20. Januar 2008:

Die Bedeutung des familiären Vertrauens für ein verantwortungsvolles Miteinander - Eine zeitlose Botschaft aus dem Leben von Elisabeth und Nikolaus Groß

Festvortrag der Präsidentin des Landtags Nordrhein-Westfalen
Regina voan Dinther
zum Jahresempfang der Kath. Kirche in Mülheim a. d. Ruhr

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I.

Sehr geehrter Herr Dechant von Schwartzenberg!

Sehr geehrter Herr Cukrowski!

Verehrte Damen und Herren, liebe Schwestern und Brüder!

Sehr herzlich möchte ich mich für Ihre Einladung zum Jahresempfang der Katholischen Kirche hier in Mülheim an der Ruhr bedanken.

Ich hoffe, Sie haben gesegnete und besinnliche Weihnachtsfeiertage im Kreise Ihrer Familien und Freunde verbracht und konnten wohlbehalten das neue Jahr begrüßen.

Gemeinsam gedenken wir heute eines Mannes, der von den Nationalsozialisten zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde, weil er sich unerschrocken zu Gott bekannte und die katholische Arbeiterschaft mit Schriften wie der "Ketteler Wacht" daran teilhaben ließ.

In wenigen Tagen, am 23. Januar, liegt der Todestag dieses überzeugten Christen, dieses liebevollen Familienvaters und entschlossenen Widerstandskämpfers Nikolaus Groß 63 Jahre zurück. Aber die Erinnerung an sein Wirken bleibt in uns allen weiterhin lebendig.

Mit Ihrer jährlichen Gedenkveranstaltung hier in Mülheim an der Ruhr tragen Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren, dazu bei, die Botschaft aus dem Leben von Nikolaus Groß (geb. in meiner Heimat Niederwenigern) im öffentlichen Gedächtnis zu bewahren.

II.

Schon früh erkannte Nikolaus Groß den zutiefst unchristlichen und unmenschlichen Charakter des nationalsozialistischen Regimes. Hellsichtiger als andere sah er, dass dieses Regime die vollständige Unterwerfung des Menschen verlangte und damit im grundlegenden Widerspruch zum Glauben und zur Kirche stand.

Unerschrocken kämpfte er mit seinen Veröffentlichungen für die Glaubens- und Gewissensfreiheit. Er warnte vor Rassismus und Antisemitismus - und er wusste, auf welch gefährlichen Weg er sich begeben hatte. Seine Verantwortung vor Gott und den Menschen ließ ihm jedoch keine andere Wahl.

Nicht einmal die Liebe zu seiner eigenen Familie erlaubte es ihm, sich vom lebensgefährlichen Tun des Widerstandes fernzuhalten. Die Folge: Er wurde verhaftet, vom Volksgerichtshof in Berlin zum Tode verurteilt und am 23. Januar 1945 am Galgen umgebracht. So endete das Leben eines aufrechten Christen, der unbeirrt seinem Gewissen folgte und bereit war, dafür zu sterben.

III.

Immer wieder fragen wir uns heute: Woher nahm Nikolaus Groß diese Kraft, die Angst vor Folter und Tod zu überwinden? Wie konnte es ihm gelingen, auch in den schwersten Momenten seines Lebens an seinen christlichen Überzeugungen festzuhalten?

Ich denke: Es war sein unerschütterliches Vertrauen in Gott und das Vertrauen in seine Familie, das ihn darin bestärkte, sich bis in den Tod für die Freiheit des Glaubens und die Freiheit der Meinung einzusetzen.

Bis zuletzt stand ihm seine alles geliebte Ehefrau Elisabeth Groß zur Seite. Bis zuletzt spendete sie ihm die notwendige Kraft, sein Schicksal in der Berliner Haft zu ertragen.

Mit Gnadengesuchen versuchte sie, ihren Mann aus dem Gefängnis zu befreien - und nie gab sie die Hoffnung auf, die schlimmste aller Strafen doch noch von ihm abzuwenden.

Es sollte anders kommen: Gemeinsam mit ihren sieben Kindern musste Elisabeth Groß den schrecklichen Verlust ihres Mannes erleiden. Wie groß ihre Liebe und ihre bedingungslose Unterstützung für Nikolaus Groß gewesen sein muss, darüber gibt der letzte Brief des zum Tode Verurteilten Aufschluss.

Darin schreibt Nikolaus Groß an seine Ehefrau: "Durch deinen tapferen Abschied hast Du ein helles Licht auf meine letzten Lebenstage gegossen. Schöner und glücklicher konnte der Abschluss unserer innigen Liebe nicht sein, als er durch Dein starkmütiges Verhalten geworden ist."

Und weiter fährt er fort: "So menschlich schwer und schmerzlich mein frühes Scheiden auch sein mag - Gott hat mir damit gewiss eine große Gnade erwiesen."

Diese bewegenden Zeilen, meine sehr geehrten Damen und Herren, sind ein Zeugnis für die Kraft des christlichen Glaubens und die Kraft der familiären Liebe.

IV.

Diese Kraft hat auch Elisabeth Groß auf ihrem weiteren Lebensweg begleitet. Unbeirrt setzte sie das Werk ihres Mannes in den folgenden Jahren und Jahrzehnten fort.

Unermüdlich engagierte sie sich für die Interessen der katholischen Arbeitnehmerschaft in Nordrhein-Westfalen. Aus ganzer Überzeugung übte sie zahlreiche Ehrenämter aus und gehörte zu den Gründungsmitgliedern der CDU in Köln.

Wenn wir heute auf diese Leistungen zurückblicken, dann dürfen wir nicht vergessen: All diese Aufgaben meisterte diese starke Frau zusätzlich zu ihren familiären Pflichten als alleinerziehende Mutter von sieben Kindern!

Große gesellschaftliche Beachtung durfte Elisabeth Groß für ihr Lebenswerk erfahren. Die Verleihung des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland im Oktober 1966 muss für sie die wohl höchste Anerkennung ihres Schaffens gewesen sein.

Sie selbst hat einmal erklärt: "Wenn ich in Not und Verzweiflung war, habe ich das Bild meines Mannes angeschaut und ihn um Hilfe gebeten. Und Gott hat dann immer wunderbar, oft wirklich durch ein Wunder, geholfen."

Das Bekenntnis zum Glauben war für Elisabeth Groß ein fester Bestandteil ihres gesellschaftlich-politischen Engagements. Als Christin ist sie bis zu ihrem Tod im Jahr 1972 für die Würde des Menschen eingetreten - und als Christin hat sie zeitlebens an der Gestaltung eines freiheitlichen und friedlichen Miteinanders in der jungen Bundesrepublik mitgewirkt.

V.

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Die Ehejahre von Elisabeth und Nikolaus Groß zeigen uns noch heute: Die Familie ist der Ursprung des zwischenmenschlichen Vertrauens. Zuallererst in der Familie können sich Menschen aufeinander verlassen. Dort können sie füreinander eintreten und auf gegenseitige Unterstützung selbst in schwersten Zeiten hoffen.

Eine Frage hat unser Land im vergangenen Jahr immer wieder beschäftigt. Das ist die Frage, wie wir diese bedeutende Institution der Familie mit den Herausforderungen unserer Zeit in Einklang bringen können.

Selten zuvor haben Menschen in Politik und Gesellschaft so intensiv und leidenschaftlich über die Grundzüge einer zeitgerechten Familienpolitik diskutiert wie in den zurückliegenden Monaten. Oft kontrovers, aber stets konstruktiv haben sie sich darüber Gedanken gemacht:

Ich halte diese Diskussionen für überaus richtig und wichtig. Und ich würde mir wünschen, dass wir diese Diskussionen auch im neuen Jahr mit ebenso großem Interesse fortführen. Denn sie zeigen: Bürgerinnen und Bürger aller Altersklassen setzen sich mit großem persönlichen Interesse für die Gestaltung ihrer gemeinsamen Zukunft ein.

VI.

Schon Adolph Kolping hat betont: "Das Schicksal der Familien ist über kurz oder lang das Schicksal des Landes."

Auch zukünftig müssen wir die Familie deshalb als Keimzelle eines fürsorglichen und sozialen Miteinanders bewahren und verstehen.

Besonders den familiären Zusammenhalt über Generationen hinweg empfinde ich als wesentliche Grundlage für den Fortbestand unserer Demokratie.

Nur durch ein friedliches Zusammenleben der Generationen können wir die erforderlichen Innovationen mit den bestehenden Traditionen unserer Gesellschaft verknüpfen.

Als Bewohnerin eines Mehrgenerationenhauses kann ich Ihnen auch aus persönlicher Erfahrung berichten, wie erfrischend und vielfältig diese Form des Zusammenlebens Tag für Tag ist.

Ich stimme daher unserem Bundespräsidenten Horst Köhler zu, der jüngst in seiner Weihnachtsansprache "die Erfahrung und die Gelassenheit der Älteren" mit "dem Ungestüm und der Neugier der Jugend" verbunden sehen wollte.

Ich frage mich: Wo kann dies besser gelingen als im unmittelbaren Miteinander der Menschen und im alltäglichen Lebensalltag der Familien?

Tatsächlich kann es sich unsere Gesellschaft nicht erlauben, auf der einen Seite das jahrzehntelang erarbeitete Wissen der älteren Menschen zu ignorieren oder auf der anderen Seite den Wissensdurst der jungen Bürgerinnen und Bürger zu vernachlässigen. Dass würde unser Land zweifellos in eine bedenkliche Schieflage bringen.

Ein konstruktives Zusammenleben der Generationen erfordert deshalb unsere permanente Bereitschaft, voneinander zu lernen und miteinander die Voraussetzungen für ein verantwortungsvolles Handeln zu schaffen. Ohne die unmittelbar spürbare Geborgenheit und die Verlässlichkeit in den Familien ist dieser Anspruch langfristig nicht zu erfüllen.

VII.

Das betont auch Marianne Reichartz, eine der Töchter von Elisabeth und Nikolaus Groß.

Sie schreibt in einem Vortrag anlässlich der Seligsprechung ihres Vaters durch Papst Johannes Paul II. im Jahr 2001:

"Der große Tisch war Mittelpunkt unserer Familie, und ich sehe ihn als den Ort in meinem Leben, an dem ich am meisten gelernt habe: sich nicht als Mittelpunkt zu sehen, teilen und auch mal verzichten zu können. Sich mit anderen zu freuen, aber auch zu lernen, sich durchzusetzen."

Anschaulicher, meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen sich die Errungenschaften des familiären Miteinanders nicht in Worte fassen.

Ohne Frage haben sich die Formen der Familie in den vergangenen Jahrzehnten deutlich gewandelt: Aus früheren Großfamilien - mit mehreren Kindern, mit Eltern, Großeltern und weiteren Verwandten unter einem Dach - sind heute kleine Haushalte mit häufig nur einem Kind und oft nur einem Elternteil geworden.

Die Auswirkungen dieses Wandels können wir bereits heute voraussehen: Schon in 20 Jahren werden ein Drittel der Seniorinnen und Senioren ohne Kinder und Enkelkinder sein.

Das Alleinsein im Alter wird zu einer zunehmenden Herausforderung für die Leitlinien einer zeitgerechten Familienpolitik.

Auch weiterhin muss es eines der obersten Ziele unseres politischen und gesellschaftlichen Handelns sein, die familiäre Solidarität und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken: "Gemeinsam statt einsam" - so muss unser Motto für die Zukunft lauten.

VII.

Für mich persönlich hat dieser Anspruch einen weiteren wichtigen Grund. Im zurückliegenden Jahr konnten viele junge Menschen einen ganz besonderen Geburtstag feiern - ihren 18. Geburtstag.

Damit sind jetzt diejenigen Bürgerinnen und Bürger erwachsen, die das jahrzehntelang geteilte Deutschland und den Fall der Mauer nur noch aus den Geschichtsbüchern und von Erzählungen aus ihren Familien kennen.

Für diese junge Generation von Menschen ist das friedliche Zusammenleben im vereinten Deutschland und im geeinten Europa etwas Selbstverständliches.

Wovon viele ihrer Großeltern und Eltern nur träumen konnten, das ist für die jungen Erwachsenen von heute spürbare Realität.

Über 60 Jahre nach der Hinrichtung von Nikolaus Groß und dem Ende von Krieg und Diktatur leben wir in einer Demokratie, umgeben von europäischen Nachbarn, mit denen uns Freundschaft verbindet. Wer sich heute bei uns politisch engagiert, muss sich nicht mit den Sorgen, Nöten und Ängsten von Nikolaus Groß mühen.

Ein größeres Glück für diese nachfolgenden Generationen kann ich mir nicht vorstellen - auch deshalb, weil ich selbst zur ersten Nachkriegsgeneration gehöre.

Umso wichtiger ist es, dass wir unser Zusammenleben im zusammenwachsenden Europa bewusst zu schätzen lernen und uns immer wieder daran erinnern, wie wertvoll die friedliche Übereinkunft der Menschen in unserem Land und auf dem europäischen Kontinent tatsächlich ist.

In den Familien liegen die Wurzeln unseres gewachsenen Selbstverständnisses als mündige und demokratisch handelnde Bürgerinnen und Bürger. Und in den Familien tragen wir alle eine individuelle Verantwortung dafür, diese Erkenntnis von Generation zu Generation weiterzugeben.

Das, meine sehr geehrten Damen und Herren, wäre auch im Sinne von Nikolaus Groß, der sich entschlossen für demokratische Werte in einer undemokratischen Zeit einsetzte und als Journalist mit Leib und Seele erklärte: "Der Aufbau eines äußerlich freien und innerlich freiheitlichen Staatswesens ist nur auf dem Boden des heutigen Volksstaates möglich."

IX.

Lassen Sie uns gemeinsam auch zukünftig die Erinnerungen an Elisabeth und Nikolaus Groß lebendig halten.

Lassen Sie uns auch weiterhin dafür Sorge tragen, unsere Gesellschaft im Sinne eines friedlichen, freiheitlichen und gerechten Miteinanders zu gestalten.

Ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen ein erfolgreiches neues Jahr, Gottes Segen und alles erdenklich Gute für die Zukunft!

Ich danke Ihnen!

Regina van Dinther


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