23. Januar 2008:

Der Selige Nikolaus Groß - Einer von uns

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Die Geschichte des Bistums Essen und das Lebenswerk seines ersten Seligen, Nikolaus Groß, sind auf vielfältige Weise miteinander verbunden, auch wenn Nikolaus Groß 60 Jahre vor der Gründung des Bistums im Jahre 1898 geboren wurde.

Am 23. Januar 1945 wurde er von den nationalsozialistischen Machthabern in Berlin-Plötzensee hingerichtet - im Alter von 46 Jahren. Die Gründung des Bistums, in dessen Kathedrale einmal seine Kapelle stehen sollte, hat er persönlich nicht erleben dürfen.

Der Erste Bischof von Essen - Franz Kardinal Hengsbach - hat das Band zwischen dem Ruhrbistum und Nikolaus Groß mit folgenden Worten beschrieben:

"Das Ruhrbistum hätte keinen glaubhafteren Menschen finden können, der - wie Nikolaus Groß - alle Bereiche dieser Ruhrregion abdeckt: Stahlarbeiter, Bergmann, Gewerkschaftler, Journalist, Ehemann, Familienvater und Mann des Widerstandes aus christlicher Glaubensüberzeugung. Jeder kann sich in ihm, wenn er auf Spurensuche geht, wiederfinden."

Der Brunnen am Eingang des Burgplatzes vor unserer Domkirche erinnert uns symbolhaft daran, dass sich das Wasser unserer jungen Diözese aus drei Quellen speist: Aus den Mutterbistümern Münster, Köln und Paderborn. Aus einer dieser Quellen kommt der Selige Nikolaus Groß. Als er am 30. September 1898 in Niederwenigern an der Ruhr geboren wurde, gehörte dieser Ort zur Erzdiözese Paderborn. Sein Weg im Dienste der katholischen Arbeiterbewegung führte ihn u.a. über Essen, Bottrop bis nach Köln, wo er als Chefredakteur der Westdeutschen Arbeiterzeitung wirkte. In seiner Biographie und in seinem Erbe sind die Einzelregionen der Mutterbistümer und unser neues Bistum Essen unauflöslich miteinander verbunden. So ist Nikolaus Groß einer der geistigen Väter des Ruhrbistums.

Noch wichtiger als der regionale Kontext seines Lebensumfeldes sind die vielfältigen Möglichkeiten der Menschen im Ruhrgebiet, sich mit ihm und seiner Lebensbiographie zu identifizieren. Nikolaus Groß war ein Bergmann, der seine Lebensaufgabe darin sah, sich in Kirche und Gesellschaft für die Interessen aller Arbeiter einzusetzen. Seine Leitbilder waren sein christlicher Glaube und die Prinzipien der Katholische Soziallehre: Solidarität, Subsidiarität und Personalität. Dazu bildete er sich fort und wurde zum Gewerkschaftssekretär, dann mit nur 29 Jahren zum Chefredakteur einer großen Arbeiterzeitung. Unbeirrbar und mit einer aus heutiger Perspektive geradezu unglaublichen Zivilcourage verteidigte er die demokratische Republik von Weimar und die christlichen Grundwerte gegen die totalitären Bewegungen seiner Zeit. Gemeinsam mit seiner Ehefrau Elisabeth und mit seinen 7 Kindern wurde er in den 12 Jahren des Nationalsozialismus geächtet und verfolgt.

Durch den Angriff des Nationalsozialismus auf seine christlichen Glaubensüberzeugungen wurde er als liebender Vater einer großen Familie in einen Gewissenskonflikt gestellt, der ihn an den Galgen von Plötzensee führte. Im Gebet fand er die Kraft für die letzten Stunden im Gefängnis.

Am Tage seiner Hinrichtung wurde er zum Märtyrer des Glaubens.

Das Lebenswerk des Seligen Nikolaus Groß ist von seinem tiefen Glauben und von christlichen Grundwerten geprägt: Sie galten in der Zeit vom 30. September 1898 bis zum 23. Januar 1945, wir nehmen heute an ihnen Maß, und sie werden das Bistum Essen auch in Zukunft als Auftrag begleiten: Die Solidarität mit den Menschen in dieser Region und weit darüber hinaus: Die Option für die Armen; der Mut zur politischen Aufklärung und die Bereitschaft zur lebenslangen persönlichen Weiterbildung; die Zivilcourage, zu jeder Zeit und an jedem Ort kompromisslos für die Würde des Menschen einzutreten, der entschiedene Kampf gegen die Feinde der Demokratie, der Einsatz für die Familie und für die christliche Erziehung und vor allem - und dies lag Nikolaus Groß und seiner Familie besonders am Herzen - das Gebet.

Das geistige Erbe des Seligen Nikolaus Groß ist so facettenreich und vor allem so zeitlos, dass viele Menschen im Ruhrbistum immer neue Möglichkeiten einer persönlichen Identifikation entdecken und auch in Zukunft entdecken werden: In der Katholischen Arbeiterbewegung, in den Jugend- und Frauenverbänden, in den Weiterbildungseinrichtungen, in den Pfarrgemeinden, in Schule und Unterricht.

Die Verehrung für den Seligen Nikolaus Groß beginnt nachweisbar im Oktober 1945, sie ist global und wird uns auch - davon bin ich fest überzeugt - in Zukunft begleiten, weil Nikolaus Groß in den Herzen so vieler Menschen verankert ist. Sie wurde nicht von oben verordnet, sondern sie ist von unten gewachsen: Eine "grassroots" Kultur - wie die Engländer sagen.

"Eritis mihi testes" - Ihr werdet für mich Zeugen sein: So leuchtete im Jahre 1987 die Schrift auf der Anzeigentafel des Gelsenkirchener Parkstadiums. In diesem Leitwort - das Zukunft verheißt - verbindet sich das Wappen des ersten Bischofs von Essen mit den Glaubenszeugen aus dem Ruhrbistum; damals besuchte Papst Johannes Paul II. das Ruhrgebiet; 14 Jahre später, am 07. Oktober 2001 besuchte das Ruhrgebiet - an seiner Spitze der Zweite Bischof des Ruhrbistums, Dr. Hubert Luthe - den Heiligen Vater: Zur Seligsprechung von Nikolaus Groß.

In dieser Zeit sind im Ruhrgebiet und weit darüber hinaus vielfältige Formen und Zeichen der Verehrung für den Seligen Nikolaus Groß entstanden: Die Namengebung von Straßen und Plätzen, Die Errichtung von Gedenktafeln und Plastiken, Kunstwerke und Lieder, die Gründung des Nikolaus-Groß-Museums in Niederwenigern, Wallfahrten, das Musical der Mülheimer Pfarrgemeinde St. Barbara, die Einrichtung einer Kapelle im Hohen Dom zu Essen, die am 10. Oktober 2004 von unserem Bischof Dr. Felix Genn eingeweiht wurde, die Namengebung des Nikolaus Groß Abendgymnasiums, die Publikation von Büchern und die Zusammenfassung aller dieser Aktivitäten auf einer Internetseite in deutscher und englischer Sprache, die das Tor zur Welt und damit zu einer globalen Verehrung eröffnet.

Wenn Nikolaus Groß diesen Beitrag lesen und auf die vielfältigen Formen der Verehrung zurückblicken könnte, dann würde er sicherlich kritisch darauf hinweisen, dass wir jemanden vergessen haben: Seine Ehefrau Elisabeth. In der Tat: Ohne die liebende Solidarität seiner Ehefrau Elisabeth ist das persönliche Glaubenszeugnis des Seligen Nikolaus Groß undenkbar. Sie stand ihm Zeit ihres Lebens treu an der Seite; sie hat seinen Weg in den Widerstand mitgetragen, und sie hat ihm vor allem in den schweren Stunden vor der Hinrichtung beigestanden. Die Erinnerung an Nikolaus und Elisabeth Groß, also an "Zwei von uns" gemeinsam zu pflegen, sollte uns Auftrag und Verpflichtung sein.

Wenn die katholischen Christen im Bistum Essen in diesem Jahr das 50jährige Jubiläum des Bistums Essen und den 110. Jahrestag des Seligen Nikolaus Groß feierlich begehen, so ist dies sicherlich ein Grund zur Dankbarkeit und zum Rückblick. Aber die Nostalgie war die Sache dieses Seligen nicht. Am Vorabend des Attentats auf Hitler, am 19. Juli 1944, sagte er zu dem Paderborner Diözesanpräses Caspar Schulte:

"Wenn wir heute nicht unser Leben einsetzen, wie sollen wir dann vor Gott und unserem Gewissen bestehen."

Diese kritische Anfrage an sich selbst und an seine Zeitgenossen ist von grundlegender zeitübergreifender Bedeutung, denn sie betrifft auch jeden von uns ganz persönlich. Wie jede Generation so werden auch wir aufgefordert und ermutigt, unsere Verantwortung für die Zukunft von Kirche und Gesellschaft wahrzunehmen - in der Prüfung unseres Gewissens und in einem gedachten Dialog mit unseren Kindern und Enkelkindern.

Die Probleme und Herausforderungen, vor denen wir als katholische Christen im Bistum Essen heute stehen, sind heute sicherlich andere als in der Zeit des Nationalsozialismus, und Menschen, die ihren persönlichen Glauben bekennen, sind - anders als der Selige Nikolaus Groß - nicht mit dem Tod bedroht.

Aber das Wort des Herrn "Eritis mihi testes" - Ihr werdet für mich Zeugen sein" gilt auch heute und in der Zukunft. Wenn wir uns an diesem Auftrag und an der mahnenden und aufrüttelnden Frage unseres Seligen Nikolaus Groß orientieren, kann das Jahr der zweifachen Erinnerung zu einer dynamischen und impulsgebenden Kraft werden - für uns und auch für unser Bistum.

Das Bistum Essen hat einen Seligen, der sich und uns unbequeme Fragen stellt. Er ermutigt uns, uns zu Jesus Christus zu bekennen und unseren Glauben an die Generation unserer Kinder und Enkelkinder weiterzugeben.

Was werden wir unseren Enkeln im Jahre 2058 sagen, wenn wir das 100. Jubiläum der Gründung unseres Bistums feiern werden? Werden wir bestehen können?

Nikolaus Groß hat in schwieriger Zeit bestanden. Er war einer von uns. Wenn wir seinem Beispiel und seiner Mahnung folgen, können auch wir selig werden.

Bernhard Nadorf, Oberstudiendirektor i.K. und Leiter des Nikolaus-Groß-Abendgymnasiums Essen


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