Rundbrief an die Kinder Groß

Köln, den 2. Juli 1944

Rundbrief Nr. 1 an alle Grossens fern von Köln!

Liebe Kinder!

Nun, da wir "in alle Welt" verstreut sind, wollen wir darauf achten, dass das Band nicht zerreißt, das uns in unserer Familie zusammen halten und an das Elternhaus binden soll. Was hier in der Heimat vorgeht, was der Eine oder der Andere draußen erlebt und mitteilt, das soll in regelmäßigen Rundbriefen getreulich verzeichnet und den Einzelnen an Ost- oder Bodensee, an Ruhr oder Sieg mitgeteilt werden. Das soll nun nicht heißen, dass Ihr untereinander im Schreiben und Berichten nachlassen sollt. Wir wollen hier nur sammeln, was aus dem Blickfeld des Elternhauses allen zur Kenntnis zu bringen und was von unserer Gemeinschaft her zu sagen und in Erinnerung zu halten ist.
Zunächst gedenken wir unserem Klaus, an den wir als den Einzigen aus uns nicht schreiben können. Wir vergessen ihn nicht im Gebet. Gestern haben wir unsern lieben "Professor" Marianne glücklich in den Sonderzug nach Bansien gebracht. Es hat liebe Mühe und Not gekostet. Die Schlafdecke musste ihr schon nachgetragen werden, als sie kaum 500 Schritt von Hause fort war. Mit der Zerstreutheit, die nur den Leuten der Literatur und Kunst erlaubt und zu verzeihen ist, kannte sie weder Wagen- noch Abteilnummer des Sonderzuges, in dem sie ihren Platz zu suchen hatte. Als der Zug schon zur Abfahrt angesagt war, haben wir sie energisch in das erste beste Abteil gesteckt, damit nicht aller Trennungsschmerz vergeblich ertragen, die Tränen umsonst geflossen und die Butterbrote für die Katz geschmiert waren. In der Nacht hat die Mutter dann schweres Albdrücken gehabt in den Gedanken daran, wieviel von den Sachen, die unser lieber Professor mitgenommen hat, am Badestrand von Bansien liegen bleiben und Köln nie wieder sehen werden.
Alex erwartet "laufend" Post. Warum er in aller Welt die Post im Laufen erwartet, wissen wir nicht. Aber wenn es ihm Vergnügen macht, seine Post im Laufen zu erwarten, dann wollen wir ihn in diesem Vergnügen nicht stören.
Liesel, unser "Brävchen" tritt am 17. Juli ihre Kur in Ahlbeck an. Sie kommt damit in die Nähe von Bansien. Beide, Marianne und Liesel zusammen an der Ostsee - wie kann das Wetter da noch trübe und die See garstig sein?!
Mutter fährt in dieser Woche nach Kupferdreh, Liesel und Leni besuchen. Später wird sie nach Herdorf fahren, zum Besuch bei Bernhard...