Rede des Schulleiters Bernhard Nadorf vom 25. Januar 1995:
Wir haben uns heute in der Aula des Bischöflichen Abendgymnasiums versammelt, um diese Schule nach dem katholischen Arbeiterführer, Widerstandskämpfer und Glaubenszeugen Nikolaus Groß zu benennen. Ich freue mich, daß Sie unserer Einladung gefolgt sind und begrüße Sie ganz herzlich.
Unser gemeinsamer Weg hat uns von der Gedenkstätte in der Synagoge hier in das Bischöfliche Abendgymnasium geführt. Daß der Festakt zur Namengebung unserer Schule an diesen beiden Orten stattfindet, hat, so glaube ich, eine tiefe symbolische Bedeutung. Heute ist das Gotteshaus der jüdischen Gemeinde in Essen eine Mahn- und Gedenkstätte, wenn man sich jedoch die ursprüngliche Bedeutung des Wortes "Synagoge" im Sinne von "Sich versammeln" vor Augen führt, so ist sie ein "Ort der Begegnung", an dem unsere jüdischen Mitbürger einst gemeinsam ihren Gottesdienst gefeiert haben. Wie wir alle wissen, wurde die Essener Synagoge am 9.November 1938, in einer Nacht des Terrors, die bis auf den heutigen Tag in einer merkwürdigen Mischung aus Zynismus und Euphemie als "Reichskristallnacht" bezeichnet wird, in Schutt und Asche gelegt. Einige der Älteren unter uns haben als 10-, 11- oder 12jährige die Zerstörung dieser und anderer Synagogen mitansehen müssen, und ihre Mütter und Väter mögen sich wie Nikolaus Groß die bange Frage gestellt haben: "Wie können wir vor Gott und unserem Volk bestehen?" Er hat die Frage im Plural gestellt, gewiß nicht, um sich dahinter zu verstecken, sondern im Bewußtsein der Solidarität mit allen Kampfgefährten und allen Mitleidenden damals. Aber seine Frage, liebe Festgemeinde, ist zeitlos, sie ist eine Herausforderung an unsere Generation, und sie richtet sich an jeden von uns ganz persönlich, wenn wir im Fernsehen die Bilder von der Zerstörung kroatischer, bosnischer oder israelischer Gotteshäuser sehen. Die Namengebung dieser Schule ist der Versuch, eine zukunftsorientierte Antwort auf die beunruhigende Frage des Nikolaus Groß zu geben. Denn wie wir uns heute im Jahre 1995 an das Zeugnis von Menschen wie Nikolaus Groß erinnern, so werden wir aus der Perspektive des Jahres 2045 von unseren Kindern nach unserem Glaubenszeugnis gefragt werden, und wir werden nur bestehen können, wenn wir in unseren Schulen und Weiterbildungseinrichtungen Lehren aus der Vergangenheit ziehen und in unserer Verantwortung als Pädagogen und Andragogen mit jungen Erwachsenen Werte ermitteln und verlebendigen, die uns selbst und die Kommenden befähigen, jedem totalitären Herrschaftsanspruch, der rassistischen Verblendung und der Glaubensverfolgung glaubwürdig und mutig zu widerstehen. Dies ist der tiefere Grund, warum Menschen wie Nikolaus Groß aus der Sicht unserer Schulgemeinde vorbildhaft und damit "ehrenwert" sind.
Die Plätze, Straßen und Gebäude dieser Stadt sind Zeichen der Erinnerung an unsere Vergangenheit. Sie halten unsere Erinnerung an die "Ehrenwerten" lebendig, sie geben aber auch Aufschluß über die Wertmaßstäbe, denen sich die "Ehrenden" verpflichtet fühlen, und die sie an ihre Kinder und Kindeskinder weitergeben möchten. Was ist erinnerungswürdig und wer ist ehrenwert am Ende eines Jahrhunderts, das von Krieg, Leid und Verfolgung geprägt ist? Sind es weithin bekannte Namen wie "von Seeckt" oder "von Hindenburg" oder sind es unbekannte Menschen wie "Nikolaus Groß" , "Bernhard Letterhaus" oder "Gottfried Könzgen" die schon früh die politische Urteilsfähigkeit besaßen, vor den Gefahren der nationalsozialistischen Bewegung zu warnen und den Mut hatten, auch im Angesicht des Todes aus christlicher Überzeugung für den richtungweisenden Grundsatz einzutreten: "Die Würde des Menschen ist unantastbar"?
Das Bischöfliche Abendgymnasium ist - anders als die Synagoge - keine Mahn- und Gedenkstätte, es ist kein Denkmal aus Stein und keine Straße, der man einen Namen gibt, der bald wieder in Vergessenheit geraten kann. Es ist vielmehr eine lebendige Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden. Sie kann - mehr noch als eine Gedenkstätte und dauerhafter als jede Ausstellung - ein Lebenswerk und menschliches Vorbild auf sich beziehen und immer wieder aktualisieren, die Werte aus dem Lebenszeugnis des Nikolaus Groß nicht museal, sondern wirklichkeitsnah erinnern, entdecken, empfangen und weitergeben an die heutige und künftige Generationen - also im besten Sinne des Wortes "Traditionspflege" betreiben.
Die Verleihung des Namens "Bischöfliches Nikolaus Groß Abendgymnasium" ist jedoch, verehrte Festgemeinde, nicht nur eine Ehrung für Nikolaus Groß und sein Lebenswerk, sie ist auch in gleicher Weise eine Auszeichnung für die Schule, und es stellt sich daher die Frage, warum gerade diese Schule, das Bischöfliche Abendgymnasium, diesen Namen gewählt hat. Die Schulgemeinde, hochverehrter Herr Bischof, hat sich sehr sorgfältig mit den unterschiedlichen Aspekten der Namengebung befaßt und ist dabei zu der Überzeugung gelangt, daß sich die Lehrenden und Studierenden dieser Schule in besonderer Weise mit dem Lebenswerk von Nikolaus Groß und damit mit dem neuen Namen der Schule identifizieren können.
Lassen Sie mich drei Gesichtspunkte nennen, die für uns alle von wesentlicher Bedeutung sind:
Menschen wie Nikolaus Groß erinnern uns an unsere gemeinsame Geschichte, sie begründen auch die historische Verwurzelung des jungen Ruhrbistums in dieser Region. Das besondere Interesse unserer Schule an der Vorgeschichte des Bistums Essen und der katholischen Arbeiterbewegung in dieser Region zeigt sich auch in unserer schulischen Arbeit. Ich möchte daran erinnern, daß wir zum 100jährigen Jubiläum der großen Sozialenzyklika "Rerum novarum" im Jahre 1991 eine Quellensammlung zur Geschichte der katholischen Arbeiterbewegung im Ruhrgebiet erarbeitet und dieses wichtige Thema auch in den Lehrplan unserer Schule aufgenommen haben. Dieses Buch, das hier bei der Ausstellung ausliegt, enthält auch einen Wahlaufruf des christlichen Volksvereins aus dem Jahr 1877. Damals wurde Gerhard Stötzel, Metallarbeiter bei der Firma Krupp, als erster katholischer Arbeiter für die Stadt Essen in den Reichstag gewählt. Auch sein Bild finden Sie auf der Tafel. Ich erwähne seinen Namen vor allem deshalb, weil die Fortsetzung unserer Franziskanerstraße den Namen "Gerhard Stötzel Straße" trägt. Ist es nicht ein schöner Zufall von tiefer symbolischer Bedeutung, daß sich das neue Bischöfliche Nikolaus Groß Abendgymnasium in der Fortsetzung einer Straße befindet, die nach einem katholischen Arbeiter und Publizisten benannt ist, den wir als einen der Vorgänger von Nikolaus Groß betrachten dürfen?
So ist der heutige Tag eingebunden in die Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Bischöflichen Abendgymnasiums. Der zeitliche Ablauf der vergangenen Festwoche mag dies symbolisch verdeutlichen. Am Samstag, dem 21. Januar habe ich die Ehemaligen der Schule über die Namensgebung informiert, zwei Tage später, am Montag, dem 23. Januar, haben wir im Gedenken an den Todestag von Nikolaus Groß gemeinsam den Schulgottesdienst gefeiert und heute sind wir zusammengekommen - zur feierlichen Namengebung der Schule.
Hochverehrter Herr Bischof, die Schulgemeinde des Bischöflichen Abendgymnasiums hat sich an Sie mit der Bitte gewandt, unsere Schule nach Nikolaus Groß zu benennen. Wir danken Ihnen, daß Sie in diesem Vespergottesdienst diesem Wunsch entsprechen wollen. Ich darf Sie, die Familie Groß und alle Anwesenden im Anschluß an den Vespergottesdienst ganz herzlich zu einem Empfang der Schulleitung einladen.
Essen, den 25.1. 1995
Bernhard Nadorf, Schulleiter