25. September 2005:

Predigt im Pontifikalamt

[Zurück]

zum Gedenken an den Seligen Nikolaus Groß

Schriftperikopen: Lesung: Röm 12,9-16b
  Evangelium: Mt 10, 17-22
Zelebrant und Prediger: Weihbischof Prof. Dr. Franz-Peter Tebartz van Elst

Liebe Schwestern und Brüder in den KAB-Bezirken:
Duisburg-Oberhausen-Mühlheim; Kleve und Wesel

Schwestern und Brüder im Glauben

Eine Begebenheit der vergangen Woche führt unmittelbar in die Spur des Glaubens, die der Selige Nikolaus Groß gelegt hat.
Bei der Herbstvollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz in Fulda haben wir am Mittwoch des bewegenden Briefswechsels der polnischen und deutschen Bischöfe am Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils vor 40 Jahren gedacht. Dazu waren mehrere polnische Bischöfe nach Fulda gekommen. In einem eigenen Gedenk- und Festakt wurden die Mitbrüder herzlich willkommen geheißen. Von beiden Seiten wurden Erinnerungen wachgerufen und Erklärungen formuliert, im gewachsenen guten Geist der Versöhnung weiterzugehen.
Die so bewegenden Worte aus dem damaligen Brief der polnischen Bischöfe wurden oft zitiert: "Wir gewähren Vergebung und bitten um Vergebung." Die Kraft dieser Worte ist ungebrochen. Was sie seitdem bis in viele Bereiche der Politik und Kultur angestoßen haben, kann kaum hoch genug eingeschätzt werden.
Wie ehrlich und echt diese Worte sind, ging uns allen unter die Haut, als Kardinal Lehmann einen der polnischen Bischöfe besonders begrüßte: Ignaz Jez.

Er war mir aufgefallen, als sich alle gemeinsam auf dem Weg zum Festsaal machten. Ein mit 94 Jahren hochbetagter Mitbruder, der schon lange emeritierte Bischof der Diözese Köslin. Er hatte große Mühe, bei den vielen Treppen Luft zu bekommen. Aber sein Gesicht strahlte eine Helligkeit und Klarheit aus, die ich immer noch vor Augen habe.

Als junger Priester war er in das KZ Dachau verschleppt worden. Dort begegnete er dem Seligen Karl Leisner, dessen Grab sich hier in der Krypta befindet. Zwanzig Jahre später war dieser polnische Priester Bischof von Köslin. Zusammen mit dem damaligen Kardinal Woityla, unserem unvergesslichen Papst Johannes Paul, gehörte er zu den Bischöfen, die die Initiative zu diesem Brief der Versöhnung ergriffen. Als Kardinal Lehmann diesen Mitbruder am Mittwoch direkt ansprach und dessen gütiges Lächeln uns alle anstrahlte, stockte vielen der Atem. "Wir verneigen uns in Ehrfurcht vor Ihnen!"
Zu diesen Worten der persönlichen Begrüßung erhoben sich alle spontan von ihren Plätzen und ein Moment zutiefst gefüllter Stille ergriff uns.
Von jetzt auf gleich waren wir in der Zeit von Nikolaus Groß und den Gefährten, die aus der Kraft des Glaubens und des Gebetes ihrem Gewissen folgten. Wo eine Zeit mit ihren Herausforderungen plötzlich so lebendig wird, da kommen auch Worte in Erinnerung, die den Anruf dieser Stunden beschreiben: "Seid fröhlich in der Hoffnung, geduldig in der Bedrängnis und beharrlich im Gebet." (Röm 12,12)

Wie eng diese drei Weisungen aus dem Römerbrief auf einen inneren Zusammenhang des Glaubens aufmerksam machen, bezeugt uns der Selige Nikolaus Groß mit seinem Lebensopfer. Kritische Zeiten zeigen sich im Rückblick der Geschichte nicht selten als Keimzellen eines lebendigen Glaubens.
Wirklich Aufbrüche in der Gesellschaft gibt es nur, wo am Anfang der Glaube steht. Diesen Zusammenhang verkörpert der Selige Nikolaus Groß bis in den Tod hinein. Als Redakteur der Westdeutschen Arbeiterzeitung schreibt er einmal: "Der Christ darf sich so wenig, wie die Kirche es tut, gleichgültig verhalten gegenüber Zuständen im natürlichen Leben. Gewiss liegt unser letztes Ziel im Jenseits, aber wir haben uns doch im Diesseits als Mensch und Christ zu bewähren. Unser Glaube ist nicht von dieser Welt, aber er soll in diese Welt hineinleuchten, sie beeinflussen und mitgestalten." (Ketteler Wacht 1935)
Glaube als Kraft zur Veränderung; - das ist für Nikolaus Groß die Quelle, aus der gesellschaftliches und wirtschaftliches Leben wirklich innovativ werden.

Eine Woche nach der Wahl stehen wir in unserem Land vor einer Ratlosigkeit und Lähmung, die uns eindringlich bewusst machen, was das sozialpolitische Engagement des Seligen Nikolaus Groß kennzeichnet:

Nach seinem Verständnis kann eine Reform der Zustände in der Gesellschaft nur durch eine Reform der Gesinnung erreicht werden.
Hier weiß er sich ganz in der Spur des großen Arbeiterbischofs Wilhelm Emmanuel von Ketteler. Beide haben jeweils in ihrer Zeit erkannt: Es braucht überzeugte und engagierte Christen in Politik und Gesellschaft, die wach halten, worum es eigentlich geht, wenn peinliches und selbstbezogenes Machtstreben einzelner eine sensible Verantwortung für das Ganze vermissen lässt. Die Suche nach einer guten und gerechten Zukunft in unserer Gesellschaft gibt nur, wo Programmen und Paragraphen eine Bekehrung des Herzens vorausgeht. Wenn die so notwendige Reform unserer Gesellschaft eine Reform der Gesinnung voraussetzt, braucht es Biotope des Glaubens.
Für den Seligen Nikolaus Groß waren das zuerst Zellen des Gebetes.
So versteht er die Bewegung der KAB und aus dieser Quelle hat der Verband unsere Gesellschaft in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten nachhaltig geprägt. Wenn es heute darum geht, zukunftsfähig zu werden, tun wir gut daran, zu entdecken, welche Reformkraft Nikolaus Groß so tief in sich selbst ausprägen ließ.
Drei Ansätze lassen sich in seinem Leben beobachten, die heute unserer Politik eine neue Kultur geben könnten:

I. Erneuerung braucht Gebet

Es bewegt mich sehr, in den Briefen des Seligen Nikolaus Groß zu lesen.
Was ihn trägt, macht es ihm möglich, seine Familie und die Bewegung der KAB mit zu tragen. Was in ihm spricht, das spricht aus ihm und spricht auch heute Menschen an: das unbedingte Vertrauen des Gebetes.
Aus seiner Gefängniszelle schreibt er wenige Tage vor seiner Hinrichtung in seinem Abschiedsbrief: "Fürchtet nicht, dass angesichts des Todes großer Sturm und Unruhe in mir sei. Ich habe täglich immer wieder um die Kraft und Gnade gebeten, dass der Herr mich und euch stark mache, alles geduldig und ergeben auf uns zu nehmen, was er für uns bestimmt oder zugelassen. Und ich spüre, wie es durch das Gebet in mir still und friedlich geworden ist."
Der Selige Nikolaus Groß bezeugt uns: Wirkliche Reformen in einer Gesellschaft beginnen mit der Umkehr des Herzens. Die innere Ausrichtung auf Gott hin macht es erst möglich, dass sich äußere Zustände nachhaltig verändern. Wo "das Bewusstsein der Verantwortung für Gott …" - wie es unser Grundgesetz allem Regeln und Tun in der Politik voraussetzt - nicht mehr in einer lebendigen Beziehung mit Gott gepflegt wird, da leidet auch "die Verantwortung für den Menschen", von der unser Grundgesetz im gleichen Zusammenhang spricht. Wo diese Grundlage in der Politik nicht mehr vermittelbar erscheint, muss es nicht wundern, wenn wirkliche Erneuerung nicht in Gang kommt. Denn sie braucht die Kraft des Herzens. Nötige Aufbrüche im Leben brauchen immer eine Seele. Wo es keine innere Leidenschaft gibt, gibt es äußerlich auch keine nachhaltigen Veränderungen.

Nikolaus Groß verweist als Bergmann, Gewerkschafter und Journalist mit dem ganzen Einsatz seines Lebens auf den Nerv wirklicher Reformen. "Nur den Betern kann es noch gelingen …" Was der Dichter Reinhold Schneider so ins Wort bringt, spricht aus dem Leben unseres Seligen. Darin liegt sein großes Vermächtnis.
Seiner Frau schreibt er aus dem Gefängnis: "Sage den Kindern, dass sie innig und echt beten. Nur wenn unser Gebet aus der Tiefe des Herzens kommt, dringt es bis zu Gott." Er schreibt dies in so dringlichen Worten, weil er darum weiß, dass Gebet und Gewissenbildung zusammenhängen.
In dieser ganzen Konsequenz seines Lebens zeigt er uns einen zweiten Ansatz für nötige Reformen.

II. Erneuerung braucht Gewissen

Für Nikolaus Groß gilt, "dass man Gott mehr gehorchen muss als den Menschen." In dieser konsequenten Haltung seines Gewissens gleicht er Kardinal von Galen.
Wenn heute in zwei Wochen dieser große Bischof im Petersdom in Rom selig gesprochen wird, kommt aufs Neue jene Zeit in den Blick, die Kardinal von Galen und Nikolaus Groß so existentiell herausgefordert hat. Wie seelenlos der Zeitgeist sein kann, bezeugen uns beide Selige durch ihren beherzten Widerstand.
Nikolaus Groß schreibt 1943 in seiner Glaubenslehre, was sein Handeln erklärt: "Wenn von uns etwas verlangt wird, was gegen Gott oder den Glauben geht, dann dürfen wir nicht nur, sondern müssen den Gehorsam gegen Menschen ablehnen."

Zu erkennen, was dran ist, was keinen Aufschub und keine Ausflucht duldet, setzt ein waches Gewissen voraus. Nur wer fühlt, was er sieht, kann tun und lassen, worauf es ankommt. Gewissenbildung beginnt deshalb mit Herzensbildung. Wo die Gefühle des Menschen in direkter Verbindung mit Gott sind, klären und ordnen sich die Gedanken in seinem Geist. Eine Erneuerung unserer Gesellschaft braucht nicht zuerst die Investition von Geld, sondern von Liebe. Wirkliche Veränderung beginnt mit der Vergewisserung, von wem wir kommen und wem wir allein gehören: dem Gott und Vater Jesu Christi. Vergewisserung unseres Glaubens ist deshalb auch der Anfang einer Gewissensbildung, die Mut und Bereitschaft zu den wirklichen Reformen weckt.

Kirche und Gesellschaft leben davon, dass wir diesen Schritt miteinander tun. Damit kommt ein dritter Ansatz in den Blick:

Erneuerung braucht Gemeinschaft

Zu den bewegenden Glaubenszeugnissen des Seligen Nikolaus Groß gehört für mich sein Brief aus dem Gefängnis im Advent 1944. Wir haben soeben einen Auszug daraus gehört.
Nikolaus Groß ist kein Solitär, keiner der eigenmächtig und eigenwillig handelt. Sein Martyrium ist ohne den Rückhalt seiner Ehefrau und seiner Familie nicht denkbar. So, wie unser Seliger in seinen Gebeten und Gedanken bei ihnen ist, erschließt er uns, wie fest und belastbar das Band der Gemeinschaft im Leben durch die Kraft des Glaubens gewoben wird. In diesem Sinne gilt, was unser Heiliger Vater, Papst Benedikt, am Tag seiner Amtseinführung den Menschen in aller Welt zugerufen hat: "Wer glaubt, ist nie allein!"
Nikolaus Groß bezeugt uns in der scheinbaren Einsamkeit einer Gefängniszelle, dass diese Verheißung stimmt. Er schreibt: "Glaube nicht, dass ich einsam bin. Wer die Kraft und Macht des Gebetes kennt, ist nie allein. Ja, Gott gibt mir durch das Gebet viel Frieden und stille Herzensfreude."

Liebe Schwestern und Brüder
Der Blick in die Geschichte und Gegenwart zeigt uns, Erneuerung und Aufbruch, den Mut zu Versöhnung und Veränderung gibt es nur dort, wo Gebet, Gewissenbildung und Gemeinschaft eine innere Klammer bilden.
Sie fügt zusammen, was unsere Gesellschaft zusammenhält: Hingabe an Christus als Aufgabe, für die Menschen da zu sein.

Amen.


[Zurück]