23. Januar 2011:

Neujahrsempfang der Katholischen Kirche

Rede von Oberbürgermeisterin Dagmar Mühlenfeld

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Thema: Verantwortung für die Stadt

Wie Sie sich sicher vorstellen können, macht es mir große Freude, heute über Verantwortung für unsere Stadt zu Ihnen sprechen zu dürfen.

Denn - kann es überhaupt ein schöneres Thema für einen direkt gewählten Oberbürgermeister bzw. für eine wiedergewählte Oberbürgermeisterin zu Beginn eines neuen Jahres geben?

Die Urwahl - oder Direktwahl - begründet schließlich ein besonderes Verhältnis zwischen Wählerschaft und Gewähltem. Die Mülheimer Bürger und Bürgerinnen haben mir Verantwortung auf Zeit übertragen - und gleichzeitig ihre damit verbundenen Erwartungen an mich als Amtsinhaberin formuliert.

Dazu gehört der wichtige Auftrag, Repräsentantin für alle MülheimerInnen zu sein, gerade auch für die, deren Wählerauftrag ich nicht bekommen habe... Und natürlich gehört dazu die Verpflichtung zum ständigen Austausch, zur Begegnung mit allen Teilen der Bürgerschaft, auch zum Einbringen von Impulsen und Ideen für die Stadt, und ganz wichtig - zur Weitergabe dessen, was die Menschen bewegt und sie mir mitteilen – und dazu gehört, dass ich diese wichtigen Informationen in den politischen Prozess einspeise.

Verantwortung für unsere Stadt, das ist ein Thema, über das ich – wie viele andere auch - ständig nachdenke und das ich mit vielen Menschen auch regelmäßig diskutiere. Manch einer von Ihnen wird deshalb vielleicht im Verlauf meines Referats die eine oder andere Aussage bzw. Formulierung finden, die er im Verlauf der zurückliegenden 7 Jahre schon einmal von mir gehört hat.

Aber jetzt will ich Ihnen zunächst einen kleinen Ausblick auf mein Vorhaben heute Morgen geben.

Sowohl der Begriff der Verantwortung als auch der der Stadt lohnen ein kurzes genaueres Nachspüren. Ich will Sie deshalb zu kleinen Gedankenausflügen einladen. Diese werden uns in die Vergangenheit führen. Ich will aber auch eine Einordnung der aktuelle Situation in unserer Stadt versuchen. Und dann will ich Ihnen natürlich auch das Angebot eines Zukunftsausblicks machen.

wie entsteht eine Stadt? Was bei Ihnen jetzt zunächst akustisch als Frage ankommt, ist die erste Zeile eines Zitats, das wir Friedrich Hebbel zuschreiben dürfen. „Wie entsteht eine Stadt? Dadurch, dass jeder ein Haus baut.“ So lautet es vollständig.

Jeder steht da ausdrücklich. Das heißt, die Verantwortung für das Entstehen und Wachsen einer Stadt ist eine gemeinsame Aufgabe und eine gemeinsam zu tragende Last aller EinwohnerInnen, damit am Ende auch jeder die Früchte der Anstrengung genießen kann.

Das 21. Jahrhundert wird von WissenschaftlerInnen als das entscheidende Zeitalter für die Städte auf unserem Planeten bezeichnet. In den Städten werde sich die Zukunftsfähigkeit der Menschheit entscheiden, sagen Experten. Von welcher Bedeutung die Städte sind, lässt sich nicht zuletzt an der Tatsache ablesen, dass 2010 erstmals weltweit 50 % der Erdbewohner in Städten lebten und dass es bis 2030/2040 75 bis 80% sein werden.

Und sofort stehen vor unseren gedanklichen Augen nicht nur die großen glitzernden Metropolen, deren Attraktivität unbestritten ist. Wir sehen auch die urbanen Moloche in den Ländern der Dritten Welt. Für uns - gerade in den letztgenannten Fällen – unvorstellbar, sind auch solche Städte weiterhin Orte von mehr Chancen, von mehr Überlebens- und Aufstiegsmöglichkeiten, von mehr Sicherheit, als sie die ländlichen Regionen bieten können. Deshalb wird der weltweite Verstädterungsprozess ungebremst fortschreiten.

Die Geschichte der Städte, und besonders der z.T. Jahrtausende alten wie Babylon, Jerusalem, Athen, Rom, belegt aber eben auch, dass die Siedlungsform Stadt eben nicht nur bessere Lebenschancen und Lebensqualität für den einzelnen Einwohner, sondern dies auch für die städtische Gemeinschaft sicherstellt.

Erinnern wir uns kurz, was die Menschen veranlasst hat, diese besondere Siedlungsform zu entwickeln. Hier können die Natur- und Staatsrechts-Philosophen Thomas Hobbes und John Locke helfen. Weil der Mensch dem Menschen ein Wolf ist (Homo hominem lupus est), wird der mächtige Staat als Ausweg angestrebt.

Der sogenannte Naturzustand, in dem die Menschen sich lange befanden, war gekennzeichnet durch totale individuelle Autonomie, die nach dem Gesetz des Rechts des Stärkeren vollzogen und angewendet wurde. Pech für alle, die schwach, krank, benachteiligt waren. Und ein Zustand, der auf Dauer die menschliche Art gefährdet hätte.

Deshalb war die Überwindung des Naturzustandes ein Fortschritt, der sich im sogenannten Gesellschaftsvertrag, den die Menschen miteinander schlossen, niederschlug. Dieser Gesellschaftsvertrag bildet den Kern jeglicher Form von organisierten Gemeinschaften, zu denen Menschen sich zusammen schlossen - und schließen.

Was brachte das dem Einzelnen? Was der Gemeinschaft? Grundidee war und ist der Verzicht des einzelnen Menschen auf die Anwendung einiger seiner natürlichen individuellen Rechte, z.B. auf die Anwendung des individuellen Rechts auf Gewaltanwendung, also auf Selbstjustiz, und stattdessen die Übertragung eines Teil dieser Rechte auf das Gemeinwesen. Niedergelegt findet sich dies in Verfassungen unterschiedlicher Gestalt, manchmal erkämpft, manchmal gewährt, manchmal auch gemeinsam erarbeitet.

Auf diese Weise konnte Rechtssicherheit entstehen, die Schwachen geschützt und damit die Überlebensfähigkeit und Zukunft der Gemeinschaft gesichert werden.

Und natürlich ist die Bergpredigt nichts anderes als die christliche Antwort auf die Feststellung, dass der Menschen dem Menschen von Natur aus ein Wolf sei!

Warum sich die neu gegründeten Gemeinwesen nun vorrangig in der Siedlungsform Stadt realisierten, lässt sich am besten verstehen, wenn man die Zentren der Städte betrachtet. Ob in der Antike oder zur Blütezeit der europäischen Stadtentwicklung - immer war die Mitte der Stadt auch das Zentrum von Macht, Herrschaft, Verwaltung und Religion. Um den mittelalterlichen Markt gruppierten sich Kirche, Rathaus Gericht, Zunft- und Gildehäuser.

Diese konstanten Funktionen prägten die Stadt, und durch deren Anordnung in der Mitte des städtischen Raumes erhielt sie ihr spezifisches städtisches Gesicht. Daneben sind alte Städte aber auch durch inhaltliche Gemeinsamkeiten ihrer Geschichte geprägt. Hervorgehoben werden muss die dauernde Veränderungsfähigkeit und –bereitschaft. Für alle Städte mit langer Siedlungstradition gilt: Stetige Erneuerung, stetiger Wandel sind besonders ausgeprägt in sehr alten Städten nachzuweisen. Sonst hätten die nämlich die hohen Erwartungen an einen attraktiven Siedlungsort nicht erfüllen und selbst nicht dauerhaft existieren können.

Wir selbst haben 2008, als wir das 200-jährige Jubiläum der Stadtrechtsverleihung an Mülheim gefeiert haben, einen Eindruck davon gewinnen können, wie kontinuierlich, z.T. rasant, sich unsere Stadt in nur zwei Jahrhunderten immer wieder an die veränderten gesellschaftlichen, geopolitischen und wirtschaftlichen Veränderungen der Region anpassen musste. Gut, dass es so geschehen konnte. Gut, dass weitsichtige und vorausschauende Entscheidungsträger in Wirtschaft, Verwaltung und Politik immer über den Tag hinaus gedacht und geplant haben... Sonst stünden wir in Mülheim nicht so gut dar, wären wir nicht seit Jahren der stärkste Wirtschafts- und begehrtester Wohnstandort in der Metropole Ruhr.

Dass stetige Veränderung ein Grundbestandteil menschlicher Existenz ist, wissen wir alle und erleben es täglich. Im privaten und individuellen Bereich ist das geradezu selbstverständlich, vielleicht sogar trendy oder chic. Jedenfalls wird es akzeptiert, und man stellt sich und sein Leben darauf ein.

Ganz anders sieht das aus, wenn es um die Entwicklung unseres Gemeinwesens geht. Also um die Notwendigkeit zu Veränderungen in unserem Land, in unseren Städten und Gemeinden und auch in Mülheim. Dann werden stetiger Entwicklungsbedarf und auch die Notwendigkeit zu Veränderung und Weiterentwicklung bestehender Strukturen immer öfter einfach geleugnet - oder gar als Bedrohung empfunden und bekämpft.

Erinnern wir uns noch einmal kurz: „Wie entsteht eine Stadt? Dadurch, dass jeder ein Haus baut!“ Also, indem jeder Verantwortung übernimmt, weil jeder sich verpflichtet fühlt, etwas Dauerhaftes zu schaffen und zu ermöglichen. Und vergessen wir doch bitte auch nicht: Die Zukunft zu gestalten, Schöpfung und Welt zu bewahren und hoffnungsvoll und zuversichtlich, im Vertrauen auf Gott für den Fortbestand der Menschheit weiter zu arbeiten, das ist schließlich Ausdruck unseres christlichen Menschenbildes!

Werden solche oder ähnliche Sätze von einer Kanzel herab gesagt, haben sie gute Chancen, angehört und bedacht zu werden. Dafür will ich zwei Beispiele aus dem Jahr 2008 anführen.

Erste Situation: Pfingstgottesdienst des Kirchenkreises an der Ruhr im Witthausbusch. Präses Nikolaus Schneider sprach in seiner Predigt u.a. von der Pflicht der Christen, sich angesichts der frohen Botschaft des Evangeliums zuversichtlich an der Gestaltung der Zukunft zu beteiligen.

Zweite Situation: Der Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz, der Freiburger Erzbischof Dr. Robert Zollitsch, forderte in seiner Predigt zum 50-jährigen Jubiläum des Ruhrbistums im Essener Dom von den Anwesenden, sich voller Zukunftsvertrauen der Verantwortung für morgen zu stellen und den Wandel zu gestalten.

Ich sehe Ihnen an, dass sie ahnen, was ich jetzt sagen will – und sie haben Recht:

Seit damals habe ich mich oft gefragt, wie die Reaktion von Politik und Bürgerschaft auf eine vergleichbare Aussage aus meinem Mund wohl ausgefallen wäre!

Als BürgerIn Verantwortung für unsere Stadt zu übernehmen, heißt mehr als ausschließlich Forderungen zu stellen und – wenn diese nicht erfüllt werden -die Schuld anderen zuzuweisen.

Verantwortung zunächst an Politik zu delegieren und dann postwendend bei jedem Nicht-Gefallen eines Ergebnisses sofort Unfähigkeit, Bürgerunfreundlichkeit oder gar böse Absicht zu unterstellen, ist zwar die leichteste und bequemste, aber auch am wenigsten differenzierte Umgehensweise mit Verantwortung.

Der Konflikt zwischen Egoismus und Gemeinwohl hat inzwischen die Proportionen verschoben. Das kann man z.B der neuesten Sinusstudie entnehmen. Weniger als ein Viertel der BundesbürgerInnen äußern dort den Eindruck, es gehe gerecht zu in Deutschland. Aber für 99 % steht die Forderung nach einer gerechten Gesellschaft an erster Stelle.

Dann ist doch alles in Ordnung, könnte man sagen. Erkannt haben es so gut wie alle. Jetzt setzen wir das gemeinsam um. Vorsicht, kann ich da nur sagen.

Die Vorstellung davon, was als gerecht, was als bürgernah empfunden und bescheinigt wird, ist vielfältig und sehr uneinheitlich. Nicht selten gilt als gerecht und bürgerfreundlich nur das, was der Begünstigung bzw. der Durchsetzung der eigenen Interessen dient.

Das zeigt sich zum Beispiel an Entscheidungen, die das eigene Wohngebiet, die Ansiedlung von Unternehmen und damit Arbeitsplätze, die Entwicklung der Schulstandorte, die Angebote öffentlicher Einrichtungen und natürlich auch den ÖPNV betreffen.

Der Kollege, der Münchener OB Christian Ude schrieb zum Jahreswechsel in der ZEIT, dass, wer – wie Politik – in den Augen der Öffentlichkeit sowieso bescheinigt bekomme, alles falsch zu machen und alles nicht zu können, eigentlich keine Fehler mehr machen könne. Das ist, mit Verlaub, doch eine wirklich skurile Situation.

Aber auch in Mülheim erleben wir Ähnliches täglich. Und diese Mentalität erfährt in der Regel auch die entsprechende publizistische Begleitmusik. Außen vor bleiben allerdings völlig das Abwägen, Vergleichen und das Suchen nach Kompromissen, mit denen am Ende alle einverstanden sind.

Vielleicht ist das aber auch in unserem Land besonders ausgeprägt. Schließlich stammt von Kurt Tucholsky aus den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts eine entsprechend bissige Bemerkung: Wenn in Deutschland jemand auf der Straße stolpert und hinfällt, steht er nicht sofort auf, sondern schaut erst, wen er dafür verantwortlich machen kann!

Verantwortung für unsere Stadt zu übernehmen, heißt nicht, so laut und so nachdrücklich die eigenen Interessen zum Maß aller dinge zu erklären und sie über die des Gemeinwesens insgesamt zu stellen. Hinter dem engagierten Einsatz von schnell entstehenden Initiativen aus der Bürgerschaft mit dem Ruft „Für den Stadtteil XY“ scheint zu oft und sehr schnell das „Schutz für meinen Garten/Ausblick“ durch.

Doch genug der Gegenwartsbeispiele, genug der Belege für ein gründlich zu hinterfragendes Verständnis von Verantwortung für die Stadt!

Verantwortung für unsere Stadt zu übernehmen, setzt – so sehe ich es - zunächst einmal voraus, die Wertschätzung für, ja die Liebe zu unserer Stadt, die viele Mülheimer Bürger- und Bürgerinnen immer betonen, zur Grundlage von Beurteilungen und auch Haltungen gegenüber unserem Gemeinwesen zu machen.

Dann sollte es möglich sein, ernsthafte öffentliche Debatten darüber zu führen, was als das Beste für die Stadt, als das Beste für die Zukunft Mülheims und aller hier lebenden Menschen gelten soll.

Dann sollten gemeinsame Diskussionen neue Wege zu wachsendem Verständnis von Entscheidungen aufzeigen können.

So könnten vorhandene Argumentationen angereichert oder völlig neue und wichtige Aspekte in die Prozesse eingebracht werden.

Voraussetzung dafür ist der Verzicht auf schnelle Wertung, und wir müssen anerkennen, dass unterschiedliche Interessen durchaus gleichgewichtig sein können. Dann wächst mit Blick auf das Wohl aller bestimmt auch die Bereitschaft, sich dem mühevollen Prozess des Abwägens und der Kompromisssuche zu stellen.

Für mich sieht so ein konstruktives, ein wünschenswertes Verständnis von Verantwortung für unsere Stadt aus. Denn auf diese Weise – und auch das ist mir sehr wichtig -werden Betroffene zu Beteiligten.

Und es lohnt sich, meine Herren und Damen, denn es geht in den vor uns liegenden Jahren um nicht weniger und nicht mehr als Mülheims Zukunft. Die Stadt steht, jeder hat sein Haus gebaut. Jetzt sollte sich jeder der Verantwortung annehmen, sie auch zukunftsfest zu machen.

Ich wünsche uns und unserer Stadt für dieses Vorhaben ein erfolgreiches Jahr 2011!

(Danach mündliche Empfehlung zur Lektüre von Prof. Horst W. Opaschweski „Wir! Warum Ichlinge keine Zukunft mehr haben!“ und Zitat aus dem Vorwort, S. 14f.)


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