23. Januar 2005:

Ansprache von Marianne Reichartz

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in der St. Agneskirche, Köln, anlässlich der Einweihung eines Reliquiars mit einem Brief ihres Vaters, Nikolaus Groß

Heute vor sechzig Jahren wurde mein Vater, Nikolaus Groß, für seinen Glauben, sein Eintreten für Gerechtigkeit und Menschenwürde hingerichtet. In dieser Pfarrgemeinde St. Agnes hat er mit uns, seiner Familie, gelebt. Hier schrieb er den Brief, der heute in der Krypta, unserer Märtyrerkrypta, sichtbar gemacht wird. Er ist Teil eines intensiven Briefwechsels zwischen Vater und Tochter. Wie ist er entstanden?

Im Sommer 1944 wurde - verursacht durch die Zerstörung sämtlicher Schulen in Köln - der Schulbetrieb aufgegeben. Viele Schulen machten einfach dicht; andere betrieben eine Verlegung in Gegenden, die von den Bombenangriffen verschont geblieben waren. Von einer solchen Schulverlegung war auch ich betroffen.

Die Städtische Oberschule für Mädchen, ehemals Ursulinenschule, zog mit einem eilends zusammengestellten Sonderzug nach Bansin auf der Insel Usedom um. In dieser Zeit schrieb ich von dort ausführliche und vertrauensvolle Briefe an meine Eltern. Die Briefe beantwortete mein Vater, und meine Mutter schickte liebevoll zusammengestellte Päckchen. Ich schrieb lange Berichte, weil ich Rat und Hilfe meiner Eltern brauchte; denn kaum an der Ostsee angekommen, hatte die Partei massiv versucht, die Leitung der Schule an sich zu reißen.

Wir bekamen BDM-Uniformen. Religiöse Bilder, die wir in unseren Zimmern aufgehängt hatten, mussten wir abnehmen. Wie sollte ich, zum erstenmal aus der Familie herausgerissen und auf sich allein gestellt, mit der neuen Situation fertigwerden? Meine Briefe spiegeln den unausgeglichenen Gemütszustand wider, der mich ergriffen hatte. Er wechselte von der Begeisterung über die Erlebnisse von Freundschaft und Gemeinschaft bis hin zu dem Wunsch, den Schwierigkeiten, mit denen ich fertigwerden musste, zu entfliehen. Das Auf und Ab meiner wechselnden Stimmungen mutete ich meinen Eltern in ausführlichen Schreiben zu. Mein Vater setzte sich mit jedem meiner fast abenteuerlichen Vorschläge, die immer um eine Rückkehr in das zerbombte Köln kreisten, auseinander. Ich war siebzehn Jahre alt und in einer Phase der Orientierungslosigkeit.

Ich habe diesen Brief, der nun eine Reliquie ist, ausgewählt, weil seine Kernaussage für mich in dieser schweren Zeit eine große Hilfe gewesen ist:

Die Betonung liegt nicht auf "behauptest" sondern auf "selbst". Meinem Vater ging es nicht um Ratschläge und fertige Lösungen; es ging ihm darum, den Blick der Tochter zu schärfen, um sie selbst zu Entscheidungen fähig zu machen.

"Du wirst die Entwicklung sorgfältig beobachten" und nicht: Tu dies und lass das. Das ist ganz ungewöhnlich für eine Zeit, in der die elterliche Erziehung vorrangig aus Vorschriften bestand. Hier wird erwartet: Sperre selbst deine Augen auf, sei wach und dann: Handle, ich vertraue dir! Wie selbstverständlich gibt er mir, der Ratsuchenden, das Wort des Herrn mit auf den Weg:

"Wer mich vor den Menschen bekennt...",

ein Satz, dem er selbst bis in den Tod gefolgt ist. Aber der Vater weiß auch, dass ein junger Mensch in seinen Entscheidungen überfordert werden kann. Zitat aus seinem Brief:

"Du selbst darfst Dir keine Probe zumuten, die Dir zu schwer wird."

So erlebte ich die Spannung zwischen einerseits: Du musst dich in manchen Dingen durchkämpfen , um den Widersachern die Stirn zu bieten; das erwarten wir von dir und andererseits: Wir sind immer für dich da. Diese Aussagen sind Ausdruck der eigenen Haltung meines Vaters: Vertrauen, Glauben und sein Selbst, sein Wesen, nicht aufzugeben.

In der damaligen Zeit hatte der Brief seine Bedeutung nur für mich. Er war ein Gruß meiner geliebten Eltern aus der Ferne. Ein Gefühl der Geborgenheit überkam mich: So war mein Vater, und so konnte ich mich auf ihn verlassen. Dann ruhte der Brief wie die vielen anderen, die ich aus dieser Zeit aufbewahrt hatte.

Mit dem Älterwerden bin ich in ihn sozusagen "hineingewachsen" und habe immer mehr seine Größe erfasst. Nach der Seligsprechung meines Vaters wurde vieles, was bis dahin privat gewesen war, auch anderen zugänglich. Nun ist es auch dieser Brief. Er ist zu einer Reliquie geworden, etwas, das von einem Menschen geblieben ist, den wir verehren.

Nach dem Willen der damaligen Machthaber sollte von den Glaubenszeugen und Widerstandskämpfern nichts übrigbleiben. Die Asche der Ermordeten wurde auf Rieselfeldern in alle Winde verstreut. Ausgelöscht sollten sie sein, als hätte es sie nie gegeben. Aber nur der Leib wurde vernichtet, nicht der Geist; das macht dieser Brief deutlich. Er wirkt wie ein Transparent eines Menschen, der sein Selbst nie aufgegeben hat. Sein Geist lebt unter uns.


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