Brief vom 31.12.1944 an die Familie

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(1) Berlin-Tegel, den 31.12.44
Seidelstraße 39
Haus l

Nr. 1499
8/326

Liebste Lisbeth!
Ihr lieben Kinder alle!

Diesen Gruß schreibe ich Euch am Sylvestertage, dem letzten Tage des Jahres. Meine Gedanken gehen zurück bis zum Altjahrsabend 1920, also vor 24 Jahren, wo wir uns, liebste Lisbeth, fanden und kennenlernten. Vieles Schwere und Leidvolle, doch auch viel Glück und Freude. Das Gute und Schöne hat immer das andere überwogen. Besonders Ihr, Du und die Kinder, habt für mich das Glück bedeutet. Und so danke ich Gott an diesem Tage für allen Segen, den er mir in diesen 24 Jahren hat zukommen lassen. Ich danke ihm, daß er Euch mir gegeben hat, und ich bitte ihn, daß er Euch mir erhält. An vieles läßt sich denken an einem solchen Tage. Unser Leben hat wahrlich genug des Erinnerungswürdigen geboten, Dinge und Geschehnisse, die uns zu ihrer Zeit das Herz bewegt haben und es heute noch tun. Und es gibt auch genug zu bedenken, was die Zukunft angeht. So ist für mich dieser Sylvestertag ein Tag tiefinnerer Besinnung.
So war es auch an den Weihnachtstagen. Sie sind für mich still und friedlich vergangen, und ich habe sie weitaus besser ertragen, als ich vorher angenommen hatte. Ihr, Du und die Kinder, fehltet mir; sonst ließe sich, was das andere angeht, auch unter den besonderen Umständen meiner Lage, ein Fest wie das Weihnachtsfest mit innerem Gewinn erleben. Ich glaube, daß mir dieser Gewinn nicht versagt geblieben ist.
Nun zu unseren persönlichen Angelegenheiten. Mir geht es den Umständen nach gut. Gesundheitlich habe ich nicht zu klagen; eine kleine Grippe für einen Tag machte mir nicht viel zu schaffen. Unangenehmer ist für mich, daß bei dem Tagesangriff, den Du, liebe Mutter, damals hier erlebtest, unsere Küche getroffen wurde und die Reserveküche die Dinge nicht voll bewältigen kann. Dadurch ist mein Kartoffelbrei, der mir eine gute Hilfe war, in Fortfall gekommen. Aber mache Dir deshalb, liebste Lisbeth, keine Sorge. Ich brauche wirklich nicht zu hungern. Dagegen beunruhigt mich das Ausbleiben der Post aus dem Westen. Wenn ich nicht von Gertrud regelmäßig hörte, wäre ich verlassen. Aber auch sie weiß nichts von Euch. Auch von Alex höre ich nichts. Es liegt zweifellos an den postalischen Verhältnissen. Die müssen wir halt in dieser Kriegszeit in Kauf nehmen. Irgendwann wird ja wieder Post kommen; aber in dieser Woche habe ich nicht eine Zeile erhalten.
Hoffentlich seid Ihr alle gesund. Ich bete täglich darum. Auch für die beiden Opas und deine und meine Geschwister. Wo ist Paul, wo Johannes Bröxkes? Gruß an Michael, Heinz, Werner und Karl.
Besondere Grüße allen lieben und guten Kindern: Berny, Marianne, Elisabeth, Alex, Bernhard und Leni. Für das neue Jahr wollen wir besonders unseres Klaus gedenken.
Mit den innigsten Gedanken gehe ich für Dich, liebste Mutti, in das neue Jahr hinüber. Was es an heißen Wünschen und Gebeten gibt, das habe ich für Dich, Mutter, in diesen Tagen gewünscht und gebetet. Möge uns Gott die Erfüllung geben. In treuer Liebe bin ich immer

Dein Nikel.


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