Kassiber vom 11.01.1945 an die Familie

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Kassiber 11. 1.45

Allerliebste Mutter!

Die Sache ist vertagt, und es steht in keiner Weise in Aussicht, wann sie stattfindet. Das ist bedauerlich - vielleicht auch ist es gut so. Ich habe darüber auch nach diesen zwei Tagen kein Urteil. Gottes Wege sind wunderbar, und wie er uns etwas schickt, das können wir nicht vorausberechnen. Ich hätte Dich gewiß gerne an dem Entscheidungstage in meiner Nähe gehabt - Dein Besuch am Samstag war für mich eine solche Quelle neuen und noch größeren Mutes und Vertrauens, daß ich es gar nicht sagen kann -, aber nach dieser Verschiebung auf unbestimmte Zeit kannst Du unmöglich hier bis zur Festsetzung und Abhaltung des neuen Termins warten. Es kann Wochen dauern - möglicherweise aber auch schon in Tagen sein. Dies letztere allerdings ist wahrscheinlicher. Ich bitte Dich aber im Interesse der Kinder, wieder heimzufahren. Beten kannst Du auch zu Hause, und ich habe durch Deinen Besuch festgestellt, wie nahe wir uns in jedem Augenblick auch über 500 Kilometer Entfernung sind. Unsere Herzen schlagen im gleichen Takt und Gedanken, und das ist ja schließ-lich wichtiger als räumliche Nähe. Gewiß: durch Dein Herz wird ein Riß gehen, wenn Dich die Pflicht zu den Kindern ruft und die gleiche Pflicht Dich veranlassen möchte hierzubleiben. Doch hast Du hier das Beste getan, Du hast geholfen in einer Weise, wie ich sie mir nie geträumt hätte. Du kannst, glaube ich, hier nichts mehr tun, und darum tust Du gut daran, zu den Kindern zu fahren. Sie brauchen Dich, und Dein Gebet mit dem der Kinder ist ja dort ebenso wirksam. Ich bitte Dich also, um der Kinder willen heimzufahren.
In der Eile und in der Freude auf Deinen Besuch am Samstag, als Du mir den Koffer mit dem Anzug hereinschicktest, habe ich gar nicht bedacht, daß ich die Wäsche hätte hier halten sollen. Nun habe ich hier schmutzige Wäsche, die gereinigt und ausgebessert werden müßte. Ich habe vor 8 Wochen zuletzt Wäsche abgeben können, und nun brau-che ich allmählich neue, reine Wäsche. Willst Du mir die Hemden hereingeben und die schmutzige Wäsche abholen? Frl. Gertrud kann sie ja später zurückbringen.
Vorgestern abend erhielt ich 9 Briefe von Euch: Drei von Dir vom 13., 19. und 26.12.; dann einen von Berny vom 25.12.; drei von Marianne vom 9., 20. und 25.12.; zwei von Alex vom 23. und 30. Dezember. Manches wußte ich bereits aus Deinem Besuch, aber es war doch noch viel Neues in ihnen enthalten. Vor allem ist es immer wieder die Liebe, die aus allen Zeilen spricht. Du wirst gewiß nicht vergessen, allen Kindern herzlich zu danken. Daß ich besonders Dir danke, brauche ich Dir bei unserem Verhältnis nicht zu sagen. Du weißt, mit welcher Innigkeit ich an Dir hänge und gerade an Dir, und da werde ich gewiß die Dankbarkeit nicht vergessen. Vielleicht wirst Du den einen oder anderen Tag noch bleiben. Aber wenn Du dann fährst, grüße alle lieben Kinder und Verwandten. Ich denke an sie, und sie werden an mich denken - so wollen wir einander treu bleiben. Herzinnige Grüße und ein stetes Gebet für Dich

Dein Nikel.

Gruß an alle guten Menschen. Frl. Gertrud, Wolny, und wer Dir sonst behilflich war.
Mit den 6 Briefen vom Montag erhielt ich also in zwei Tagen 15 Briefe.


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