Geschichte und Selbstverständnis des Zentrums

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Die politische Ideenwelt des Zentrums

Gilt von den deutschen Parteien insgesamt - vielleicht einige kleine, neuentstandene Interessenparteien ausgenommen, - daß sie Politisches und Weltanschauliches in eine Verbindung zu bringen suchen, so dann von der Zentrumspartei in besonderen. Die Zentrumspartei war und blieb bis heute die Weltanschauungspartei schlechthin.1 Das ist aus den Umständen, unten denen sie wurde, aus denen sie ihr inneres und äußeres Gefüge erhielt, verständlich. Dieses Eigenartige in Wesen, das Bestimmende in der Geschichte und das Charakteristische in der Struktur der Zentrumspartei gaben ihr einen sicheren Rückhalt im Volk und einen dauerhaften Bestand bei Wahlen.

Zentrumsprogramme früher und heute

Wenn man von Zentrumsprogrammen spricht, dann muß man von vorn herein eine Einschränkung machen. Ein Programm etwa im Sinne und nach Art der Programme der sozialdemokratischen Partei, in welchem alles bis aufs letzte theoretisch fein ausgeklügelt ist, und in das nun das pulsierende, in ständiger Erneuerung befindliche Leben mit seinen immer neuen Situationen und Aufgaben hineingepresst wird, ein Programm dieser Art hat das Zentrum in der Vorkriegszeit nie besessen und besitzt es auch heute nicht. (...) Erst der Berliner Reichsparteitag der deutschen Zentrumspartei, Anfang 1922, bestätigte neuformulierte Richtlinien, die noch heute die Grundlage der politischen Ideenwelt des Zentrums bilden.2 Danach ist das Zentrum eine christliche Volkspartei, die bewußt zur deutschen Volksgemeinschaft steht und fest entschlossen ist, die Grundsätze des Christentums in Staat und Gesellschaft, in Wirtschaft und Kultur zu verwirklichen. Sie sieht in einer zielklaren christlich-nationalen Politik die sichere Gewähr für die Erneuerung und die Zukunft des deutschen Volkes.3 Weltpolitisch ist ihr Ziel die wahre christliche Völkergemeinschaft. In ihrer Stellung zu innerstaatlichen Fragen geht sie aus von einer christlichen Staatsauffassung und ihrem Charakter als Verfassungspartei4. Das Zentrum bekennt sich zum deutschen Volksstaat.5 Sein Ideal in Bezug auf Reichsgliederung ist eine starke Reichseinheit, die doch das Eigenleben der Länder zu schützen und pflegen bereit ist.6 Das organische Wachstum der deutschen Volksgemeinschaft beruht auf dem Bewußtsein der Verbundenheit aller Stände und Berufsschichten, das zu entwickeln und zu pflegen besonders wichtig ist.7 Die in christlich-sozialem Geiste betriebene Wirtschafts- und Sozialpolitik muß dem Gemeinwohl dienen, den Menschen als Mittelpunkt, um den sich alles Wirtschaften im letzten drehen muß, zivilisatorisch und kulturell höher zu führen. Die deutsche Kulturpolitik muß auf die Erneuerung und Festigung der geistig-sittlichen Volksgemeinschaft abzielen, das christlich-deutsche Geisteserbe schützen, die religiöse und sonstige Freiheit wahren und die Unabhängigkeit der kirchlichen Gemeinschaften sichern.

Politische Partei und Partei der Mitte

Nicht selten glaubt man in der Zentrumspartei eine konfessionell-katholische und keine politische Partei sehen zu müssen. Dieses Urteil wird daraus herzuleiten versucht, daß sich das Wählervolk des Zentrums weitaus überwiegend aus dem katholischen Volksteil rekrutiert. Das ist ein Trugschluß. "Das Zentrum ist grundsätzlich politische und nicht konfessionelle Partei." Es hat seine politische Selbständigkeit nicht nur immer nach allen Seiten hin behauptet, sondern praktisch immer auch nicht katholische Anhänger und manche nicht katholische Abgeordnete gehabt (...) Joos bringt die Eigenart des Zentrums inmitten der anderen Parteien auf die begrifflich richtige Formel "sowohl - als auch". "Das Wörtchen 'und' ist kennzeichnend für die geistige Welt des Zentrums und seine Politik. Konkret angewandt auf die Welt geistespolitischer Begriffe: Religion und Vaterlandsliebe, Vaterland und Menschheit, Deutschland und Europa, Zentralismus und Federalismus, Macht und Recht, Wahrhaftigheit und Klugheit, Gerechtigkeit und Liebe. Das eine und das andere. Nicht das eine oder das andere. Beides in lebensnotwendiger Verbindung." So ist das Zentrum nicht eine künstliche Parteikonstruktion, getragen von Ideen und Kräften, die aus anderen Parteien entnommen und zusammengestoppelt wurden, sondern als Partei der Mitte eine Partei der Synthese, der organischen Zusammenfassung und als solche selbstschöpferisch und aus eigenen Kräften lebend. Seine Politik zielt nicht auf dieses oder jenes Extrem, sondern auf die Gemeinschaft. Seine Struktur ist so, daß sie alle Stände und Volksschichten umfassen kann und umfaßt. Dieser besondere Wesenszug des Zentrums gab ihm auch die Möglichkeit, alle die - in den letzten Jahren gegenüber früher oft besonders schweren - Aufgaben im politischen Leben Deutschlands zu erfüllen, die Kriegs- und Nachkriegszeit, wirtschaftliche und soziologische Umschichtungen, außenpolitische Einflußlosigkeit und innerstaatliche Zerissenheit, materielle Not und geistig-sittliche Verworrenheit mit sich brachten.8

Nikolaus Groß, Westdeutsche Arbeiterzeitung vom 09.06.1928


1) Weltanschauungspartei war ein zeittypischer Begriff. Er bedeutet, daß eine Partei an einer Ideologie bzw. an umfassenden Welterklärungsansätzen orientiert war, woraus sich zumindest grundsätzlich ein Absolutheitsanspruch ableitete. Typische Weltanschauungsparteien waren die mit einem eigenen Milieu, also SPD, KPD, die auf dem Marxismus fußten, und das Zentrum. Eingeschränkt galt dies auch für die liberalen Parteien, soweit sie sich zur Wissenschaft als alleiniger Weltdeutung bekannten und das dogmatische Christentum bekämpften. Die Orientierung an einer Weltanschauung forderte die Beachtung der reinen Lehre, dagegen stand die Notwendigkeit des politischen Kompromisses in der Demokratie und Überschneidungen der wirtschaftlichen oder sozialen Interessen bei der jeweiligen Wählerklientel.

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2) Das neue Programm des Zentrums von 1922 wurde nötig wegen der geänderten politischen Lage nach der Revolution von 1918. Außerdem beendete es eine innerparteiliche Diskussion um die Zukunft der Partei, die nach der Revolution ausgebrochen war. Darin hatte der Vorsitzende der Christlichen Gewerkschaften, Adam Stegerwald, 1920 in Essen gefordert, das Zentrum zugunsten einer neuen, nun auch tatsächlich interkonfessionellen, national und sozial ausgerichteten Christlichen Volkspartei aufzugeben. Diese Diskussion spiegelte sich in den Formulierungen von christlich-nationaler Politik und christlicher Volkspartei sowie der Bekräftigung des Anliegens der Überkonfessionalität.

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3) Die Begriffe christliche Staatsauffassung, deutsche Volkspartei, Verfassungspartei sind auf dem Hintergrund dieser und anderer innerkatholischer Diskussionen zu verstehen. Besonders rechtskatholische Kreise, die teilweise das Zentrum verließen und sich der DNVP anschlossen (Martin Spahn) griffen die Weimarer Verfassung wegen ihrer Fundierung auf dem Gedanken der Volkssouveränität als Verfassung ohne Gott an, was ihrer Meinung nach einer christlichen Staatsauffassung widerspreche.

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4) Verfassungspartei war die Vokabel, mit der das Zentrum schon im 19. Jahrhundert sein Verhältnis zum Staat umschrieben hatte. Es beinhaltet ein passives Bekenntnis zum jeweils existenten Staat. Gerade der linke Zentrumsflügel, dessen Exponent Josef Wirth war, forderte seit dem Mord am Zentrumsminister Matthias Erzberger im August 1921 vergebens ein deutliches Bekenntnis zur Republik.

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5) Das Zentrum mied den Begriff Demokratie, der einigen als aufklärerisch-liberalistisch belastet galt, und sprach lieber vom Volksstaat. Die Wählerstruktur des Zentrums, besonders im Ruhrgebiet mit seinem hohen Arbeiteranteil, machte es notwendig, auf die Belange breiter Bevölkerungskreise politisch Rücksicht zu nehmen

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6) Prinzipiell war das Zentrum traditionell föderalistisch orientiert, aber 1921 hatte sein Reichsfinanzmimister, Matthias Erzberger, aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit eine Reichsfinanzreform eingeführt, die die Länderkompetenzen zugunsten des Reiches beschnitt.

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7) Schlüsselbegriffe des Zentrumsvokabulars waren: Volksstaat, Stand, Gemeinschaft, organisch.

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8) Seit der Revolution stand das Zentrum mit der linksliberalen DDP und dem zweiten "Reichsfeind" des Kaiserreiches, der SPD, in der Regierung und trug die Verantwortung während der bürgerkriegsähnlichen Turbulenzen der ersten Jahre nach 1918, der Hyperinflation und des Friedensschlusses mit seinen finanziellen Belastungen.

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