24.09.2023:

Hellwach für Menschenwürde und Gerechtigkeit

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Nikolaus-Groß-Gedenken der KAB in Xanten 2023

von Stefan-Bernhard Eirich

Bei jedem Gang zu meinem Arbeitsplatz im Kettelerhaus schaut er mich immer wieder durchdringend an: Nikolaus Groß. Und häufig wird mir dann für einen Augenblick lang bewusst, dass ich jetzt seine Wirkungsstätte betrete - die Verbandszentrale der KAB, wo ich nun mehr als 90 Jahre nach ihm arbeiten darf. Hier mitten im Kölner Agnesviertel zeichnete Groß für die "Westdeutsche Arbeiterzeitung" verantwortlich. Wie kein zweiter hat er dieses wichtige Printmedium der Weimarer Republik geprägt, das Mitte der 20er Jahre eine Auflage von 170.000 und im Jahr vor Hitlers "Machtergreifung" immer noch beeindruckende 145.000 Exemplare erreicht hatte. Obwohl er kein gelernter Journalist war gelang es Groß vortrefflich, den katholischen Arbeitern bzw. Arbeiterinnen und ihren Familien über mehr als ein Jahrzehnt politische und geistliche Orientierung in vielen Fragen der Gesellschaft und der Arbeitswelt zu vermitteln. Für ihn stand dabei außer Frage, dass soziale Aufgaben und eine bodenständige Spiritualität auf das engste zusammenhingen.

Frühe Warnung vor "politischer Unreife"

Groß sieht seine Zeit und Welt mit den Augen eines ebenso tiefgläubigen wie hellwachen Menschen. So verwundert es nicht, dass er sich recht bald ein klares Urteil über den heraufziehenden Nationalsozialismus bildet. Ihm geht es in Anlehnung an sein Vorbild, den "Arbeiterbischof" von Ketteler um die Bildung und Entwicklung von Gesinnung und Gewissen der Arbeiter und Arbeiterinnen. Nur so kann der Aufbau einer Gesellschaft gelingen, in der die Achtung der Menschenwürde und die Wertschätzung der Arbeit eine zentrale Rolle spielen. Die Realität der späten 1920er Jahre ist davon weit entfernt! Groß zeigt sich betroffen angesichts der ersten großen Kommunalwahlerfolgen der Nationalsozialisten und beklagt die weitverbreitete "politische Unreife" in der deutschen Gesellschaft. Er ist tief besorgt über den hier zutage tretenden Mangel an Urteilsfähigkeit. Wenig später, im Jahr 1930, kennzeichnet er die Nazis als "Todfeinde des heutigen Staates". Ausdrücklich hält er fest: "Wir lehnen als katholische Arbeiter den Nationalsozialismus nicht nur aus politischen und wirtschaftlichen Gründen, sondern entscheidend auch aus unserer religiösen und kulturellen Haltung entschieden und eindeutig ab."

Populistisch einfache Antworten auf komplexe Gesellschaftsfragen

Wie würde Groß die gegenwärtige politische Lage in Deutschland beurteilen und was würde er uns, sprich seinem Verband heute ins Stammbuch schreiben? Eine Predigt ist sicherlich nicht der geeignete Ort für ausführliche politische Analysen. So wollen wir einfach auf das hören, was Groß uns Heutigen zu sagen hätte. Vielleicht dies:

"Seid in eurer von permanenten Krisen und inflationärer Gewaltanwendung geprägten Gegenwart hellwach für die grassierende Infragestellung der Würde des Menschen und den Wert seiner Arbeit!" Unsere Rückfrage an ihn: Wofür genau sollen wir denn wie Du aufmerksam sein, wo sollen wir wie Du Alarm schlagen und wem bzw. was sollen wir uns, weil wir ein christlicher Verband sind, entgegenstellen? Möglicherweise würde Groß antworten: "Wenn ihr genau hinschaut, dann seht ihr, wie der Druck auf eure Gesellschaft und das demokratische Zusammenleben in ihr immer mehr wächst. Von außen geschieht das durch Autokraten und totalitäre Regime, die Krieg und Gewalt wie selbstverständlich für die Durchsetzung ihrer Interessen weltweit anwenden. Im Inneren wächst bei euch der Druck durch jene, die ähnlich wie in meiner Zeit auf die schwierigen Fragen eurer unüberschaubar komplizierten Gegenwart verlockend einfache und bequeme Antworten anbieten. Aber diese simplen Antworten haben einen hohen Preis. Sie ziehen ihre Attraktivität aus der Zermürbung des Vertrauens in die Demokratie. Denn in einer Atmosphäre wachsender Gewalt setzen sie unverblümt auf das Recht des Stärkeren und gleichzeitig auf die zersetzende Kraft der Gleichgültigkeit der überforderten Massen." Die Stärke des Rechts und nicht das Recht des Stärkeren Und er würde uns zugleich ermutigen und ermahnen: "Eure Demokratie lebt mehr als 'meine' Weimarer Republik davon, dass nach wie vor viele Menschen für die Werte eintreten, die unter anderem in eurem Grundgesetz beschrieben sind. Es geht im Kern immer um die Stärke des Rechts und nicht um das Recht des Stärkeren. So unterscheiden sich grundlegend Zivilisation und Barbarei. Es ist eure Generation und teilweise die eurer Eltern, der die Demokratie und die Chancen einer freien Welt neu geschenkt wurden. Steht für sie ein!"

Kein Wir ohne Ihr

Groß kennt die verführerische Sehnsucht nach den haltgebenden Gewissheiten vergangener Zeiten, die plötzlich nicht mehr gelten. Es scheint auch in einem der Gegenwart verpflichteten Verband der KAB legitim, nach überkommenen Werten Ausschau zu halten. Dies umso mehr, als wir eine nachgerade permanente Infragestellung und Umbewertung fast aller Werte erleben. In der Tat: Aus der Kraft der Erinnerung wächst immer auch eine neue Stärke für die Jetztzeit. Aber unser Verband muss sich dort eindeutig verweigern, wo in der Vergangenheit eine Gemeinschaft und ein "Wir" ausgegraben werden, das es so nie und nimmer gegeben hat. Ein "Wir" auf Kosten derer, die nicht zu diesem 'Wir' gehören sollen. Für uns muss gelten: Kein Wir ohne Ihr! Steht für die Hoffnung und nicht die Angst in eurer Gesellschaft! Ganz sicher wäre es Groß noch wichtig, uns zwei hilfreiche Mahnungen für unseren heutigen Weg als Verband mitzugeben: "Erstens. Als KAB steht ihr nicht für die Angst, sondern für die Hoffnung in eurer Gesellschaft. Euer Einsatz für das Zusammenleben der Menschen, ihre Würde und Arbeit gründet schließlich im Vertrauen auf einen Gott, der nicht Angst und Schrecken verbreitet, sondern Zuversicht: die Zuversicht, dass bei der Lösung der Probleme eurer Zeit keine Weltuntergangsstimmung oder die Verbissenheit der Generation kurz vor dem vermeintlichen Weltuntergang um sich greifen muss und darf. Geht in Ruhe und mit ernsthafter Gelassenheit die Probleme eurer Gesellschaft an. Und begegnet allen Menschen mit ihren Nöten und Sorgen, wirklich allen Menschen, mit Respekt. Gerechtigkeit im Sinn von Solidarität und Mitgefühl

Zweitens. Es genügt nicht, mit Gewerkschaften und anderen passenden Partnern für eine bessere Gesellschaft aufzutreten und zu wirken. Euch muss es um eine größere Gerechtigkeit gehen! Ihr findet sie im heutigen Tagesevangelium, der Geschichte von den Arbeitern im Weinberg, beschrieben. Gottes Gerechtigkeit durchbricht diesen Zusammenhang von Leistung und Lohn durch den Blick der Güte. Die Güte schaut nicht in die Vergangenheit und fragt: 'Was hast du geleistet?' Sie blickt in die Zukunft und erkundigt sich ohne Ansehen der Person danach: "Was brauchst du zum Leben?' Stemmt euch daher mit aller Macht gegen die Entsolidarisierung in eurer Gesellschaft! Wehrt euch dagegen, wenn Menschen in ihrer unterschiedlichen Bedürftigkeit gegeneinander ausgespielt. Denn in diesem unwürdigen Spiel hat der verloren, der sich nicht wehren kann."

Kurzum, wenn man uns als KAB daran erkennt, dass wir für die Gerechtigkeit im Sinn der Solidarität und des Mitgefühls eintreten, dann haben wir alles richtig gemacht. Und ich kann weiterhin dem fragenden Blick von Nikolaus Groß am Haupteingang des Kettelerhauses standhalten.

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

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