Pontifikalamt und Prozession zu Allerheiligen am 1. November 2001:

Prozession "auf den Spuren von Nikolaus Groß"

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Etwa 750 Gläubige zogen am heutigen Fest Allerheiligen durch die Kölner Innenstadt, um "auf den Spuren von Nikolaus Groß" dem neuen Seligen der katholischen Kirche zu gedenken. Nach einem Pontifikalamt im Kölner Dom, das der Kölner Erzbischof Joachim Kardinal Meisner zelebrierte, zog die Prozession zunächst zur Nikolaus Groß Grundschule im Agnesviertel, in dem Groß einst wohnte und auf der seine Kinder eingeschult waren. Zweite Station war die nahe gelegene Verbandszentrale der Katholischen Arbeitnehmer Bewegung (KAB), wo Kardinal Meisner eine Gedenktafel für Groß enthüllte. Die Prozession endete in der Agneskirche. Dort entzündete Kardinal Meisner an der Gedenkstätte für Nikolaus Groß eine Kerze. "Die Heiligen zu feiern ist ein erster Schritt zur eigenen Heiligkeit" entließ er die Mitfeiernden. Die Predigt aus dem Pontifikalamt ist nachfolgend dokumentiert.

Predigt von Erzbischof Joachim Kardinal Meisner zum Allerheiligenfest am 1. November 2001 im Hohen Dom zu Köln Gedenken an Nikolaus Groß

Liebe Brüder, liebe Schwestern!

Zum Allerheiligenfest können wir uns nur gegenseitig beglückwünschen, sind doch die Heiligen, wie wir, Glieder am Leibe Christi. Und der Apostel Paulus sagt ausdrücklich: "Wenn ein Glied geehrt wird, freuen sich alle anderen mit ihm" (1 Kor 12,26). Heiligkeit ist Gliedschaft, oder sagen wir besser "Vollmitgliedschaft" am Leibe Christi. Sie erwächst uns aus der Verbundenheit mit Christus, der das Haupt seines Leibes, der Kirche, ist. Die Gedanken des Hauptes müssen alle Glieder des Leibes inspirieren und vitalisieren können. Die Impulse, die vom Haupte ausgehen, müssen alle Glieder des Leibes in Bewegung setzen können. Je mehr das geschieht, umso größer ist die Heiligkeit des einzelnen Gliedes, des einzelnen Christen. Weil das bei den Heiligen Gottes in vollendeter Weise geschehen ist, vitalisieren sie in unglaublicher Weise über die einzelnen Glieder, die immer auch ihre Mitglieder sind, den ganzen Leib Christi, der die Kirche ist.

Umgekehrt rufen Verkalkungen oder ähnliche Erkrankungen der einzelnen Glieder Kreislaufstörungen im ganzen Organismus der Kirche hervor, weil dann die Signale vom Haupt nicht mehr die Glieder erreichen. Hier gilt auch umgekehrt: "Wenn darum ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit" (1 Kor 12,16). Ein wesentliches Kapitel in der Kirchenkonstitution des 11. Vatikanischen Konzils hat daher den Titel: "Von der allgemeinen Berufung zur Heiligkeit". Wer zur Kirche gehört, ist unwiderruflich zur Heiligkeit berufen. Billiger geht es nicht, Christ zu sein, und anders ist es nicht möglich, Glied am Leibe Christi zu sein.

Das Leben Jesu will sich ausprägen und ausdrücken in den Gliedern seines Leibes. Das Lebens Schicksal Jesu wird durch den Heiligen vergegenwärtigt. Die Heiligen bringen uns mit Jesus Christus real in Berührung. Jesus ist nicht nur gestern und in Ewigkeit, er ist auch ganz besonders heute. Die Welt braucht Jesus Christus heute. Der Christ ist eine Gelegenheit für Christus, neu Mensch zu werden, neue Gestalt in unserer Gegenwart zu gewinnen. Maria brachte Christus buchstäblich zur Welt. Darin ist Maria, die erste Christin oder das Herz im Leibe der Kirche, für uns alle normativ. Das ist die ureigene Berufung jedes Christen: Jesus zur Welt zu bringen in seiner Weise, in seiner Lebenswelt und mit seinen Begabungen und Begrenzungen. Die meisten Menschen lesen nur noch die Bibel, die sie übersetzt in unserem Leben vorfinden. Dass Heiligkeit nicht etwas von gestern oder vorgestern ist und nicht nur für gleichsam fromme Exoten, sondern blutvolle Gegenwart, hat uns die Seligsprechung von Nikolaus Groß am 7. Oktober dieses Jahres in Rom gezeigt. Er ist für viele von uns noch ein Zeitgenosse, für alle aber auf jeden Fall ein Landsmann, einer von uns.

Kardinal Frings soll gesagt haben: Köln sei kein Terrain zum heiligwerden. Darum seien die meisten Kölner Heiligen importiert worden. Angefangen von den Heiligen Drei Königen bis hin zur hl. Edith Stein. Gott sei Dank zeigt uns Nikolaus Groß, dass auch ein Bewohner an Rhein und Ruhr durchaus heilig werden kann, dass sich Kardinal Frings vielleicht in diesem Punkt doch ein wenig geirrt hat. Nikolaus Groß lebte von Kindheit an äußerlich ganz normal im Rheinland und nicht unter Ausnahmebedingungen, sondern wie alle seine Landsleute damals auch: Er aber mit wachem Sinn, unbestechlichem Gewissensurteil und großem Glaubensmut. Durch die Seligsprechung ist Nikolaus Groß eine normative Gestalt für die Nachfolge Jesu in unserem Land geworden. Die Gnade Gottes hat im Leben und Sterben von Nikolaus Groß sichtbar Gestalt angenommen. "Meine Speise ist es, den Willen dessen zu tun, der mich gesandt hat" (Joh 4,34), sagt Jesus. Das tägliche Brot für Nikolaus Groß war der Wille Gottes, dem er gehorsam war, buchstäblich bis zu seinem Tod in Berlin Plötzensee.

Es gibt im Menschen einen Punkt, der gleichsam heiliges Land ist, auf das Gott seine Hand gelegt hat. Wir nennen es "Gewissen". Und dieser Punkt steht nicht zur Disposition. Das ist leichter gesagt als getan. Für den Sozialpolitiker und Journalisten Nikolaus Groß ging es in seiner Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus nicht nur um ihn allein oder persönlich, sondern auch um seine Frau und seine 7 Kinder, für die er verantwortlich war und zu sorgen hatte. Hätte er um ihretwillen nicht Kompromisse schließen oder den Rückzieher machen müssen? Nein, er stand unter dem besonderen Anspruch Gottes: "Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen" (Apg 5,79). Und ich sage es mit Furcht und Zittern: selbst auch mehr gehorchen als den Stimmen der eigenen Familie. Hier gilt, was der Herr zu Petrus sagt: "Nicht Fleisch und Blut haben dir das geoffenbart, sondern mein Vater im Himmel" (Mt 16,17). Fleisch und Blut hätte Nikolaus Groß ganz eindeutig zum Einlenken und sich zum Arrangieren mit dem System verleitet. Nicht Fleisch und Blut, sondern der Vater im Himmel hat ihm letzte Orientierung gegeben. "Fürchtet euch nicht, die den Leib töten, die Seele aber nicht töten können, sondern fürchtet euch vor dem, der Seele und Leib ins Verderben stürzen kann" (Mt 10,28).

So preisen wir durch die erlebte Seligsprechung in Rom die Gnade Gottes, die sich stark erwiesen hat in unserem Landsmann, dem Journalisten, dem Sozialpolitiker und Familienvater Nikolaus Groß. Er ist das große Geschenk Gottes für unser erstes Allerheiligenfest im neuen Jahrhundert und Jahrtausend. Wenn wir an die über 800 Märtyrer denken, die im Martyrologium des 20. Jahrhunderts aus unserem deutschen Vaterland zusammengestellt wurden, wissen wir, dass Allerheiligen keine Nostalgie bedeutet, dass wir in unserer Feier von Allerheiligen nicht nur in die entferntere Vergangenheit zurückgreifen müssen, sondern in unsere allerjüngste Vergangenheit und sogar in die Gegenwart.

Papst Johannes Paul 11. schreibt zum Aufbruch in das neue Jahrhundert und Jahrtausend in seinem apostolischen Schreiben "Novo millennio ineunte": "Evangelisierung ist immer zunächst eine Evangelisierung nach innen, d.h. ein Streben nach Heiligung. Sie allein lässt uns durchlässig werden auf Jesus Christus hin, weil sie uns empfänglich macht für die Gnade des Herrn, die sich dann in uns konkretisiert. "Wenn ein Glied geehrt wird, freuen sich alle anderen mit ihm."

Wir danken Gott für den Märtyrer Seligen Nikolaus Groß, weil wir in ihm als Glieder am Leib Christi, zu dem er auch gehört, Mitgemeinte, Mitgesegnete und Mitbeschenkte sind. Unsere Gesellschaft wartet auf eine Kirche, die nicht nur über Heiligkeit spricht, sondern Heiligkeit erfahren und ausstrahlen lässt. Heiligkeit ist letztlich die eigentliche Vollendung auch wirklichen Menschseins. Als Ebenbild Gottes liegt die letzte Berufung des Menschen darin, dem Urbild, Gott, ganz ähnlich zu werden. Dazu ist Christus gekommen. Dafür hat er zu unseren Gunsten sein Leben hingegeben, um es uns eucharistisch zu schenken, sodass wir mit ihm wirklich ein Fleisch werden. Größtmögliche Deckungsgleichheit mit dem Leben Jesu ist die Frucht davon. Und dafür hat uns Jesus Christus seinen Geist geschenkt, damit wir denken und wollen, wie er denkt und will. Denn der Christ ist von Christus aus gesehen eine Kopie seiner selbst. Davon leuchtet im Leben und Sterben von Nikolaus Groß etwas auf. Dafür sind wir dankbar. Das gibt uns Hoffnung und Zuversicht, auch für unseren eigenen Weg in dieser Zeit. Amen.



+ Joachim Kardinal Meisner

Erzbischof von Köln


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