Vorbild und Fürsprecher

Dankgottesdienst für die Seligsprechung

Dankgottesdienst vom 8. Oktober 2001 in der Apsis von St. Peter in Rom

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Predigt von Bischof Dr. Hubert Luthe

Wir stehen über dem Grab des heiligen Apostels und Märtyrers Petrus und feiern zum ersten Mal die heilige Eucharistie im Gedenken an den seligen Familienvater und Märtyrer Nikolaus Groß. Was verbindet sie miteinander und mit uns?

Das Erste: Sie waren und sind Männer von uns. Von Nikolaus Groß haben wir in den letzten Wochen öfter gesagt - weil so vieles von ihm in uns nachklingt: Beruf, Familie, die Mühe um seine Fortbildung, der Einsatz für die Gewerkschaft, die Verantwortung für seine "Westdeutsche Arbeiter-Zeitung", die Mitgliedschaft in der KAB - was sollen wir mehr aufzählen? - nur das Letzte, Äußerste, das Zeugnis für Jesus Christus bis in den Tod - ist uns nicht abverlangt worden. Und Petrus: "Wahrhaftig, auch du bist einer von ihnen, deine Sprache entlarvt dich!" Die Leute im Palasthof des Hohenpriesters sagen es von ihm, als sie ihn an der Sprache, vielleicht auch an Kleidung und Gehabe, als einen Jünger Jesu erkennen, einen, der zu Jesus gehört.

Petrus leugnet das ab (vgl. Mt 26,6975). Aber er ist umgekehrt:

"Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich?", fragt der Auferstandene ihn dreimal. Und er antwortet dreimal: "Herr, alles weißt du. Du weißt doch, dass ich dich liebe" (vgl Joh 21,15-17). Was Petrus und Nikolaus Groß und, so hoffe ich, uns alle hier verbindet, das ist der Glaube an Jesus, die Liebe zu ihm. Dass wir zu ihm und mit ihm zueinander gehören. Was denn mehr? Nur die beiden sind vollendet - wir sind noch auf dem Wege.

Hat es sich damit? Nein, keineswegs! Am meisten ist mir gestern bei der Seligsprechungsfeier in die Glieder gefahren, als der Name des seligen Nikolaus Groß zum ersten Mal im Kanon der heiligen Messe genannt wurde. So, als ob er uns weggenommen worden wäre. Er gehört jetzt allen, er gehört zu allen, die in der ewigen Gemeinschaft mit Gott auf uns warten. Und er gehört uns allen, die wir ihm als unserem Vorbild und unserem Fürsprecher gegenüberstehen. Aber gerade dadurch gehört er doch auf eine ganz neue und vertrautere Weise auch wieder zu uns. Vorbild und Fürsprecher. Das wird jede und jeder von uns mit den eigenen Augen sehen und mit dem eigenen Herzen fühlen. Aber lässt sich nicht doch auch Gemeinsames ausmachen?

Ein Weggenosse, Alexander Drenker, hat im Oktober 1947 über ihn geschrieben (ich muss das ganz vorlesen): "Nikolaus Groß ist sicherlich nicht unbemerkt durch das Leben gegangen, aber er stand nicht im Vordergrund. Er wusste öffentlich zu sprechen, klar und klug mit einer eindringlichen, warmherzigen Überzeugungskraft, aber er war kein großer Redner. Die Sprache seiner Broschüren und Artikel ist geformt, aber er war kein ursprünglich begabter Schriftsteller. Seine Größe und seine Vorbildlichkeit liegen in seinem Menschentum. Bernhard Letterhaus, der ihm im Tode vorausging, nannte ihn den kleinen Mann mit der großen Seele. Er war ein Mensch, in dessen Gegenwart man gut wurde und sich seiner Unzulänglichkeit schämte. Er besaß das, was den berühmten Menschen meistens fehlt: das vertraute Antlitz. Nikolaus Groß hatte die Tugenden, die heute am seltensten und zugleich am notwendigsten sind. Er war von einer alles und alle umfassenden Güte, er wusste um die Kraft der Milde, er war aufrichtig und wahrhaftig, starkmütig und tapfer, und er hat nie Aufhebens von seiner außerordentlichen Seelenkraft gemacht. Er hat sich zu einer solchen Reife der Persönlichkeit emporentwickelt, dass das Ungewöhnliche an ihm wie selbstverständlich wirkte."

"Ich bin überzeugt, dass Nikolaus Groß, der im Leben nicht auf dem ersten Platz stand, in Zukunft zu immer größerem Ansehen gelangen wird. Sein Andenken wird nicht verblassen, sondern das Andenken aller anderen christlichen Arbeiterführer überstrahlen, denn er besaß das, was den berühmten Menschen meistens fehlt: das vertraute Antlitz. Jeder konnte in ihm sein besseres Ich wiederfinden. Er hat sich im Grunde genommen durch nichts von uns unterschieden als durch sein größeres Menschentum, ich möchte eigentlich sagen, durch seine größere Heiligkeit."

Finden wir ihn, finden wir uns darin wieder?

Aber gehen wir noch einmal auf die beiden Titel ein, die der Heilige Vater gestern von ihm gesagt hat: Familienvater und Märtyrer. Mit diesen beiden Namen dürfen wir ihn anrufen.

Das ist sozusagen seine Zuständigkeit!

Familienvater. Gibt es die überhaupt noch, Familienväter? Muss man die nicht geradezu mit der Lampe suchen? Was bedeutet es, wenn mir schon vor mehr als zwölf Jahren ein Düsseldorfer Pfarrer anlässlich der Firmung sagte: "Du musst wissen, von den Kommunionkindern dieses Jahres kommt, von außen gesehen, gerade noch ein Drittel aus intakten Familien." Jetzt könnte jeder von uns andere Beispiele nennen. Aber heißt das denn nicht am Ende: Hier liegt eine der größten Nöte unserer Zeit verborgen? Wie sollen Kinder, die keinen Vater, keine Mutter oder beide nicht haben, zu Menschen werden? - Und Kinder? Ich habe es erst vor vierzehn Tagen auf der Bischofskonferenz gehört. In Berlin gibt es etwa 350 000 Türken und ungefähr die gleiche Zahl katholischer Christen. Aber in die Berliner Grundschule gehen 60000 türkische und 10000 katholische Kinder. Und welche Startchancen haben junge Leute, wenn sie sich entschließen zu heiraten und eine Familie zu gründen? Kommt das bei drei und mehr Kindern nicht schon dem Gelübde der Armut gleich? Wer hilft ihnen? Und dann geht es weiter, Fragen über Fragen. Ich muss sie hier nicht nennen. Sind wir im Blick auf unsere Familien, wir, die wir immer noch in einem der reichsten Länder der Welt wohnen, sind wir im Blick auf unsere Familien nicht ein Entwicklungsland? Das Wort "Entwicklungsland" erschreckt uns, aber es lässt doch auch einen Blick nach vorne offen. Sollten wir uns nicht in der Sorge um unsere Familien unter dem Patronat des seligen Nikolaus Groß zusammenschließen? Wir können vieles, vieles bei ihm lernen und noch viel mehr von ihm erbitten.

Und Märtyrer; Märtyrer heißt Zeuge. Ich habe schon gesagt, bei uns im Lande werde uns heute nicht das Äußerste abverlangt. Aber unterhalb dessen? Vielleicht spüren das unsere Kinder schon stärker als wir Erwachsenen, was es heißt, sich offen zu Jesus Christus und zu seiner Kirche zu bekennen. Vor zwanzig Jahren habe ich nach Rückkehr von einer Reise durch die DDR einem Freund vom Glaubensmut und von der Bekenntnistreue junger katholischer Christen im anderen Teil Deutschlands erzählt. Er hat geantwortet: Ich habe vier Kinder. Die drüben stehen einem Gegner gegenüber. Das strengt an, das reißt aber auch zusammen. Meine Kinder würden ausgelacht, und das tut weh.

Geben wir unseren Kindern und Jugendlichen Räume - im wörtlichen und im übertragenen Sinne -, wo sie einmal unangefochten und fröhlich ihren Glauben leben können? Sicher, nur tote Fische schwimmen mit dem Strom. Aber dauernd kann das niemand. Es muss auch, um im Bild zu bleiben, Gumpen, Lachen,Teiche geben, die zum Ausruhen einladen.

Und das Zeugnis des im Alltag gesprochenen und geschriebenen Wortes. "Seid bereit, einem jeden, der euch fragt, Rechenschaft zu geben über den Grund eurer Hoffnung" (1 Petr 3,15), ruft uns der heilige Petrus zu. Können wir es? Wollen wir es? Tun wir es? Das lässt sich nicht vom Blatt ablesen, das geht nur vom Herzen zum Herzen. Nikolaus Groß hat begonnen, für die Seinen eine Glaubenslehre zu schreiben ("Unter heiligen Zeichen"),sie aber nicht mehr zu Ende führen können. - Und im Zeitalter der Allgegenwart der Medien? Welche Verantwortung haben die Menschen, die mit dem Wort umgehen und es weitergeben? Dass sie im Bericht zuverlässig und im Urteil gerecht und gütig sind. Der selige Nikolaus Groß als Patron all derer, die den Kindern ihren Glauben weitergeben, als Eltern, als Katecheten, als ‚Lehrer? Und Nikolaus Groß als Patron der Journalisten?

Wenn wir das Gesagte bedenken, klingen im Hintergrund zwei große Worte auf. Eines, das - weil es so inflationär gebraucht wird - am besten aus dem Verkehr gezogen werden sollte: das Wort Liebe. Und eines, nach dem kaum noch jemand fragt: das Wort Wahrheit.

Für das, was wir Deutschen mit dem einen Wort "Liebe" benennen müssen, haben die Griechen vier: Eines für das Verhältnis von Eltern und Kindern. Eines für die Liebe zwischen Mann und Frau. Eines für die Zuneigung unter Freunden. Und eines für das selbstlose Dasein des Einen für den Anderen in guten und in bösen Tagen, im Glück und im Unglück, in Gesundheit und in Krankheit, im Leben und im Tod. Die beiden ersten Worte kommen im Neuen Testament nicht vor, das dritte 26 mal, das vierte 259mal: Da wird klar, welche Liebe Jesus meint, auf welche er den Ton legt. Sie hat Nikolaus Groß gelebt.

Und Wahrheit? "Also bist Du doch ein König?" fragt Pilatus Jesus vor seinem Richterstuhl. "Das sagst du. Ich bin ein König" antwortet Jesus. "Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis gebe. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört meine Stimme", sagt Jesus (Joh 18,37). Auch darin ist Nikolaus Groß ihm nachgefolgt.

Lasst uns ihn nachahmen als Zeugen der Liebe und der Wahrheit Gottes. Und lasst uns zu ihm beten als dem Patron unserer Familien und dem Patron aller, die mit dem Wort umgehen müssen.

Beim Dankgottesdienst in der Apsis von St. Peter am Tag nach der Seligsprechung sprach Bischof Dr. Hubert Luthe zum ersten Mal dieses Tagesgebet:

Lebendiger Gott, du hast dem seligen Nikolaus Groß die Kraft geschenkt, sich als Christ einzusetzen in Familie, Beruf und Gesellschaft und sein Leben hinzugeben im Widerstand gegen die teuflischen Mächte seiner Zeit. Wir bitten dich: Stärke auch uns im Glauben, damit wir deinen Auftrag für unser Leben erkennen und ihn mit Mut und Ausdauer erfüllen durch Jesus Christus, deinen Sohn, unseren Herrn und Gott, der in der Einheit des Heiligen Geistes mit dir lebt und herrscht in alle Ewigkeit.

Ruhrwort 13.10.2001


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