23. Januar 2012:

Predigt von Weihbischof Franz Vorrath

Wer ist groß?

"Zu oberst steht die Forderung, dass man Gott mehr gehorchen muss als den Menschen"

(Nikolaus Groß)

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Weihbischof Franz Vorrath

Predigt beim Pontifikalamt am Gedenktag des seligen Nikolaus Groß, Hoher Dom zu Essen
Montag, 23. Januar 2012, 17:30 Uhr

Schrifttexte: Lesung: Röm 12, 9 - 16b; Evangelium: Mt 7, 21 - 27

Liebe Schwestern und Brüder,

wer ist groß?

Auf diese ungewöhnliche Frage stießen die Mitarbeiter des Bischöflichen Generalvikariates, als sie sich mit Nikolaus Groß beschäftigten.

Wer ist groß?

Diese scheinbar banale Frage hat vor dem Hintergrund des heutigen Gedenktages einen besonderen Klang. Denn spätestens seit der Seligsprechung von Nikolaus Groß am 07. Oktober 2001 in Rom scheint diese Frage ja nahezu lückenlos geklärt zu sein. Alles, was historisch zu seiner Person, zu seinen familiären und beruflichen Hintergründen, zu seinem Kampf gegen das nationalsozialistische Regime herauszufinden war, ist auch herausgefunden und ans Licht gefördert worden. Bücher wurden geschrieben, Filme gedreht, Skulpturen geschaffen, Oratorien komponiert, ja sein Leben ist selbst als Abiturfrage im Fach Geschichte behandelt worden. Doch die Frage mit ihrer seltsamen Doppeldeutigkeit bleibt. Denn was macht Nikolaus Groß so groß? Was macht einen Menschen wirklich zu einem Großen? Kurzum: Wer ist groß?

Die Neigung vieler Menschen, groß sein zu wollen, ist nun wahrlich nicht neu. Von jeher wollten Menschen schon stark sein, mächtig, bewundernswert. In jedem von uns steckt eine Neigung, mehr als andere zu erreichen, größer, einflussreicher zu sein. "Wenn ich einmal groß bin" - so sagen es schon die Kleinsten, dann werde ich dies und jenes tun. Ein alter Menschheitstraum, wie es scheint.

Doch, liebe Schwestern und Brüder,

auf der anderen Seite hat uns die Geschichte der vergangenen Jahrzehnte oft vor Augen geführt, wie schnell es mit der vermeintlichen Größe zu Ende sein kann.

Wir Deutsche haben erlebt, wie der nahezu allmächtige, selbsternannte "Führer" zu einer nahezu göttlichen Übermacht gelangte und anschließend zu Fall gebracht wurde.

Als der Eiserne Vorhang des Ostblocks fiel, sah die ganze Weltöffentlichkeit zu, wie die Machthaber ganzer Nationen, scheinbar unverrückbare, unangefochtene Staatsoberhäupter einer nach dem anderen von ihren eigenen Völkern zum Teufel gejagt wurden. Diejenigen, denen gestern noch Scharen von Untertanen huldigten, Gestalten, denen nahezu Erlöserqualitäten zugeschrieben wurden, endeten jämmerlich. Dem einstigen rumänischen Führer-Titan Nicolae Ceausescu schrieb man gottähnliche Eigenschaften zu. Er wurde als "Geliebter Führer", "Koryphäe der Wissenschaften", "bester Freund der Kinder", "heiß geliebter Sohn der Nation" tituliert und verklärt. Sein Ende ist uns allen bekannt.

Es ist auffällig, wie oft sich diese Geschichte wiederholt. Bis in die jüngste Zeit hinein erlebten und erleben wir, wie die uneingeschränkten Herrscher, vor denen gestern noch ganze Völker zitterten, heute aus der Hand der eigenen Landsleute einen schmachvollen Tod finden.

Manchmal mag man sich verwundert die Augen reiben, wie schnell Gestalten, um die herum ein regelrechter Personenkult betrieben wurde, von der Bildfläche verschwinden. Gerade die Ereignisse des vergangenen Jahres 2011, wie sie sich in dem so genannten "Arabischen Frühling" abgespielt haben, belegen es abermals. Dinge, die niemand für möglich gehalten hätte, ereignen sich inmitten der medialen Aufmerksamkeit. Einem Flächenbrand gleich erheben sich ganze Völker. Ungeahnte Kräfte zeigen sich gerade dort, wo man sonst nur Gehorsam und treue Gefolgschaft gekannt hatte. So endeten illustre Führer ganzer Nationen, Menschen von scheinbar ungeahnter Größe, unwürdig und schmachvoll. Einer von ihnen war der libysche Herrscher Muammar Gaddafi, dessen Nähe auch so mancher westliche Politiker suchte. Erst nach und nach erfuhren auch hier ganze Nationen, in welch einem unmäßigen Luxus diese Herrscher und ihre Familienclans lebten. Den krassen Widerspruch ihrer Lebensführung zu der Not ihrer Untertanen begreift so Mancher erst im Nachhinein.

Liebe Schwestern und Brüder,

lange Zeit galt es als eine Art Naturgesetz der sozialen Welt, dass Massen immer einen Anführer, einen Kopf und einen Wegweiser brauchen. Die Regung dazu ist uns hier in Deutschland nicht unbekannt. Viele sehnen sich auch heute noch nach einem Großen, nach einer Lichtgestalt, die mit starker Hand führt, durchgreift und eine ersehnte Ordnung (wieder)herstellt. Führerqualitäten müsste er haben. Mit klaren Ansagen die Richtung vorgeben und "basta!" sagen, wenn das Gewirr der Stimmen übermächtig wird. Lange Zeit nahm man an, eine Masse lasse sich nur über den Willen eines Einzelnen steuern und führen. Als der amerikanische Präsident Barack Obama vor einigen Jahren zur Wahl anstand, hatten viele nicht nur in den USA den Eindruck, die ersehnte Erlösergestalt gefunden zu haben. Doch nun scheint sich auch dort ein gewisser Überdruss einzustellen. Die Realpolitik stutzte auch ihn, den einstigen Politmessias auf ein menschliches Format.

Doch gerade in Anbetracht der Geschehnisse des letzten Jahres wie sie sich insbesondere im Arabischen Frühling abgespielt haben und bis heute abspielen, fällt eine Tatsache ins Auge: All die Massenproteste, all diese epochalen Umwälzungen haben sich - wie es scheint - ohne Führer abgespielt. Selbst das bei der Erkennung und Benennung von Lichtgestallten sonst so treffsichere amerikanische Magazin "Time", das viele Jahre die "Person des Jahres" kürte, erkannte es. Das Magazin durchbricht deshalb die eigene Tradition. Denn anders als in den Jahren zuvor, prangte auf der Titelseite des letzten Magazins diesmal keine bekannte und erkennbare große Gestalt. Waren es in den Jahren zuvor Menschen wie Michail Gorbatschow, Papst Johannes Paul II, Barack Obama oder Wladimir Putin, so ist es in diesem Jahr ein anonymes Gesicht eines unbekannten "Protestierers".

Damit folgt das Magazin einer bei näherem Hinsehen weit verbreiteten Entwicklung: Die sonst in den Medien gebräuchliche Personalisierung von Inhalten lässt sich vielerorts gar nicht mehr ausmachen. Proteste und Bewegungen kommen heute vielfach ohne das Gesicht der Szene aus. Eine wegweisende Entwicklung scheint sich hier abzuspielen.

Denn die Fokussierung von Protesten von so mancher gesellschaftlicher und politischer Bewegung auf einen Anführer findet heute kaum noch statt. Damit wird so manches gewohnte Bild unserer politischen Kultur neu geprägt. Denn die Komplexität unserer Welt und deren Probleme werden größer und undurchschaubarer. Dagegen erlauben die neuen sozialen Medien eine beispiellos schnelle Vernetzung und Mobilisierung der aktiven Kräfte. Wohlgemerkt in positiver wie negativer Hinsicht. Was sich in so manchem Volk abspielt, äußert sich nicht unbedingt durch einen charakteristischen Repräsentanten oder Sprecher. Damit müssen sich auch unsere Aufmerksamkeit und die Bewertung von so manchen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen ändern, die sich vor unserer Haustür vollziehen.

Braune Gesinnung, um nur ein Beispiel zu nennen, kommt führerlos daher und entfaltet trotzdem verheerende Konsequenzen. Die unfassbare Mordserie eines völlig unbekannten Neonazitrios, wie sie unsere Öffentlichkeit kürzlich erschütterte, ist dafür ein beredtes Beispiel. Solche schleichenden Entwicklungen müssen deshalb als eine Art gesellschaftlicher Warnglocke verstanden werden. Unser Fokus darf nicht mehr lediglich auf gesellschaftlich relevante Führungspersönlichkeiten gerichtet werden, sondern muss eine neue Sensibilität für die unbekannten Protestierer erfahren. Kurzum wir müssen vom Fern-sehen auf ein Nah-sehen umschalten. Denn wer nach ideologischen Anführern und deren medienwirksamen Auftritten Ausschau hält, der übersieht die Keime solcher Bewegungen in seinem Alltag.

Liebe Mitchristen,

wer ist groß? Der Sohn von Nikolaus Groß, Alexander, beschrieb in einem Essay 1 die Frömmigkeit seines Vaters als eine "Notwendigkeit des Standhaltens - ohne zugleich die Gewissheit eines festen Bodens unter den Füßen zu haben." Ich denke, dass wir heute in einer Welt leben, in der eine solche Haltung mehr denn je gefragt ist. Die Notwendigkeit des Standhaltens ist sowohl gegenüber charismatisch-demagogischen Einzelpersönlichkeiten als auch gegen euphorisierte Massen gefordert.

Nikolaus Groß hat es geahnt. Er gehörte zu den Aufmerksamen seiner Zeit. Diese Aufmerksamkeit auf die Zeichen der Zeit hin ist sein bleibendes Vermächtnis. Denn für ihn war der Glaube mehr als eine bloße Befolgung von Traditionen und Ritualen. Er wusste, dass man in den Wogen des Lebens mitgerissen und untergehen kann, wenn man sich nach dem orientiert, was andere gerade für groß halten. Eines war für ihn klar, die Zeichen der Zeit wahrzunehmen und zu deuten. In der jeweiligen Wirklichkeit die Stimme Gottes herauszuhören, begriff er als seine Pflicht als Christ. Es war seine feste Überzeugung, dass der Mensch darüber hinaus in seinem eigenen persönlichen Leben eine Antwort auf den in der Welt empfangenen Ruf Gottes geben muss.

Nikolaus Groß lebte in der unerschütterlichen Gewissheit, dass Gott einem betenden und suchenden Menschen eine solche Antwort auch geben wird. Eine Antwort, die er in seiner jeweiligen Wirklichkeit finden kann. Diese Antwort, auch darüber war er sich klar, wurde einem nicht in den Schoß gelegt, sondern musste immer wieder neu gesucht, erbetet und erarbeitet werden. Nichts und niemand kann einem Glaubenden diese Antwort abnehmen. Nikolaus Groß hat seine Antwort gegeben. Er war sich seines Weges gewiss. Nicht einmal die Bedrohung des eigenen Lebens konnte ihn davon abbringen.

Es gibt eine Szene aus dem Leben der Familie Groß, die mir persönlich deutlich macht, wie groß seine Hoffnung auf Gottes Begleitung und Fügung und seine Überzeugung gewesen sein muss, dass Gottes Liebe ihn und seine Familie immer begleiten wird. Für einen Essener Kalender setzte man dies in Szene: Eine Mutter, die die Frau des Seligen darstellt, hält einen Brief von ihrem Mann in der Hand. Um sie herum die Kinder, die still den Worten des Briefes zuhören. Im Hintergrund ist die vom Vater selbst gebastelte Krippe zu sehen. Es läuft einem kalt den Rücken herunter, wenn man weiß, wo sich der Vater und Autor dieses Briefes gerade befindet: Im Gefängnis der Gestapo, auf seine Hinrichtung wartend.

Und in diesem seinen letzten Brief finden sich die Sätze: "Mit inniger Liebe und tiefer Dankbarkeit denke ich an Euch zurück. Wie gut ist doch Gott und wie reich hat er mein Leben gemacht. Er gab mir seine Liebe und Gnade, und er gab mir eine herzensliebe Frau und gute Kinder. Bin ich ihm und Euch dafür nicht lebenslangen Dank schuldig? Habt Dank Ihr Lieben, für alles, was Ihr mir erwiesen."

Liebe Schwestern und Brüder,

wer ist groß? So lautete die Frage, die wir uns am Anfang stellten. Groß ist, wer nicht seine eigene Größe sucht. Groß ist, der sich nicht bloß nach den Erfolgschancen seines Lebens orientiert, sondern mit seinem Leben eine Antwort auf Gottes Ruf zu geben versucht.

Nikolaus Groß brachte diese Forderung einst auf eine Formel, die ihn, Nikolaus Groß, groß machte. Diese Formulierung lautet:

"Zu oberst steht die Forderung, dass man Gott mehr gehorchen muss als den Menschen. Wenn von uns etwas verlangt wird, was gegen Gott oder den Glauben geht, dann dürfen wir nicht nur, sondern müssen (wir) den Gehorsam ablehnen"

Wer ist groß? Die Formulierung, die Nikolaus Groß geprägt hat, gilt auch für uns heute:

"Zu oberst steht die Forderung, dass man Gott mehr gehorchen muss als den Menschen."

 

Röm 12, 9 - 16 b

9 Eure Liebe sei ohne Heuchelei. Verabscheut das Böse, haltet fest am Guten! 10 Seid einander in brüderlicher Liebe zugetan, übertrefft euch in gegenseitiger Achtung! 11 Lasst nicht nach in eurem Eifer, lasst euch vom Geist entflammen und dient dem Herrn! 12 Seid fröhlich in der Hoffnung, geduldig in der Bedrängnis, beharrlich im Gebet! 13 Helft den Heiligen, wenn sie in Not sind; gewährt jederzeit Gastfreundschaft! 14 Segnet eure Verfolger; segnet sie, verflucht sie nicht! 15 Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden! 16 Seid untereinander eines Sinnes; strebt nicht hoch hinaus, sondern bleibt demütig! Haltet euch nicht selbst für weise!

Mt 7, 21 - 27

21 Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr! Herr!, wird in das Himmelreich kommen, sondern nur, wer den Willen meines Vaters im Himmel erfüllt. 22 Viele werden an jenem Tag zu mir sagen: Herr, Herr, sind wir nicht in deinem Namen als Propheten aufgetreten und haben wir nicht mit deinem Namen Dämonen ausgetrieben und mit deinem Namen viele Wunder vollbracht? 23 Dann werde ich ihnen antworten: Ich kenne euch nicht. Weg von mir, ihr Übertreter des Gesetzes!

24 Wer diese meine Worte hört und danach handelt, ist wie ein kluger Mann, der sein Haus auf Fels baute. 25 Als nun ein Wolkenbruch kam und die Wassermassen heranfluteten, als die Stürme tobten und an dem Haus rüttelten, da stürzte es nicht ein; denn es war auf Fels gebaut. 26 Wer aber meine Worte hört und nicht danach handelt, ist wie ein unvernünftiger Mann, der sein Haus auf Sand baute. 27 Als nun ein Wolkenbruch kam und die Wassermassen heranfluteten, als die Stürme tobten und an dem Haus rüttelten, da stürzte es ein und wurde völlig zerstört.


1) Nikolaus Groß: Politischer Journalist und Katholik im Widerstand des Kölner Kreises. (S. 24)

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