Bischof Dr. Hubert Luthe
Am Sonntag, dem 7. Oktober 2001, wird Papst Johannes Paul II. in Rom den Familienvater und Märtyrer Nikolaus Groß selig sprechen. Darin kommt die Überzeugung der Kirche zum Ausdruck, daß er in Treue Christus nachgefolgt ist und ein außergewöhnliches Zeugnis für das Reich Gottes abgelegt hat. Ja mehr noch: Wir dürfen in ihm ein Vorbild christlichen Glaubens sehen und ihn in unseren eigenen Anliegen als Fürsprecher bei Gott anrufen. Seine Seligsprechung, die von unserem Bistum vorbereitet und erbeten wurde, soll ein geistlicher Anstoß für uns alle werden. Dazu möchte ich Sie mit diesem Hirtenwort herzlich einladen.
Es ist eine gute Fügung, daß die erste Seligsprechung in der Geschichte unseres noch jungen Bistums einem katholischen Laien gilt: Am 30. September 1898 in Nieder-wenigern geboren hat er im Gebiet unserer Diözese als Arbeiter, Bergmann und Gewerkschaftssekretär gearbeitet. Später wirkte er als Redakteur der Westdeutschen Arbeiter-Zeitung und im Verbandsvorstand der KAB. Er war verheiratet und Vater von sieben Kindern. Beruf und Familie gestaltete er sehr bewußt aus seinem christlichen Glauben heraus. Seine religiöse Überzeugung drängte ihn zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus und führte schließlich am 23. Januar 1945 zu seiner Hinrichtung durch den Strang in Berlin-Plötzensee. Aus eigener Erinnerung weiß ich, daß ein Totenandenken streng verboten worden war, dennoch aber heimlich in der Druckerei meines Vaters gedruckt wurde.
Wenn wir in den Wochen vor der Seligsprechung verstärkt diesem Märtyrer des 20. Jahrhunderts Aufmerksamkeit schenken, dann geht es jedoch nicht um Heldenverehrung oder um einen christlichen Starkult. Vielmehr soll uns die Überzeugung leiten, daß Gott selbst sich und seine Gnade im Martyrium der Blutzeugen offenbart und daß Gottes Größe in dem aufstrahlt, was wir im Leben der Heiligen und Seligen bewundern. Weil Gott ihnen Kraft und Glaubensstärke geschenkt hat, kann ihr Lebensschicksal für uns zum Ansporn werden. Auch wenn wir in einer anderen Zeit und unter anderen Bedingungen leben, soll ihr Glaubensweg uns Anregungen geben für unseren Weg der Nachfolge.
Drei Wesenszüge an Nikolaus Groß sind mir dabei besonders wichtig.
Vielleicht ist es für Sie überraschend, wenn ich zuerst davon spreche, daß Nikolaus Groß ein Mann des Gebetes war. Wäre es nicht wichtiger, seine berufliche Laufbahn in den Blick zu nehmen? Ist nicht seine grundlegende Verwurzelung in der Arbeitswelt das, was ihn besonders auszeichnet? Tatsächlich sind unter denen, die von der Kirche heilig- oder seliggesprochen wurden, nur wenige Männer und Frauen, die in der Industrie als Lohn-arbeiter tätig waren oder die sich als Gewerkschafter und Verbandsfunktionäre gesellschaftlich und politisch engagiert haben. Bei Nikolaus Groß steht sein aktiver Einsatz in diesen Bereichen des öffentlichen Lebens außer Frage.
Aber es wird sofort deutlich, daß er alles andere als ein geistloser Aktivist war. Seine beruflichen und gesellschaftlichen Aktivitäten waren nicht getrennt von seinem Glauben und seinem geistlichen Leben. Obwohl Nikolaus Groß ohne Zweifel seinen Platz mitten in der Arbeitswelt hatte, war er auch ein zutiefst frommer Mensch. Er zeigt uns, daß man nicht erst in ein Kloster eintreten muß, um sein Leben ganz aus der Verbindung mit Gott zu verstehen und zu gestalten.
Wer Nikolaus Groß begegnete, spürte offensichtlich seine kontemplative Grundhaltung. Der damalige Gefängnispfarrer in Berlin-Plötzensee Peter Buchholz erinnert sich: "Einer der Edelsten und Besten, dem ich in Tegel begegnete und den ich in der Folge mehrere Male in der Woche regelmäßig besuchen konnte, war Nikolaus Groß. Wie oft habe ich ihn kniend vor seinem Zellenschemel gefunden, wenn ich unvermittelt seine Tür auf-schloß! Es war geradezu ergreifend, mit welcher Ehrfurcht und Dankbarkeit und gläubiger Hingabe er die heilige Kommunion empfing, die ich ihm bei jedem Besuch reichen konnte."
Für uns erweist sich Nikolaus Groß als ein Vorbild gläubiger Verbundenheit mit Gott, eine Verbundenheit, die in Gebet und Sakramentenempfang ihren sichtbaren und den Alltag prägenden Ausdruck gefunden hat. Sein Glaube und seine Frömmigkeit bedeuten keinen Rückzug aus der Welt; sie waren prägende Bestandteile seiner Arbeit und seines ganzen Lebens.
Die Briefe aus dem Gefängnis lassen uns Nikolaus Groß nicht nur als einen Menschen mit starkem Gottvertrauen erkennen. Sie zeigen uns auch, wie sein Denken und Handeln durchgehend von seiner Liebe zu seiner Frau und seinen Kindern bestimmt war. Er ver-dankt seiner Frau viel; er weiß, daß nicht weniges nur mit ihrer Unterstützung möglich war und daß sie in allen Lebenslagen treu zu ihm gestanden hat. Zeitlebens steht er aber auch zu seiner eigenen Verantwortung für seine Kinder. Was er in zahlreichen Vorträgen und Schriften bedenkt, lebt er auch selbst ganz konkret. Trotz seiner großen beruflichen Beanspruchung und den damit verbundenen Abwesenheiten von der Familie beteiligt er sich aktiv an der Erziehung seiner Kinder, nicht zuletzt indem er auch intensiv ihre Entwicklung verfolgt - bis in die Tage seines Gefängnisaufenthaltes hinein.
In der Ungewißheit der Tage vor seinem Prozeß konnte seine Frau ihm einen Besuch in Berlin abstatten. Welche Freude und welcher Trost war das für Nikolaus Groß! Aber welche Liebe für seine Familie treibt ihn, daß er trotz der eigenen Not und Einsamkeit seine Frau bittet, um der Kinder willen nicht in Berlin zu bleiben, sondern heimzufahren. Seine Sorge gilt zuerst den Seinen. Auch die eigene Gefahr macht aus Nikolaus Groß keinen kleinmütigen Egoisten.
Deutlich wird dies noch ein letztes Mal zwei Tage vor seinem Tod in seinem Abschiedsbrief an seine Frau und seine Kinder. Er schreibt: "Mit inniger Liebe und tiefer Dankbarkeit denke ich an Euch zurück. Wie gut ist doch Gott und wie reich hat Er mein Leben gemacht. Er gab mir seine Liebe und Gnade, und er gab mir eine herzensliebe Frau und gute Kinder. Bin ich ihm und Euch dafür nicht lebenslangen Dank schuldig? Habt Dank Ihr Lieben, für alles, was ihr mir erwiesen. Und verzeiht mir, wenn ich Euch weh tat oder meine Pflicht und Aufgabe an euch schlecht erfüllte."
Bis in die letzten Tage vor seinem Tod gilt also seine Liebe denen, für die er in seinem ganzen Leben Verantwortung übernommen hatte. Seine Liebe zu seiner Familie ist nicht getrennt von seiner tiefen Verwurzelung im Glauben und seiner lebendigen Verbindung mit Gott. Auch sein gesellschaftspolitisches Engagement steht nicht isoliert daneben. Daß bei Nikolaus Groß die verschiedenen Dimensionen des Lebens gerade nicht auseinanderfallen, zeigt vielleicht etwas, was vielen Menschen heute so schwer fällt und was für ein geglücktes Leben doch notwendig ist.
Die Erinnerung an Nikolaus Groß ist untrennbar verbunden mit der Erinnerung an das Ende der Weimarer Republik und die Zeit der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland. Hatte er zuerst vor den Gefahren des Kommunismus gewarnt, so spürte er seit dem Ende der 20er Jahre - früher als viele andere -, daß die größere Bedrohung vom Nationalsozialismus ausging. Schon früh erkannte er den zutiefst unchristlichen und unmensch-lichen Charakter dieser Bewegung. Hellsichtiger als andere sah Nikolaus Groß, daß dieses Regime die vollständige Unterwerfung des Menschen verlangte und damit in einem grundlegenden Widerspruch zum Glauben und zur Kirche stand. Unerschrocken kämpfte er in den immer enger werdenden Grenzen des Möglichen mit seinen Veröffentlichungen gegen den nationalsozialistischen Absolutheitsanspruch und für die Glaubens- und Gewissens-freiheit. Er warnte vor Rassismus und Antisemitismus. Als die Westdeutsche Arbeiter-Zeitung 1938 endgültig verboten wurde, beteiligte sich Nikolaus Groß am Neuaufbau der Männerseelsorge in Deutschland.
Diese Arbeit ist vermutlich auch entscheidend für seine Kontakte mit den Kreisen des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus. Er lernte Alfred Delp und den Kreisauer Kreis kennen und kam in eine Beziehung zu der zivilen Berliner Widerstandsgruppe. Im sogenannten Kölner Kreis hatte er sich selbst schon an den Überlegungen zur Neugestaltung Deutschlands in der Zeit nach dem Ende des Dritten Reiches beteiligt. Durch seine Verbandsarbeit und die damit verbundenen Reisen leistete er wertvolle Kurierdienste zwischen den verschiedenen Widerstandsgruppen und kannte auch die Pläne für das Attentat vom 20. Juli 1944.
Nikolaus Groß wußte, auf welch gefährlichen Weg er sich mit diesem Engagement begeben hatte. Doch ließ ihm seine Verantwortung vor Gott und den Menschen keine andere Wahl. Der Paderborner Diözesanpräses Caspar Schulte bestätigt auf eindrucksvolle Weise die sittliche Größe und Entschiedenheit der Männer des Widerstands aus den Kreisen der KAB. Er schreibt: "Sie stolperten nicht in den Tod hinein. Sie gingen ihren Weg auch in der Bereitschaft, einen qualvollen Tod um der Freiheit willen auf sich zu nehmen."
Ich sagte Nikolaus Groß am Tage vor dem Attentat: "Herr Groß, denken Sie daran, daß sie sieben Kinder haben. Ich habe keine Familie, für die ich verantwortlich bin. Es geht um Ihr Leben." Darauf gab mir Groß das wirklich große Wort als Antwort: "Wenn wir heute nicht unser Leben einsetzen, wie wollen wir dann vor Gott und unserem Volk einmal bestehen."
In diesem knappen Satz wird deutlich, wie bedingungslos Nikolaus Groß sich dem verpflichtet fühlt, was ihm sein Gewissen sagt. Nicht einmal die Liebe zu seiner eigenen Familie erlaubt es ihm, sich von den lebensgefährlichen Bemühungen des Widerstandes fernzuhalten. Aus Sorge um seine Familie allerdings schlägt er nach dem Scheitern des Attentats angebotene Fluchtmöglichkeiten aus. Er wird verhaftet, vom Volksgerichtshof in Berlin zum Tode verurteilt und am 23. Januar 1945 am Galgen umgebracht. So endet das Leben eines aufrechten Christen, der unbeirrt seinem Gewissen gefolgt ist und bereit war, dafür auch mit dem eigenen Tod zu bezahlen.
Liebe Schwestern und Brüder,
mit unserem gemeinsamen Blick auf Nikolaus Groß beginnen wir die letzte Etappe auf dem Weg zur Seligsprechung . Nutzen wir sie als eine geistliche Zeit, in der wir auch auf unser eigenes Leben aus dem Glauben schauen. Die Tage der Novene, zu der wir vom 22. bis 30. September alle Gemeinden aufgerufen haben, sind eine Einladung zu dieser geistlichen Besinnung. Lassen wir uns von Nikolaus Groß und seinem Leben befragen: Wie steht es um unseren Glauben? Welchen Stellenwert hat das Gebet in unserem Leben? Wie gelingt es uns, berufliche Verpflichtungen und konkrete Sorge für die uns Anvertrauten zu ver-binden? Und schließlich auch: Wo hören wir in den aktuellen Fragen der Gegenwart die Stimme unseres Gewissens und wie folgen wir ihr? Was lassen wir uns Wahrheit und Wahrhaftigkeit kosten? Was bedeuten uns Aufrichtigkeit und Treue in der Begegnung mit anderen Menschen?
Diese Fragen sind niemals ein für allemal beantwortet. Deshalb wäre es auch falsch, wenn wir den 7. Oktober 2001 als einen Schlußpunkt verstünden. Von Herzen dürfen wir uns über die Seligsprechung von Nikolaus Groß freuen. Doch sie ist kein Selbstzweck. Vielmehr muß das eigentliche Ziel ein christliches Leben sein, damit wir alle am Ende unserer Tage vor Gott bestehen können. Im Schlußgebet der heutigen Meßfeier werden wir zu ihm beten: "Gewähre uns deine Hilfe, damit wir so vor dir leben können, wie es dir gefällt." Wenn Nikolaus Groß dabei durch sein Vorbild und seine Fürsprache eine Hilfe ist, kommen alle Bemühungen der vergangenen Jahre zu ihrem eigentlichen Ziel.
Nach menschlichen Maßstäben ist Nikolaus Groß mit seinem Leben gescheitert. Doch darin teilt er das Schicksal Jesu selbst. Trostvoll für alle Unterdrückten ist, was unser Herr im Blick auf die Vollendung im Reich Gottes verheißt: "Dann werden manche von den Letzten die Ersten sein und manche von den Ersten die Letzten." So ist die Seligsprechung von Nikolaus Groß auch ein leuchtendes Zeichen, daß Terror und Gewalt der Mächtigen nicht das letzte Wort behalten. Gott steht zu denen, die sich im Leben als treu erweisen.
Essen, den 6. August 2001
Mit herzlichen Segenswünschen
Ihr
+ Hubert Luthe
Bischof von Essen
Aus: "Nikolaus Groß, Arbeiterführer - Widerstandskämpfer - Glaubenszeuge, Wie sollen wir vor Gott und unserem Volk bestehen?" mehr..., Seiten 291 - 295