Stimme zum Buch

"Wie sollen wir vor Gott und unserem Volk bestehen?"

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Auf vielfältige Weise suchen katholische Schulen in freier Trägerschaft und andere Schulen die Erinnerung an die, deren Namen sie tragen, lebendig zu erhalten und ihren Schülerinnen und Schülern weiterzugeben. Die Schulen wollen so eine Ehrenpflicht erfüllen, aber zugleich geht es ihnen in aller Regel darum, einen pädagogischen Anspruch zu erfüllen: Sie wollen keinen toten Bestand von Wissen um die Vergangenheit anhäufen, sondern die Kräfte dieser Vergangenheit für die Gegenwart und die Zukunft junger Menschen wirksam werden lassen. Aus der langen Reihe solcher Bemühungen ist hier eine besonders bemerkenswerte Arbeit zu nennen, in der das Bischöfliche Nikolaus Groß Abendgymasium in Essen an den Bergmann und Gewerkschaftler, an den späteren Chefredakteur der "KettelerWacht", des Verbandsorgans der "Katholischen Arbeiterbewegung" an den noch im Januar 1945 von den Nationalsozialisten hingerichteten Zeugen eines politisch gewordenen Glaubens erinnert. Das hier vorzustellende Arbeitsbuch stellt das Leben dieses Mannes in den Zusammenhang des politischen und sozialen Katholizismus im Ruhrgebiet. Damit wird nicht nur dessen Geschichte dokumentiert. Vielmehr gewinnt der moralische Appell, der in der Frage steckt, die von Groß überliefert ist und die dem Buch den Obertitel gegeben hat, Gewicht. Gewicht, weil mehr als nur ein Menschenschicksal referiert wird, weil sich vielmehr für die Zeit dieses Menschen wie für unsere zugleich die Frage stellt. was konkret, was im Alltag zu tun ist, um dem moralischen Appell gerecht zu werden.

Die Autoren haben ein Arbeitsbuch vorgelegt, dessen beträchtlicher Umfang von 370 Seiten zum kleineren Teil drei einführende Aufsätze enthält, in denen es um die methodisch didaktische Konzeption des Buches, um den Lebenslauf von Nikolaus Groß und um die Geschichte des politischen und sozialen Katholizismus geht. Den bei weitem größeren Teil machen 125 Materialien aus. Es handelt sich bei ihnen um Arbeitsmittel für einen selbsttätigen Unterricht der Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe II; überwiegend werden Texte vorgelegt, aber auch Statistiken, Bilder oder Stadtpläne. Zu jedem Stück sind Aufgaben und Anregungen für die Bearbeitung beigefügt. Abgerundet wird das große Angebot an Unterrichtsmaterial durch eine Bibliografie, zwei Zeittafeln, weitere thematische Optionen auf der Grundlage der vorgelegten Materialien und mit einem Verzeichnis ausgewählter Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus an Stätten seiner Untaten im Ruhrgebiet.

Im Einzelnen ist zunächst der politische und soziale Katholizismus von 1927/23 bis März 1933 dokumentiert. Dabei geht es im Besonderen um die politischen und weltanschaulichen Auseinandersetzungen der Parteien und um die Phase der Machtergreifung des Nationalsozialismus. Sodann folgt eine Darstellung des Katholizismus zwischen Widerstand und Anpassung in der Zeit von 1933 bis 1945 mit Quellen zum NS Totalitätsanspruch und zum katholischen Selbstbehauptungswillen, zur Auseinandersetzung mit der NS Ideologie und zu ihren Konsequenzen in den Judenverfolgungen, in der Instrumentalisierung von Schule und Unterricht für die nationalsozialistische Indoktrination und in den Maßnahmen der so genannten Euthanasie. Auch Differenzen im Episkopat, Lebensbilder von Priestern und Laien im Widerstand und der Kölner Kreis als ein Beispiel des politischen Widerstandes im katholischen Bereich gehören zu den Aspekten, um den Katholizismus während der nationalsozialistischen Herrschaft zu erfassen. Schließlich, wie bereits dargelegt, greift die Materialsammlung hinaus über das Jahr 1945 und will das Erbe des deutschen katholischen Widerstandes beim politischen Neuaufbau belegen. In diesem Zusammenhang sind katholische Stellungnahmen zur Schuldfrage abgedruckt wie Dokumente, in denen es um die politischen Lehren aus einer unhellvollen Vergangenheit geht.

Das Buch bietet mit dieser stattlichen Reihe auch bisher nicht vorgelegte oder wenig beachtete Quellen. Doch sein Hauptverdienst liegt im methodisch didaktischen Gesamtentwurf. Sein Thema sind wichtige, wenn auch schon vielfach abgehandelte Phasen der deutschen Geschichte: Die Endphase der Weimarer Republik, die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten, das Verhalten der Deutschen zwischen Täterschaft. Anpassung, Resistenz und Widerstand und schließlich der Neubeginn nach 1945. Doch schon dass der thematische Bogen von 1927 bis 1949 gespannt wird (von einer darüber hinaus gehenden Erweiterung wird noch die Rede sein), zeigt eine Besonderheit der Konzeption an. Ihr interessanter und überzeugender Grundgedanke ist es, dass die Haltung des politischen und sozialen Katholizismus in der angesprochenen Zeitspanne einen hohen Erklärungswert für das Verständnis der Zeit hat. Der große Anteil der Katholiken der Gesamtbevölkerung, ihre politische Vertretung durch das maßgebend in der Verantwortung stehende Zentrum in der Weimarer Republik, sowohl im Reich wie auch in Preußen, sowie das Gewicht des katholischen Anteils in der CDU beim Aufbau der Bundesrepublik Deutschland erlauben es, in der Konzentration auf den politischen und sozialen Katholizismus einen sowohl multiperspektivischen wie einen exemplarischen Ansatz des Geschichtsunterrichts zu sehen. Dazu kommen die in den Auseinandersetzungen des Episkopats greifbar werdenden unterschiedlichen politischen und pastoralen Optionen angesichts der Herausforderungen durch den Nationalsozialismus. Vor allem aber gestattet es die weite soziale Spreizung der über alle Schichten der Bevölkerung und über die politischen Orientierungen hinwegreichenden Struktur des katholischen Bevölkerungsanteils sein Verhalten in der fraglichen Zeit als Exempel für das Verhalten aller Deutschen zu nehmen. Für eine selbst selbständig von den Schülerinnen und Schülern zu erarbeitende Wertung der Ereignisse wie vor allem bei den Katholiken unter ihnen für ein Aufmerksam Werden darauf. dass die eigene Sache verhandelt wird, werden damit sehr gute Voraussetzungen geschaffen. Dennoch wird man natürlich abgeneigt sein, die allgemeine Geschichte der Zeit nur unter dem Gesichtspunkt des politischen und sozialen Katholizismus zu betrachten. Manches würde sonst ausgeblendet (z. B. die internationalen Aspekte), zu dem man angesichts der Fülle des vorgelegten Materials nicht mehr kommen könnte, wenn man alle vorgelegten Materialien auswerten sollte. Auch sind die Schülerinnen und Schüler katholischer Schulen zu Recht immer empfindlich, wenn sie den Eindruck gewinnen, ihnen würde wegen der katholischen Grundorientierung ihrer Schule wichtiges Anderes vorenthalten. So wird man, wie auch die Herausgeber zeigen, jeweils nur mit einer Auswahl der vorgelegten Materialien auch arbeitsteilig in Gruppen arbeiten können.

Sehr bedenkenswert ist der Vorschlag des vorliegenden Arbeitsbuches, es auch und gerade im kirchengeschichtlichen Religionsunterricht einzusetzen. Man wird, wenn auch nicht durchgehend, sagen dürfen. dass ein solcher Unterricht gewöhnlich bei den jungen Menschen auf wenig Interesse trifft. Angesichts des hier vorgestellten Materials liegen die Dinge anders. Kirchengeschichte kann mit diesem Arbeitsbuch einen hohen Stellenwert bekommen. In diesem Zusammenhang wäre auch die Frage anzugehen, wie wir es heute einordnen können, dass Nikolaus Groß die Frage der moralischen Verantwortlichkeit gegenüber Gott gewiss als vorrangig ansieht, aber dennoch auch von einem Bestehen vor unserem Volke spricht. Man kann die These vertreten, dass der auch unsere Zeit treffende Aufruf Charakter seines Wortes in dieser Formulierung viel unausweichlicher ist, als wenn wir die Frage, die Groß stellt, in der heute "geläufigen Weise als "an die Gesellschaft" "gerichtet verstehen.

Während die Fülle des vorgelegten Materials zugleich eine Grenze setzt, weil für seine vollständige Durcharbeitung nie genügend Zeit zur Verfügung stehen dürfte, stellt nach unserer Ansicht die bis auf Ausnahmen gegebene regionale Konzentration auf das Ruhrgebiet keine Beschränkung der Verwendungsmöglichkeiten der Arbeitshilfe in anderen Regionen dar. Sobald man nämlich das Material unter sozialgeschichtlichen Gesichtspunkten nutzen will, um Besonderheiten der Entwicklung im Rahmen der Industrialisierung und ihrer politischen und sozialen Aspekte herauszuarbeiten, liegt eine Konzentration auf das Ruhrgebiet in der Natur der Sache, da in gleicher Dichte die Voraussetzungen für eine Erhellung von Problemen des industriellen Zeitalters in keiner anderen Region Deutschlands gefunden werden können.

Wir haben bereits angedeutet. dass die Herausgeber in bestimmter Hinsicht auch noch über das Jahr 1949 hinausgegriffen haben. Der Wille, nicht nur eine Dokumentation vorzulegen, sondern zugleich Anlässe zu bieten, die von Nikolaus Groß aufgeworfene Frage der Verantwortlichkeit im heutigen Lebenszusammenhang zu reflektieren, war dafür maßgeblich. Aufgegriffen werden Probleme wie der Zusammenhang von christlicher Weltverantwortung und der Schutz des ungeborenen Lebens, die Frage der Menschenrechte, die Auseinandersetzung mit dem Neonazismus und vor allem die an Beispielen vorgeführten Möglichkeiten der Erinnerung,. Hier wird Erinnerung zusammen mit dem Gebot der Versöhnung - als zukunftsbezogene Aufgabe in den Horizont des Unterrichts eingeführt. In diesem erweiternden Teil des Buches werden allerdings teilweise Fragen aufgeworfen - etwa die Sterbebegleitung oder die der Euthanasie bei missgebildeten Säuglingen - von denen wir annehmen, dass sie verständig, nur von Erwachsenen angegangen werden können.

Erwachsen sind auch die Studierenden des Abendgymnasiums, an dem das Projekt entwickelt worden ist. Demgegenüber könnten Jugendliche damit doch überfordert sein. Bestehen bleibt dennoch das Verdienst der Arbeitshilfe, nicht nur eine Dokumentation geliefert zu haben, sondern zugleich auch Anlässe zu selbst verantworteter moralischer Wertung.

Joachim Dikow

Aus: "Engagement"/Heft 2/2000


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