Marianne Reichartz:

Nikolaus und Elisabeth Groß

Eine Tochter erinnert sich

[Zurück]

Was ich berichte, hat nicht nur mit meinem Vater zu tun. Über meinen Vater zu sprechen, geht nicht, ohne meine Mutter gleichwertig neben ihn zu stellen. Meinen Vater und meine Mutter, Nikolaus und Elisabeth Groß, sehe ich untrennbar miteinander verbunden.

Ich musste alt werden, um wieder in meine Kindheit und Jugend einzutauchen, um meine Eltern neu zu entdecken. Bei meiner Mutter hatte ich damit wenig Schwierigkeiten. Es war ja kein jäher Abbruch. Ich kann sie überlebte ihren Mann um 27 Jahre auf eine schöne und erfüllte Zeit mit ihr zurückblicken. Ich erlebte sie so, wie sie war: für sich bescheiden, liebevoll und vor allem stark.

Als der Krieg zu Ende war, verdrängte das offizielle Bild des Widerstandskämpfers weitgehend das Bild des Vaters, den ich erlebt hatte. Von uns wurde sehr bald Präsenz erwartet bei Veranstaltungen und Ehrungen. Straßen, Häuser, Schulen wurden nach meinem Vater benannt. In feierlichen Gottesdiensten stand er uns als der Bekenner vor Augen, der für seine Überzeugung gestorben war.

"Dein Vater", das wurde mit einer ganz besonderen Betonung ausgesprochen. Er war ein Vorzeigevater, reduziert auf bestimmte Eigenschaften. Aber war das auch noch der Vater, den ich erlebt hatte in meiner Kindheit, Jugend und, besonders nahe, in den letzten Monaten seines Lebens?

Kindheit

In meiner Kindheit erlebte ich Elternhaus, Kirche und Schule als Einheit. Der gelebte Glaube war das Fundament. Obgleich die Nationalsozialisten die Macht schon übernommen hatten, merkte man in unserer Volksschule kaum Veränderungen, weil streng katholische Lehrerinnen uns unterrichteten. Wir beteten vor und nach dem Unterricht und die Priester erteilten regelmäßig Bibel und Katechismusstunden. Es ging sehr streng zu, auch in der Kirche. Da wurde zu Hause auch Druck gemacht. Sonntags nicht in die Kirche? Undenkbar! An besonderen Heiligentagen weckte die Mutter uns früh und schickte uns vor der Schule in die Messe. Christenlehre, Beichte und Kommunion, das waren wichtige Termine. Das Elternhaus stand dahinter. Wichtig waren auch die gemeinsamen Gebete morgens und abends und, immer um den großen Tisch, vor und nach den Mahlzeiten. Das war für meine Eltern und uns Kinder nicht nur Anleitung zur Frömmigkeit, sondern Erlebnis der Gemeinschaft. Bildung, Schulbildung hatten für meine Eltern einen hohen Stellenwert. Beide hatten nur sieben Jahre eine Dorfschule besuchen können. Mühsam musste sich mein Vater in Kursen und Schulungen, heute würde man sagen "auf dem zweiten Bildungsweg", sein Wissen aneignen. Er überprüfte gern unsere schulischen Leistungen. Das plötzliche Vorlegen der Schulhefte war bei uns äußerst unbeliebt. Da konnte der Vater heftig tadeln, sogar zornig werden. Aber er lobte auch gern. Ich empfand ihn als gerecht.

Meine Eltern waren, für damalige Zeiten ungewöhnlich, aufmerksame Zuhörer ihrer Kinder. Bei sieben Kindern um den Tisch will jedes etwas erzählen, zu Wort kommen. Der große Tisch war Mittelpunkt unserer Familie, und ich sehe ihn als den Ort in meinem Leben, an dem ich am meisten gelernt habe: sich nicht als Mittelpunkt zu sehen, teilen und auch mal verzichten zu können, sich mit anderen zu freuen, aber auch zu lernen sich durchzusetzen.

An diesem Tisch wurde viel gestritten, aber auch viel gelacht. Meine Eltern lachten gern, miteinander und mit uns. Wenn meine Mutter in der Küche sang, war ich immer ganz glücklich , oder wenn der Vater in der oberen Etage mit seiner kraftvollen Stimme Kirchenlieder sang: "Wahrer Gott, wir glauben Dir!" Das hat nichts mit der Seligsprechung zu tun; vielleicht kannte er nur Kirchenlieder.

Frohe Ereignisse in der Kinderzeit waren auch die jährlichen Fahrten ins Blaue. Die Eltern hatten sie mit viel Geheimniskrämerei vorbereitet, und wir alle hatten den ganzen Tag Spaß.

Mein Vater war ein geschickter und phantasievoller Handwerker. Weihnachten standen wahre Kunstwerke auf dem Gabentisch: Puppenstuben, Kaufläden, Gebirge für die Eisenbahn. Alles, was mit Nähen zu tun hatte, war Mutters Gebiet. Mit der wachsenden Kinderzahl wuchs ja immer neuer Bedarf. Die wunderschöne Krippe, die meine Eltern geschaffen haben, befindet sich noch immer im Familienbesitz. Das andere ist den Weg alles Irdischen gegangen. Ich könnte natürlich noch viel aus unserem Familienleben berichten: von den einfachen Dingen, von den sonntäglichen Spaziergängen an den Rhein, in die Flora oder ins Museum.... wenn es kostenlos war. Wie meine Eltern es geschafft haben, uns in einer Zeit, in der sie bestimmt oft bedrückt und ängstlich waren, eine schöne Kindheit zu bereiten, weiß ich nicht. Aber sie haben es geschafft.

Jugend

Wir wurden älter. Ein kalter Wind wehte uns um die Ohren. In der Kindheit hatte ich die politische Situation wenig wahrgenommen. Sie lief wie auf einer Schiene nebenher. Meine Eltern verhielten sich, so kann ich rückblickend feststellen, in politischen Äußerungen innerhalb der Familie vollkommen zurückhaltend. Wer die Zeit erlebt hat, wird wissen, dass auch Kinder ungewollt und unbewusst ihre Eltern gefährden konnten. Und es war damals nicht so wie heute, dass Kinder auf ihre genauen Fragen auch Antwort bekommen. Eltern waren auf einer anderen Ebene. Da machte man lieber vieles untereinander aus.... vieles aber nicht alles.

Wir hatten als Kinder das Glück, mitten in Köln wie in einer ländlichen Idylle zu leben. In der einen Hälfte eines Zweifamilienhauses, der Dienstwohnung meines Vaters, sprangen wir sieben Kinder treppauf und treppab, und nebenan wohnte Familie Busley mit sechs Kindern, so dass dreizehn Kinder das Haus belebten; dazu kamen noch mehrere, die zwar dort nicht wohnten, deren Väter aber auch im Kettelerhaus arbeiteten. Von Herrn Busley, unserem Nachbarn, möchte ich etwas aus der Agneskirche berichten: Sonntag, Elf Uhr Messe, proppenvoll wie heute vielleicht nur noch die Christmette, Verlautbarung der deutschen Bischöfe: "Die deutschen Bischöfe bitten die Reichsregierung ..." Darauf Daniel Busley: "Nicht bitten, fordern!" Atemlose Stille.

Als wir zu groß wurden, um gemeinsam auf dem Hof zu spielen, brachten wir Freundinnen und Schulkameraden, meist aus der Agnesjugend, mit nach Hause. Gruppenabende, Liederrunden ... alles fand bei uns statt, auch letzte Treffen mit jungen Menschen, die in den Krieg mussten. Aber nie hätten meine Geschwister und ich jemanden in HI oder BDM Uniform mit nach Hause gebracht. (Dass in unserem Haus so viele Menschen ein und aus gingen, hatte für die Widerstandsbewegung auch einen wichtigen Nebeneffekt: Ohne viel Aufsehen zu erregen, konnten sich bei uns diese mutigen Menschen, unter ihnen auch Pater Delp, treffen.) So haben uns die Eltern vielfach unterstützt und uns nicht allein gelassen. Sie haben uns viel zugemutet, aber auch viel zugetraut' Als Kind fühlte ich mich zeitweise überfordert, wäre auch gern mit der Masse gelaufen, musste schweigen auf die Frage: "Warum bist du nicht im BDM?" Es ging so weit, dass meine Schwester auf Weisung der Eltern aus dem Schul Hockeyclub austreten musste, weil er sich plötzlich NS Hockeyclub nannte.

Zwangsweise gingen wir mit der ganzen Klasse in die schrecklichen Propagandafilme wie z. B. "Jud Süß". Meine Mutter, die uns vor diesem Gedankengut bewahren wollte, gab uns kein Geld dafür, es ging um 15 Pfennig. Ich musste vor versammelter Klasse sagen: "Dafür haben meine Eltern kein Geld!" Und oh tiefe Scham: "Dann nehmen wir dich umsonst mit, ihr habt ja so viele Kinder!" Das wollte meine Mutter allerdings nicht damit bezwecken. Aber gestärkt durch das Elternhaus, durch meinen Freundeskreis und die Pfarrjugend kam der Zeitpunkt, da ich um nichts in der Welt bei den Nazis mitgemacht hätte.

Bald griff der Krieg mit seinen zahllosen Angriffen auf Köln grausam in unser Leben ein. Die Familie wurde auseinander gerissen, in alle Winde zerstreut: an die Ostsee, zum Bodensee, an die Sieg, ins Ruhrgebiet und nach Russland. Ab Sommer 1944 wurde in Köln der Schulbetrieb eingestellt. Fast alle Schulen waren zerstört, darunter auch meine Schule. Mit einem Sonderzug wechselte die Schule, das heißt, das gesamte Lehrpersonal sowie Hunderte von Schülerinnen, ihren Standort auf die Insel Usedom. In dieser Zeit schrieb der Vater die von uns so genannten Rundbriefe "An alle Großens fern von Köln". Ich lasse meinen Vater sprechen:

Dies schrieb er kurz vor dem 20. Juli 1944, als Vater und Mutter unter den Bomben-angriffen litten, als sie die schmerzliche Trennung von ihren Kindern verkraften mussten , und trotzdem schrieb er so humorvoll, so liebevoll auch in der Kritik.

Der intensive und umfangreiche Briefwechsel, den ich von meinem neuen Schulort aus mit meinen Eltern führte und der vollständig erhalten ist, zeigt das Vertrauensverhältnis, das zwischen uns gewachsen war. Ein Beispiel für viele:

Obgleich die Lebensbedingungen auf Usedom friedlich und sicher waren, hatte ich einen mir unerklärlichen Drang, in das von Bombenangriffen immer mehr zerstörte Köln zurückzukehren. Der Schuldirektor ließ sich jedoch auf mein Drängen nicht ein , die ältesten Schülerinnen sollten nämlich an einem Ernteeinsatz in Ostpreußen teilnehmen, obwohl dort die russische Front bereits sehr nahe war. Dann überstürzten sich die Ereignisse. Wider Erwarten erhielt ich doch noch die Erlaubnis, nach Hause zurückzufahren. Zur selben Zeit hatte meine Mutter in Sorge um mich entschieden, mich selbst in Bansin abzuholen. Das führte, wie wir nachträglich erkannten, zu einem Drama: Wir fuhren aneinander vorbei, ich in Richtung Westen, meine Mutter zur Insel Usedom.

Verhaftung und Tod meines Vaters

In der Nacht zum 12. August war ich endlich wieder zu Hause. Die Gestapo verhaftete am folgenden Tag um die Mittagszeit meinen Vater. Meine beiden Schwestern und ich waren Zeuginnen, als er abgeführt wurde. Bevor er uns verließ, gelang es ihm noch, sein Notizbuch mit wichtigen und wie wir dann bald erkannten belastenden Eintragungen verschwinden zu lassen. Wir haben es später gefunden. Immer wieder bewegt mich in diesem Zusammenhang die Frage meiner kleinen Schwester: "Vater, wohin gehst du?"

Meine Mutter war an diesem Tag nicht zu Hause, sondern auf der Rückfahrt von Usedom nach Köln in jenen Kriegstagen eine Reise unter besonders schwierigen Umständen. Nach zwei Tagen sahen wir sie wieder. Wir überfielen sie noch in der Tür mit der schrecklichen Nachricht von der Verhaftung. Ohne zu zögern, ohne ihren Mantel abzulegen, hastete sie zum EL DE Haus, dem Sitz der Kölner Gestapo, um ihren Mann zu sehen. Dort erwartete sie der nächste Schock: In teilnahmslosem Ton erklärte ihr der diensthabende Beamte: "Nikolaus Groß ist nach Frankfurt abtransportiert worden. " Und hier wächst diese bescheidene und einfache Frau über sich hinaus. Frankfurt ist ihr nächstes Ziel, das Gestapohaus, die Höhle des Löwen. Hier erfährt sie, dass ihr Mann nach Berlin abgeschoben wurde. Sie kehrt zu ihren Kindern nach Köln zurück, wird von dort aus aktiv. Sie schreibt an die Hauptdienststelle der Gestapo nach Berlin, erfragt den Verhaftungsgrund und bittet um Besuchserlaubnis. Sie wird jedoch keiner Antwort gewürdigt.

Am 3. September erhält die Familie den ersten Brief meines Vaters, der inzwischen in Ravensbrück inhaftiert war. Was mein Vater dort erlitten hat, kann man nur ahnen. Ich zitiere aus dem Buch Rudolf Pechels "DeutscherWiderstand":

Inzwischen scharte sich die Familie um die Mutter. Bis auf zwei Brüder lebten wir nun in Niederwenigern an der Ruhr, dem Geburtsort meiner Eltern. Mehr schlecht als recht hausten wir auf zwei Zimmern bei Verwandten. Hier habe ich immer das Bild vor Augen, wie meine Mutter abends, oft unterstützt von einem ihrer Kinder, die eiskalte Kirche putzte.... natürlich ehrenamtlich. Wollte sie zusätzliche Opfer auf sich nehmen? Ich weiß es nicht. Hatte sie nicht schon genug Lasten auf ihrem Rücken?

In die Monate der Inhaftierung meines Vaters fiel die Hinrichtung von Bernhard Letterhaus, seines treuesten und besten Freundes. Der Dritte aus der Führungsspitze der KAB, der greise und fast erblindete Prälat Dr. Otto Müller, starb im Gefängniskrankenhaus. Nun war es ganz ernst und bedrohlich um Nikolaus Groß geworden, der allein übrig geblieben war. Chiffrierte Nachrichten aus Berlin erreichten meine Mutter: "Patient erkrankt, Operation steht bevor." Das wies auf die anstehende Verhandlung hin. Meiner Mutter und meiner ältesten Schwester Berny gelang es mit Hilfe von Domkapitular Schulte nach Berlin zu fahren. Damals war der private Reiseverkehr praktisch unmöglich geworden. Schulte, seit vielen Jahren treuester Freund der Familie, beschaffte eine Ausnahmegenehmigung und versorgte meine Mutter mit dem nötigen Geld, denn wir selbst hatten keines. In Berlin gehen Kassiber in das Gefängnis Tegel hinein und von dort nach draußen, hin und her. Vater schreibt: "Ich freue mich unendlich!" Endlich gibt es Sprecherlaubnis! Nach einem ergreifenden Zusammensein von Vater, Mutter und Tochter reist Berny, da sie in einem Lazarett dienstverpflichtet ist, zurück ins Ruhrgebiet. Die Mutter, hoffend auf weitere Besuchserlaubnis, bleibt in Berlin. Im Wartezimmer des Gefängnisses erlebt sie den Beginn eines Großangriffes. Tausend Bomber über Berlin. Die wartenden Angehörigen stürzen in den Gefängniskeller. In verschiedenen Berichten und Büchern wird von denen, die mit ihr in diesem Luftschutzkeller waren, immer wieder berichtet, dass meine Mutter in der allgemeinen Panik laut gebetet habe: "Hilf, Maria, es ist Zeit!" Viele Frauen begannen mitzubeten. Es wurde ruhiger. Als der Angriff überstanden und die Gruppe nach oben geklettert war, sah sie das Ausmaß der Zerstörung. Der Flügel des Gefängnisses, aus dem mein Vater tags zuvor verlegt worden war, stand in hellen Flammen. Mein Vater hatte in seiner neuen Zelle den Bombenangriff mit gefesselten Händen überstanden, ebenfalls die Männer in den Zellen neben ihm: Pater Alfred Delp, Graf Moltke und Eugen Gerstenmaier.

Im Januar 1945 bricht meine Mutter zum zweiten Besuch nach Berlin auf. Tage ist sie unterwegs in eiskalten Zügen. In Berlin wohnt sie bei Freunden. Deren tatkräftige Hilfe zu beschreiben, würde ein eigenes Kapitel füllen. Sie sparten sich das Essen vom Mund ab, wuschen die Wäsche der Inhaftierten, die hinaus und hineingeschmuggelt wurde, und begleiteten meine Mutter auf ihren schweren Wegen.

Diese hatte für das höchst gefährdete Leben ihres Mannes alle Hebel in Bewegung gesetzt. Den Durchschlag eines Gnadengesuches an den Justizminister brachte sie mit einem persönlichen Begleitschreiben dem päpstlichen Nuntius Orsenigo. Dessen Sekretär verweigerte die Annahme: "Für diese Leute kann Eminenz nichts tun. Er ist auch nicht in Berlin." Ob der Nuntius, ein eindeutiger Sympathisant des Faschismus, tatsächlich nicht anwesend war oder sich verleugnen ließ, konnten wir nie feststellen. Tatsache ist, dass meine Mutter, die uns diese Geschichte oft berichtet hat, tief enttäuscht davon war, dass ihr von hoher kirchlicher Stelle keine Hilfe zuteil wurde.

Am 15. Januar 1945 verkündete Roland Freisler das Todesurteil. Zitat aus dem Prozessbericht. "Bescheiden im Wesen, bei der Verkündung des Urteils dem Weinen nahe." Nach der Urteilsverkündung konnten meine Eltern sich noch einmal sehen und sich für dieses Leben verabschieden.

Im Abschiedsbrief an seine Familie schreibt mein Vater:

Am 23. Januar 1945 wurde mein Vater in Berlin Plötzensee hingerichtet. Pfarrer Buchholz, der im Gefängnis Tegel meinem Vater und den anderen Getreuen so oft heimlich die Kommunion gebracht hatte, durfte den letzten Weg der zum Tode Verurteilten nicht mitgehen. Ich zitiere aus Marianne Hapigs "BerlinerTagebuch":

Am 23. Januar traf meine Mutter nach mühevoller zweitägiger Fahrt bei uns im Ruhrgebiet wieder ein. In Berlin hatte sie nichts mehr für ihren Mann tun können. Nicht ahnend, dass unser Vater schon tot war, schrieben meine Schwester Berny und ich in der folgenden Nacht ein Gnadengesuch an den Justizminister und baten im Namen von Vaters sieben Kindern um sein Leben. Außerdem legten wir noch ein Foto von uns dazu. Nach Wochen erhielten wir einen Brief "Zu Ihrem Gnadengesuch vom 23. Januar das beiliegende Bild zurück. Der Reichsminister der Justiz." Menschenverachtend!

Mit den engsten Freunden, obgleich räumlich entfernt, rückt unsere Familie nun zusammen. Hilfe in all unseren Nöten und Ängsten bietet uns vor allem Rektor Hans Valks, heute Prälat, damals junger Geistlicher in unserer Pfarrgemeinde. Er ist immer für uns da, unerschrocken vor den allgewaltigen Machthabern des so genannten Dritten Reiches. Er veranlasst ein Gnadengesuch des Kölner Kardinals Frings, das, wie unser Gesuch, zu spät kommt. Das Todesurteil war, ohne dass wir davon Kenntnis hatten, bereits vollstreckt worden.

Am 29. Januar erhält unsere Mutter die inoffizielle Nachricht des Berliner Freundes Theodor Hüpgens, dass... "Ihr lieber tapferer Mann am vergangenen Dienstag, also am 23. Januar 1945, seinen letzten Gang gegangen ist. "

Da der amtierende Pfarrverweser von St. Agnes nicht wagt, die Exequien für meinen Vater zu halten, ist Rektor Hans Valks wieder selbstverständlich zur Stelle. Auch für Bernhard Letterhaus und Dr. Müller hatte er die Seelenämter gefeiert. Die Agneskirche war zerstört. In der Krypta scharte sich das Häuflein der in Köln verbliebenen Pfarrangehörigen um den Altar. Von unserer Familie konnten nur meine Mutter und ich dabei sein. In den Händen hielten wir einen Totenzettel. Die Düsseldorfer Verlagsanstalt, bei der mein Vater seine Schriften verlegt hatte, hatte es abgelehnt, einen Totenzettel für ihn zu drucken. Hans Valks hatte sich daher an die Druckerei Luthe gewandt. Sie gehörte dem Vater des späteren Bischofs von Essen, Hubert Luthe. Zitat aus einem Brief von Hans Valks:

"Wir setzen uns mit Tränen nieder und rufen Dir im Grabe zu: Ruhe sanfte, sanfte ruh'!" Diesen Schlusschor aus der Matthäus-Passion von Bach spielte die Organistin in der Krypta auf einem uralten Harmonium, als die Seelenmesse für meinen Vater endete. Ich habe nach dem Krieg noch oft die Matthäus Passion gehört, doch niemals, ohne dabei an die erschütternde Stunde zu denken, in der uns sein Tod bewusst wurde.

Neubeginn

Nach Kriegsende begann für meine Mutter die große Aufgabe, das, was sie und ihr Mann sich für ihre Familie gemeinsam erträumt und vorgenommen hatten, allein fortzusetzen. Mein Bruder Klaus kehrte drei Jahre nach Kriegsende aus Russland zurück. Meine Mutter musste jetzt ihre sieben Kinder allein erziehen und wir waren keine einfachen Kinder. Da wir keine offizielle Todesnachricht erhalten hatten, bezog meine Mutter auch keine Rente. Wir vermieteten das elterliche Schlafzimmer an Gäste. Alle Kinder schrieben Adressen für die Zeitungswerbung der ersten Kölner Zeitung, für 2 Pfennig pro Brief. Wir Mädchen nähten Gummihöschen im Auftrag einer im Hinterhof entstandenen kleinen Firma. Während die Witwe Freisler schon monatlich ihre beachtliche Pension einstrich, musste meine Mutter noch jahrelang unter erniedrigenden Umständen um ihre Rente kämpfen.

Aber nie hat diese starke und aufrechte Frau den Weg ihres Mannes kritisiert, nie sich verraten oder im Stich gelassen gefühlt. Alles Gute, das uns widerfuhr, schrieb sie meinem Vater zu. Wenn Freunde und gute Menschen uns in der Hungerzeit nach dem Krieg mit Lebensmitteln und Geld halfen, wenn diese uns Kindern bei der Schul und Stellensuche behilflich waren, nannte die Mutter sie "Werkzeuge des Vaters". "Der Vater hilft uns wieder", sagte sie dann immer.

Als Jugendliche diskutierten wir nach Kriegsende oft und gern. Zu lange war uns der Mund verboten worden. Ein beliebtes Thema war: Darf ein Vater von sieben Kindern sich so weit vorwagen? Ihre Antwort: "Er wäre innerlich gestorben, wenn er sein Leben und seinen Glauben nicht hätte leben können, und das wäre für ihn genauso ein Tod gewesen wie der körperliche Tod." Die Gedenktage ihres Mannes (den Todestag am 23. Januar und den 20. Juli), die vielen Einweihungen und Namensverleihungen beging sie mit Stärke und Würde.

Wenn am 7. Oktober 2001 bei der Seligsprechung von Nikolaus Groß der Name meines Vaters der Christenheit auf dem Petersplatz verkündet wird, bin ich nicht nur stolz auf meinen Vater, dann bin ich stolz auf meine Eltern!


Anhang

Der Vortrag wurde erstmals im September 2001 vor Mitgliedern der St. Agnes Gemeinde in Köln gehalten. Zum schnelleren Verständnis folgende kleine Hilfen:

Katechismusstunden: Unterricht zur katholischen Glaubenslehre

Christenlehre: Unterricht zur katholischen Glaubenslehre, der nicht im Rahmen der Religionsstunden in der Schule, sondern üblicherweise am Sonntagnachmittag in der Kirche erteilt wurde.

HJ: Hitlerjugend, nationalsozialistische Jugendorganisation

BDM: Bund Deutscher Mädel, Unterorganisation der HJ

NS: Abk. für nationalsozialistische

Jud Süß:

  1. hasserfüllter, entstellender Propagandafilm
  2. Roman von Lion Feuchtwanger über das Leben von "Jud Süß" Oppenheimer, Geheimer Finanzrat des Herzogs von Württemberg (inhaltlich nicht mit Film identisch!)

Bansin: Ort auf der Insel Usedom, Ostsee

Gestapo: Geheime Staatspolizei

EL DE Haus: Gestapozentrale in der Elisenstraße, heute NS Dokumentations-zentrum der Stadt Köln

Ravensbrück: Konzentrationslager für Frauen, Bezirk Potsdam

Drögen: Polizeikaserne, Ort der Verhöre der (indirekt) Beteiligten am Attentat auf Hitler vom 20. Juli durch die Gestapo

Bernhard Letterhaus: Verbandssekretär der KAB, Mitglied des Preußischen Landtages, Hauptmann im Oberkommando der Wehrmacht, Abt. Abwehr, Mitglied des Kölner Widerstandskreises und Verbindungsmann zu Berliner Widerstands-kreisen, hingerichtet

Prälat Dr. Otto Müller: Verbandspräses der KAB

Domkapitular Schulte: Domkapitular in Paderborn

Alfred Delp: Katholischer Theologe, Jesuit, Mitglied im Kreisauer Kreis der Widerstandsbewegung, hingerichtet

Graf Moltke, Helmuth James: Gründer des Kreisauer Kreises, hingerichtet

Eugen Gerstenmaier: Theologe, Mitglied der Bekennenden Kirche, Bundestagspräsident 1954 1969

Roland Freisler: Präsident des Volksgerichtshofes, am 3.2.1945 bei einem Bombenangriff umgekommen

Plötzensee: Gefängnis und Hinrichtungsstätte in Berlin

Exequien: Heilige Messe für einen Verstorbenen


Es handelt sich um eine Überarbeitung des Vortrags, den die Autorin aus Anlass der Seligsprechung ihres Vaters gehalten hat.


Klicken Sie für mehr zu diesem Thema Zur Zeittafel Elisabeth Groß

[Zurück]