte nachdrücklich den Kurs von Josef Wirth und hielt mit verhaltener Kritik an der unter Prälat Ludwig Kaas eingeschlagenen Rechtswendung des Zentrums nicht zurück, ohne jedoch an der grundsätzlichen Loyalität zur Partei zu rütteln.

In dem innerparteilichen Führungskonflikt nahm Groß die Position von Josef .Joos gegenüber Adam Stegerwald als Exponenten der Christlichen Gewerkschaften ein. Mit der Führung des Zentrums hielt er eine Einbindung der NSDAP in eine Zentrumskoalition für den einzigen .Ausweg, deren Alleinherrschaft zu verhindern. Er unterstützte daher ein taktisches Zusammengehen, das in der Wahl Hermann Görings zum Reichs-tagspräsidenten einen Ausdruck fand, und teilte die Illusion, die NSDAP zur Rückkehr zu parlamentarischem Vorgehen zu bewegen. Ähnlich wie Heinrich Brüning hielt er die Nationalsozialisten, die er mit Recht der "Ideenlosigkeit" bezichtigte, für eine "Zeiter-scheinung, die mit der wiederkehrenden politischen Vernunft verschwinden wird". Er erkannte jedoch bald, dass der Nationalsozialismus jede konstruktive Zusammenarbeit bewusst verweigerte und eine Diktatur beanspruchte: "Hitler will Blankovollmacht, er will sich durch keine Rücksicht auf die Verfassung, behindern lassen und er will auch nicht gezwungen sein, bei Neuwahlen für seine Politik vom Volke zur Rechenschaft gezogen zu werden". Groß unterstützte Brünings Politik, auch den von diesem nach seinem Sturz verfochtenen Führergedanken, und bejahte das Prinzip einer "konstitutionellen Demokratie". Nach der Bildung des Hitler-Kabinetts vollzog er als Hauptschriftleiter der WAZ eine Anpassung an das neue Regime, wobei die KAB neben den katholischen Jugendverbänden die Hauptlast der Auseinandersetzung zu tragen hatte.

Vera Bücker untersucht im Einzelnen die defensive Strategie, die Groß als Herausgeber der WAZ verfolgte, die nach dem Reichskonkordat auf Drängen von Bischof Berning in Kettelerwacht umbenannt wurde. Sie war in erster Linie darauf gerichtet, die kirchliche Autonomie in Glaubensfragen zu bewahren. Gleichwohl gelang es ihm immer weniger, die zunehmende Einschränkung des Bewegungsspielraums der WAZ zu unterlaufen, die mit dem Verbot einer Doppelmitgliedschaft im April 1934 verschärft wurde. Trotz der auferlegten Vorzensur kam es Ende 1938 zum Verbot der Kettelerwacht. Bücker spricht von einem ständigen Balanceakt des Blattes in dem Bemühen, sich keine Blößen zu geben, die bei anderen katholischen Zeitschriften ein Verbot nach sich zogen. Das schränkte indessen die Möglichkeilen zu verdeckter und indirekter Kritik des Systems, darunter auch des Rassismus, immer mehr ein. Trotz der partiellen Anpassung der Kettelerwacht. die Bücker als "ungewollte Stabilisierung" des NS-Regimes bezeichnet, und ihrer Beschränkung auf den Kurs der Glaubensbewahrung war der Zugriff des NS-Regimes nicht zu vermeiden.

Indem die Schriftleiterrolle beendet war, trat für Groß das Bemühen, die Gesinnungsfreunde des KAB zusammenzuhalten, in den Vordergrund. Das Kettelerhaus in Köln diente als Kontaktzentrum, doch dehnte Groß durch häufige Reisen seine Kontakte reichsweit aus. In seiner Rolle als Verbindungsmann und Koordinator trat er umso mehr hervor, als Josef Joos ins Konzentrationslager eingeliefert und Letterhaus eingezogen wurde. Von größter Bedeutung erwies sich Groß' Mitarbeit in der Zentralstelle für Männerseelsorge, die ihrerseits einen kleinen Arbeitskreis ins Leben rief, der, wie die Verf. nachweist, zu einem Zentrum der Opposition wurde. Dort entstand der Kontakt des Kölner Kreises zu Pater Alfred Delp. Diese Verbindung lag noch vor dem Zeitpunkt der Intensivierung der Beziehungen zu Carl Goerdeler.

Vera Bücker macht deutlich, dass Groß seit 1942 auch inhaltlich von Delp beeinflusst wurde, wenngleich dessen spätere Aufforderung an die Kölner, sich den Kreisauern anzuschließen und gegen Goerdeler zu stellen, nicht seine Zustimmung fand. Delp wandte sich gegen den Rückzug der katholischen Kirche auf die "reine Seelsorge" und betonte deren gesellschaftliche Gesamtverantwortung. Jedes Bemühen um eine Pastoralisierung müsse an der Reform der "natürlichen Ordnungen anknüpfen" und für die Rettung der menschlichen Person und für eine "Entmassung" der Individuen eintreten, damit die soziale Frage ernst nehmen. Obgleich die beiden grundlegenden Denkschriften "Ist Deutschland verloren?" und "Die großen Aufgaben", die Groß zusammen mit Wilhelm Elfes abfasste, nicht erhalten geblieben sind, spricht alles dafür, dass Groß sich Delps Konzeption der "Dritten Idee" angeschlossen hat. Die Verf. legt daher den Fuldaer Beratungen zur Männerseelsorge entscheidende Bedeutung für das "Hineinwachsen in den Widerstand" von Nikolaus Groß bei.

Die Untersuchung von Bücker zeichnet anschließend ein eindrucksvolles Bild der konspirativen Verbindungen, in deren Mittelpunkt Groß als Sprecher des Kölner Kreises trat. Nach der Versetzung von Letterhaus in das OKW ergab sich seit 1942 ein regelmäßiger Kontakt mit Goerdeler. Daneben bestand nicht nur die Beziehung zu Delp und über Hammerstein zur Militäropposition, sondern auch zu führenden Repräsentanten des katholischen Lagers, so Karl Arnold, Josef Wirmer, Johannes Schauff, Andreas Hermes. Johann Albers und Paul Franken, aber auch zu SPD-Politikern und Gewerkschaftlern. Dabei konstatiert die Verf. eine gewisse Arbeitsteilung zwischen Bernhard Letterhaus und dem mit diesem eng befreundeten Groß. Während ersterer in konzeptionellen Fragen dominierte, war dieser vor allem mit dem Ausbau des oppositionellen Netzwerks und den personellen Planungen für den Umsturzfall befasst. Groß war seit 1943 an den zentralen Beratungen zwischen den verschiedenen Widerstandskreisen beteiligt und hat maßgebend an den Vorschlägen für die Einsetzung von "Politischen Beauftragten" mitgewirkt.

Die Darstellung von Vera Bücker betritt auch insofern wissenschaftliches Neuland, als sie das breite Spektrum der innerhalb des Kölner Kreises vertretenen Konzeptionen ausleuchtet, die bislang hinter den Vorstellungen der Gewerkschaftler um Jakob Kaiser, Wilhelm Leuschner und Max Habermann zurückgetreten sind. Dabei ergeben sich charakteristische Abweichungen von den Plänen des Kreisauer und des Goerdeler-Kreises. Neben den eher autoritär gefärbten Neuordnungsvorstellungen von Pater Laurentius Siemcr und Eberhard Welty. den Vertretern von Walberberg. bis zu den liberal beein-flussten Ideengängen von Wilhelm Elfes gab es zahlreiche Varianten. Bemerkenswert ist, dass die von Kreisau vertretenen berufsständischen Ideen innerhalb des Kölner Kreises wenig Anklang fanden und dass dort die Bildung politischer Parteien nicht grundsätzlich verworfen wurde, obwohl die Ausrichtung der neuen Sammelpartei, die an die Stelle des Zentrums treten sollte, unterschiedlich beurteilt wurde. Für Groß stand die Wahrung der Rechte der Katholischen Kirche im Vordergrund, was die Schaffung einer interkonfessionellen Organisation allerdings nicht ausschloss. Zusammenfassend gelangt die Verf. zu dem Schluss, dass Groß und die Kölner Gruppe eher den Goerdeler´schen Vorstellungen anhingen und keine grundsätzliche Abkehr vom parlamentarischen System Weimarer Prägung vollzogen.

In ihrer Schilderung der unmittelbaren Reaktion von Groß auf das Attentat, seiner Verhaftung, Verurteilung und Hinrichtung betont die Verf., dass dieser frühzeitig von den Attentatsplänen wusste und dass er nach intensiven internen Erwägungen unter Mitgliedern des Kreises das Mittel des Tyrannenmords für gerechtfertigt hielt. Neben dem patriotischen Motiv stand hei Groß die Verteidigung des Glaubens und der Kirche im Vordergrund. Der Weg in den Widerstand, so die Verf., folgte der Konsequenz. "die Existenz- und Wirkungsmöglichkeiten für Kirche und Religion zu retten". Seine Verurteilung zusammen mit Delp und den führenden Kreisauern entsprang der ursprünglich verfolgten, dann gescheiterten Absicht Roland Freislers, dieses Verfahren in einen Kir-chenprozess umzuwandeln und die Kirchen unmittelbar des Hochverrats zu bezichtigen.

Die verdienstvolle Darstellung der Biografie von Nikolaus Groß wirft neues Licht auf die gesellschaftliche Verankerung der Bewegung des 20. Juli und den Anteil des katholischen Volksteils daran, aber auch auf das Versagen des hohen Klerus, der die Gläubigen im Widerstand allein ließ. Die Studie, der ein Essay über die Gefängnisbriefe und einige ausgewählten Texte von Groß vorangestellt sind, bemüht sich um größte wissenschaftliche Objektivität, verdeckt Schattenseilen und Kontroversen nicht und ist alles andere als eine Hagiografie, wie man sie fälschlicherweise aufgrund des äußeren Zusammenhangs mit der Seligsprechung hätte erwarten können. Sie ist ein unentbehrlicher Beitrag /u einer differenzierten Geschichte des Widerstands gegen Hitler.

Hans Mommsen, Feldafing


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