Harald Pölchau

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1903 - 1972

POELCHAU, Harald, Dr., Pfarrer, * 5.10. 1903 in Potsdam, † 29.4. 1972 in Berlin. - Als Sohn eines Landpfarrers wächst P. in Brauchitschdorf/Liegnitz, einem kleinen schlesischen Ort mit etwa 600 Einwohnern auf. Als Außenseiter in dieser bäuerlichen Gemeinde wird er zum stillen Beobachter ländlicher Lebensverhältnisse, durch den Einfluß der Lugendbewegung in der Schulzeit wächst eine Sensibilität u.a. für die sozialen Probleme in der Gesellschaft. In Liegnitz besucht er die höhere Schule, nach dem Abitur 1921 beginnt er mit dem Studium der Theologie. Auf Wunsch des Vaters geht er zunächst an die theologische Hochschule in Bielefeld-Bethel, die unter Leitung von Samuel Jäger steht. Theologisch-wissenschaftliche Ausbildung ist hier mit praktisch-diakonischer Arbeit verbunden. Unter den Studenten lernt er viele ehemalige Soldaten des 1. Weltkrieges kennen, die ihm von ihren existenziellen Erfahrungen berichten. Friedrich Nietzsche, Siegmund Freud und Fejdor Dostojewski sind literarisch ebenso von Bedeutung für den jungen Studenten wie nach dem Wechsel an die Tübinger theologische Fakultät der Einfluß des Indologen Jakob Wilhelm Hauer, Führer des religiös-freideutschen »Königener Bundes«, dessen Sekretär P. 1922 wird. Hier kommt er mit der Mystik Meister Eckehardts und den Ausläufern des Idealismus des 19. Jhs. in Berührung. Auch in der Studentenzeit spielen die »linke« Jugend- und Aufbruchsbewegung in Hinblick auf seine politische soziale Haltung eine entscheidende Rolle. Der dialektisch-theologische Ansatz in Karl Barths »Römerbrief« (1919/1922) und Rudolf Ottos Frage nach begrifflicher und wissenschaftlicher Erfassung von Wesen und Wahrheit der Religion in seinem Buch »Das Heilige« (1917) werden wichtiger Bestandteil seiner theologischen Lektüre. - Reisen nach Lettland und Italien im Jahr der Weltwirtschaftskrise 1923 ermöglichen die Erweiterung seines Erfahrungshorizonts gerade im Hinblick auf die soziale Frage in ihrer internationalen Dimension. Während eines Werksemesters arbeitet P. in einem Stuttgarter Industriebetrieb, um die Lebensverhältnisse des Proletariats kennenzulernen. Den entscheidenden theoretischen Impuls erhält er allerdings erst nach dem Wechsel an die Universität Marburg durch den dort lehrenden Professor Paul Tillich, bei dem er sich zunächst kritisch mit der Philosopohie der Aufklärung und der religionsgeschichtlichen Schule in der Tradition Albrecht Ritschls auseinandersetzt. In dem »religiöse Sozialismus«, den Tillich vertritt, erkennt P. bald einen adäquaten Lösungsansatz im Hinblick auf die kirchlichen und politischen Probleme der Zeit. Für ein weiteres Semester geht P. auf Veranlassung von Tillich nach Berlin, um dort bei Carl Meinicke in dessen Arbeitskreis mit jüngeren Arbeitern mitzuwirken. Einer seiner Studienfreunde ist der spätere Dichter Jochen Klepper. - Nach dem ersten theologischen Examen 1927 in Breslau wird er in das Berliner Domkandidatenstift aufgenommen, gleichzeitig absolviert er in der von Meinicke geleiteten Wohlfahrtsschule eine Ausbildung als Fürsorger. Nach seiner von ihm selbst beantragten Beurlaubung vom Kirchendienst wird er zunächst Geschäftsführer der »Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfe«; seine Dienststelle liegt im Reichsinnenministerium. Anfang der 30er Jahre beruft ihn Paul Tillich zum wissenschaftlichen Assistenten an das philosophische Seminar nach Frankfurt a.M. P. promoviert hier im Juni 1931 mit einer Arbeit über »Die sozialphilosophischen Grundlagen der deutschen Wohlfahrtsgesetzgebung«. Die Dissertation, die 1932 veröffentlicht wird, ist der Versuch, von einer philosophisch-soziologischen Basis aus sozial-politische Schlußfolgerungen zu ziehen: für die Problemkreise des Familien- und Fürsorgerechts, der Stellung der Frau und der Wohlfahrtsarbeit. Im erstarkenden Nationalsozialismus sieht er eine Bedrohung für Kirche und Staat heraufziehen und warnt öffentlich vor ihm. In dieser politischen Krisenzeit entscheidet sich P. nach einer Hospitation in einem Thüringer Gefängnis schließlich, Gefängnispfarrer zu werden. Im Herbst 1932 bewirbt er sich nach bestandenem 2. theol. Examen um eine entsprechende Stelle und erhält durch Fürsprache des Ministerialbeamten Dr. Gentz im Justizministerium die Gefängnispfarrstelle in der Haftanstalt Berlin-Tegel. Diese Stelle, die er zum 1.4.1933 antritt, hat er bis 1945 inne. - Im Laufe der nächsten Jahre wird die zunehmende juristische Willkürpraxis des NS-Regimes zu einer Belastungsprobe für den Pfarrer. P. wird zum Seelsorger an Tausenden von aus den unterschiedlichsten Gründen inhaftierten Regimegegnern. Zahlreiche politische Gefangene werden in die Haftanstalt Tegel eingeliefert, darunter auch eine Reihe von Pfarrern der Bekennenden Kirche (u.a. Günther Dehn, Martin Albertz), Mitglieder von SPD und KPD, die Verschwörer des 20. Juli 1944 (u.a. Dietrich Bonhoeffer, Eugen Gerstenmaier, James Graf von Moltke, Pater Alfred Delp, Adolf Reichwein). Ein enger Freund, der Jurist Martin Gauger, veweigert den Kriegsdienst und den damit verbundenen Eid auf Hitler, wird verfaßt und im Konzentrationslager ermordet. Der andere Freund, Jochen Klepper, begeht Selbstmord, als eine Flucht von Frau und Tochter, die als »Nichtarier« verfolgt werden, nicht mehr gelingt. Die Intensität der seelsorgerlichen Arbeit nimmt immer mehr zu, insbesondere die Betreuung der zum Tode verurteilten Gefangenen in der Hinrichtungszelle und ihrer Angehörigen. Trotzdem bis 1945 immer häufiger Todesurteile aus z.T. nichtigen bzw. willkürlichen Gründen gefällt werden, bleibt P. im Amt: bis zum Ende des NS-Regimes betreut er als Seelsorger etwa 1000 zum Tode verurteilter Menschen, begleitet über 200 von ihnen zur Hinrichtung. P.s Arbeitsbereich hat sich inzwischen auf die Gefängnisse in Plötzensee und Brandenburg ausgeweitet. - P. ist seit 1934 Mitglied der Bekennenden Kirche; seit Ende 1941 gehört er zum »Kreisauer Kreis« um Helmuth James Graf von Moltke und nimmt an den Vorbereitungen für Umsturz und Neuordnung teil. In Berlin gelingt es ihm in den 40er Jahren gemeinsam mit seiner Frau Dorothee wiederholt, jüdische Frauen und Männer zu verstecken bzw. ihnen in Zusammenarbeit mit anderen Hilfsstellen Papiere und andere notwendige Mittel zu besorgen. Kurz vor Ende des NS-Regimes flieht er mit seiner Familie auf das Gut eines Freundes in Franken, wo er das Ende des Krieges abwarten kann. - Eugen Gerstenmaier holt P. nach der Kirchenführerkonferenz in Treysa im August 1945 als Generalsekretär zum kirchlichen Hilfswerk nach Stuttgart. Er beteiligt sich am Aufbau dieser zentralen Stelle, jedoch kehrt er im Frühjahr 1946 wieder nach Berlin zurück. Für drei Jahre wird er in die Leitung des Strafvollzugwesens mit dem Titel »Vortragender Rat« in der sowjetischen Besatzungszone berufen und baut mit Hilfe seiner Erfahrungen diesen Bereich der späteren DDR-Justizverwaltung mit auf. Die hier gewonnenen Erfahrungen kann er in einem Lehrauftrag für das Fach Kriminologie und Gefängniskunde an der Fakultät für Rechtswissenschaft der Humboldt-Universität auch theoretisch auswerten. In diesen Jahren wird er in den Betriebsrat des Justizministeriums gewählt. Nach seinem Ausscheiden am 1.4.1949 wird er wieder Gefängnispfarrer in der Tegeler Haftanstalt, nachdem er das Angebot für eine Professur abgelehnt hat. Die kirchliche Fürsorgerin Gertrud Staewen wird auf Vermittlung von Präses Kurt Scharf seine Mitarbeiterin. - Als Mitglied des »Demokratischen Kulturbundes« in Ost-Berlin unterhält P. seit Ende der 40er Jahre weitreichende Kontakte zu Vertretern aus Kultur, Politik und Gesellschaft der entstehenden DDR. Mit Emil Fuchs und Gerhard Scholz ist er freundschaftlich verbunden. Auf Einladungen veschiedener Organisationen in Holland, Frankreich und Norwegen unternimmt er Vortragsreisen mit dem Ziel, Versöhnungsarbeit zu leisten. P. wird Mitglied des »unterwegs«-Kreises, einer Gruppe von jungen Theologinnen und Theologen, die sich in der Tradition der Bekennenden Kirche als Aufbruchbewegung verstehen. Er ist Mitherausgeber der Schriftenreihe »unterwegs«. - 1951 wird Harald P. schließlich auf Anregung des Bischofs Otto Dibelius zum Leiter des Amtes für Industrie- und Sozialarbeit berufen. Von seinen Büros im Ost- und Westteil Berlins aus gelingt es ihm, eine Arbeit mit Werktätigen aus ganz Berlin einzurichten. Auf der anderen Seite steht der Versuch, junge Theologiestudenten zu einem Industrie- bzw. Werksemester zu motivieren und dabei zu begleiten. Schließlich wird P. in die Sozialkammer der EKD berufen. - Harald Poelchau, der am 29.4.1972 in Berlin stirbt, hat sich um Aufbau und Arbeit der Gefängnisseelsorge und des Strafvollzuges verdient gemacht und gehört zu den Förderern der kirchlichen Sozial- und Industriearbeit in Berlin. Von herausragender Bedeutung ist seine Hilfe für die Gefangenen und Verfolgten während des nationalsozialistischen Regimes 1933-45.

Werke: Die Bedeutung der Weltanschauung in der Fürsorgearbeit, in: Neue Blätter für den Sozialismus [NBS] 1. Jg. 1930, H. 7, 330-333; Die sozialphilosophischen Anschauungen der deutschen Wohlfahrtsgesetzgebung, Potsdam 1931 (Frankfurt a.M. phil. diss, 22.6.1931); Das Menschenbild des Fürsorgerechts. Eine ethisch-soziologische Untersuchung, Potsdam 1932; Politische Theologie, in: NBS 1932, H. 12, 650-657; Zum Einbruch der Nationalsozialisten in die Körperschaften der evangelischen Kirche, in: NBS 1932, H. 12, 666 f.; Die letzten Stunden, Erinnerungen eines Gefängnispfarrers, aufgez. von Alexander Graf Stenbock-Fermor, Berlin 1949; Jahresgruß. Berlin, Am Heidehof 30; 12.12.1950; Rez. zu: Paul Tillich, Der Protestantismus Prinzip und Wirklichkeit (Stuttgart 1951), in: ZdZ 1951, 432-434; Therapeutikum für Pastoren, in: unterwegs 4/1952, 230 f.; Der Gefängnisgeistliche, in: Der Weg zur Seele, 4/1952, 137 f.; Wandlungen im Selbstverständnis zwischen Helfer und Hilfsbedürftigen, Referat, gehalten Himmelfahrt 1953, in: Rundbrief der Gilde soziale Arbeit, 5.6.1953; Predigt anläßlich der Tagund der Gilde soziale Arbeit in Düsseldorf am 17.5.1953, Beilage zum Rundbrief der Gilde soziale Arbeit Nr. 2, 7. Jg., August 1953; Zum 20. Juli 1944, in: unterwegs 4/1954, 206-208; Die Arbeiterfrage in der Sicht der Kirchenleitungen, in: unterwegs 4/1954, 243-345, Rez. zu: Ludwig Heyde, Abriß der Sozialpolitik (Heidelberg 1953), in: ZdZ 1955, 118 f.; Erfahrungen mit Arbeitslosen, in: Kirche im Volk, H. 16/1957, 45-53; Art. Christliche Gewerkschaften, in: RGG 31958, Bd. 2, 1548-50; Die Ordnung der Bedrängten. Autobiographisches und Zeitgeschichtliches seit den zwanziger Jahren. Berlin 1963, 2München und Hamburg 1965; Emil Fuchs, in: ZdZ 1964, 190 f.; »Gruß an Vater Fuchs«, in: Ruf und Antwort. Festgabe für Emil Fuchs zum 90. Geburtstag, Leipzig 1964, 119-121; Predigt über Matth. 9, 35-38, in: Harald Poelchau. Grenzgänger - Wegbegleiter - Fürsprecher 1903-1972), hrsg. vom Freundeskreis der Evangelischen Akademie Berlin/West 1988, 1-6; Mithrsg.: Zeitbuchreihe »unterwegs« Berli 1947 ff.

Lit.: Greta Kuckhoff, Harald Poelchau, in: Die Weltbühne 23/6.6.1972, 730 ff.; - Peter Brandt, Die evangelische Strafgefangenenseelsorge. Geschichte - Theorie - Praxis, Göttingen 1985; - Ellen Stubbe, Seelsorge im Strafvollzug. Historische, psychoanalytische und theologische Aufsätze zu einer Theoriebildung, Göttingen 1978; - Ewald Alertz, Die Strafanstaltsseelsorge in der Bundesrepublik Deutschland unter besonderer Berücksichtigung des Landes Nordrhein-Westfalen, Diss. jur. Köln 1961; - Anton Gundlach/Albert Panzer (Hrsg.), Peter Buchholz. Der Seelsorger von Plötzensee, Meitingen bei Augsburg 1964; - Viktor von Gostomski/Walter Loch, Der Tod von Plötzensee, Erinnerungen - Ereignisse - Dokumente, 1942-45, Meitingen und Freising 1969; - Werner Maser (Hrsg.)/Harald Poelchau, Pfarrer am Schafott der Nazis. Der authentische Bericht des Mannes, der über 1000 Opfer des Hitler-Regimes auf ihrem Gang zum Henker begleitete, Rastatt 1982; - Günther Wirth, Die Bedeutung von Harald Poelchaus Dissertation: »Das Menschenbild des Fürsorgerechts« (1932), in: Harald Poelchau. Grenzgänger - Wegbegleiter - Fürsprecher (1903-1972), hrsg. vom Freundeskreis der Evangelischen Akademie Berlin/West 1988, 7-23; - Eberhard Görner, Seelsorge im Widerstand, Gedanken zum 85. Geburtstag des Gefängnispfarrers von Tegel und Mitglied des Kreisauer Kreises Harald Poelchau, in: ebenda, 31-43; - Brigitte Oleschinski, Peter Buchholz und Harald Poelchau. Zwei Berliner Gefängnisseelsorger in diesen Jahren 1943-1945, in: ebenda, 44-55; - Franz von Hammerstein, Harald Poelchau, ebenda, 56-59; - Beate Ruhm von Oppen, Helmuth James von Moltke, Briefe an Freya 1939-1945, München 1988; - Ger van Roon, Der Kreisauer Kreis zwischen Widerstand und Umbruch (Beiträge zum Widerstand 1933-1945, hrsg. von der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, H. 26), Berlin 21988; - Freya von Moltke, Briefe an Harald und Dorothee Poelchau (1945), in: Der Aduädukt 1763-1988, München 1988; - Albert Krebs, Begegnungen mit Harald Poelchau. Ein Erlebnisbericht, in: ZfStrVo 2/1989.


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