Bischof Dr. Hubert Luthe:

Für eine Kultur des Lebens

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Sollten schwerstbehinderte Neugeborene Kinder unmittelbar nach der Geburt getötet werden? Das Thema einer Deutscharbeit eines Gymnasiums sorgte Anfang 1998 für öffentliches Aufsehen. Die Grundlage der Klassenarbeit waren Texte von Peter Singer und Helga Kuhse. Der Bischof von Essen hat sich mit einem Brief in der Sache zu Wort gemeldet.

Liebe Schwestern und Brüder!

Aus aktuellem Anlaß wende ich mich heute mit diesem Brief an Sie. Wie Sie vermutlich wissen, ist vor einiger Zeit Schülerinnen und Schülern (...) die Aufgabe gestellt worden zu erörtern, ob es erlaubt sei "schwerstbehinderte Neugeborene unmittelbar nach der Geburt schmerzfrei" zu töten.

Der Frage, unter welchen Bedingungen und in welcher Art der pädagogischen Behandlung es verantwortbar ist, ein solches Thema in der Schule zu erörtern, will ich nicht nachgehen. Es ist nicht zu bestreiten, daß junge Menschen mit umsichtiger Verantwortung und pädagogischem Takt zu einer selbständigen Urteilsbildung angeleitet werden sollen. Dies gilt besonders für Fragestellungen, die die Auffassung vom menschlichen Leben insgesamt berühren. Dazu gehören sowohl der Schutz des ungeborenen Lebens als auch die Sterbehilfe.

Die Tatsache, daß im Rahmen der Diskussion um die Sterbehilfe seit Jahren die Frage nach dem Lebenswert menschlichen Lebens und - weit darüber hinausgehend - auch die Frage nach der Erlaubtheit der Tötung eines Menschen gestellt wird, zeigt, daß der ethische Grundkonsens in unserer Gesellschaft ins Wanken geraten ist. Diese Entwicklung fordert uns Christen zur Wachsamkeit und zu Stellungnahme heraus. Wenn ich mich heute mit diesem Wort an Sie wende, so ist mir daran gelegen, sittliche Wahrheiten ins Bewußtsein zu rufen, die keine christliche Sondermeinung darstellen, die vielmehr als grundlegende Menschenrechte und Prinzipien unseres demokratischen Rechtsstaats gelten.

I.

Wir wissen, daß die Erfolge der Medizin, ihre weitreichenden diagnostischen Möglichkeiten und eine immer anspruchsvollere Technik am Anfang und am Ende des menschlichen Lebens in existenzielle Grenzsituationen führen können. Diese Entwicklungen werfen schwerwiegende Fragen auf. Wo liegt die Grenze zwischen Leben und Tod? Wann ist ein Verzicht auf künstlich lebensverlängernde Maßnahmen zulässig? Wie gehen wir mit dem Lebensrecht von Menschen um, die ihr Recht auf Selbstbestimmung noch nicht oder nicht mehr wahrnehmen können? Gibt es einen Unterschied zwischen Sterbenlassen und aktiver Tötung? Wann ist es uns aufgegeben, uns mit dem Tod vertraut zu machen, ihn anzunehmen? Was ist ein menschenwürdiges, ein christliches Sterben? Nun wurde und wird im Rahmen der öffentlichen Debatte um die Sterbehilfe immer wieder auch die Forderung nach einer aktiven Euthanasie propagiert. Unter aktiver Sterbehilfe werden die bewußte Verabreichung von lebensverkürzend wirkenden Substanzen oder andere unmittelbare Einwirkungen verstanden in der Absicht, den Tod eines kranken und leidenden Menschen - sei es eines Erwachsenen, sei es eines Neugeborenen - herbeizuführen, um auf diese Weise dessen Leiden zu beenden. Mit Blick auf das Ende des Lebens haben die beiden Kirchen in ihrem "Gemeinsamen Wort zur Woche für das Leben 1996" davor gewarnt, "die Frage nach dem Sinn des Leidens durch die Forderung nach aktiver Sterbehilfe zu beantworten", und sie haben sich "für eine Ablehnung jeder Form von aktiver Sterbehilfe und für eine Förderung menschlich-christlicher Sterbebegleitung" eingesetzt. Diese Ablehnung ist begründet in einer Auffassung, die von der Würde und Unantastbarkeit des menschlichen Lebens ausgeht.

II.

Die Unverfügbarkeit des Menschen, seine Unantastbarkeit als Person, bedeuten die Einräumung eines unbedingten Lebensrechts. Sein Leben und das Eintreten seines Todes stehen nicht in der Verfügung anderer Menschen. Ohne solche prinzipielle Grenze für alle Eingriffe wäre die Würde des Menschen preisgegeben. Dies gilt es festzuhalten auch gegenüber jenen Menschen - die nicht mehr in der Lage sind selbstverantwortlich und selbstbestimmt ihren Willen zu bekunden - seien es behinderte Ungeborene oder Neugeborene, komatöse Patienten, geistig Behinderte oder geistig verwirrte alte Menschen. Grundsätzlich gilt: Keiner hat über Wert oder Unwert eines anderen menschlichen Lebens zu befinden. Diese fundamentale sittliche Einsicht hat sich niedergeschlagen im neuzeitlichen Menschenrechtsdenken und im Grundrechtskatalog unserer Verfassung (vgl. GG Art. 1, Abs. 1). Danach ist das Lebensrecht eines Menschen, unabhängig von seinem sozialen Status, seiner Leistungsfähigkeit, seinem Bildungsniveau, seiner Hautfarbe oder seinem Aussehen, seinem Geschlecht, seinem Alter oder seinem gesundheitlichen Zustand. Dieser Grundsatz von der gleichen Würde aller Menschen gilt ohne Einschränkung; auch für ungeborene oder geborene schwerstbehinderte Kinder.

Auf dem Hintergrund dieser Überzeugung ergibt sich, daß jene Auffassungen entschieden abzulehnen sind, die das Lebensrecht des Menschen von dem aktuellen Vorhandensein bestimmter Qualitäten abhängig machen. Seit einigen Jahren haben Thesen des australischen Philosophen Peter Singer Aufsehen erregt, der beim Embryo wie beim Neugeborenen dessen Interessen und schützenswerte Rechte in Frage stellt. Nach diesen Thesen ist der Schwangerschaftsabbruch und sogar die Tötung behinderter Neugeborener ethisch zulässig. Dem ist entgegenzuhalten, daß Glück oder Leiden, Annehmlichkeit oder Behinderung keine Kriterien für das Lebendürfen oder Sterbenmüssen eines Menschen sind; und daß die Unantastbarkeit des menschlichen Lebensrechts nicht gebunden ist an ein erkennbares "Interesse am Leben". Alle Auffassungen eines abgestuften Lebensschutzes gehen von einem reduzierten Personenbegriff aus; sie lassen sich nicht überzeugend begründen.

III.

Liebe Schwestern und Brüder! Die Ehrfurcht vor dem Leben, besonders die Anerkennung der Heiligkeit menschlichen Lebens gehört zum unverzichtbaren Kern des christlichen Glaubens. Diese Überzeugung wird durch das christliche Bild vom Menschen tiefer begründet. Theologisch gesehen bestimmt die Anerkennung des Menschen durch Gott den Menschen als Person. Das Ansehen vor Gott ist unabhängig von menschlicher Anerkennung und Einschätzung. Die Tatsache, daß jeder Mensch nach dem Bild Gottes geschaffen ist (Gen 1,26), begründet die Heiligkeit menschlichen Lebens (Gen 9,6). Gott kennt jeden Menschen und hält seine Hand bereits im Schoß seiner Mutter (Ps 139, 13-16). Unser Glaube erinnert uns daran, daß unser Leben von Gott her kommt und zu Gott hin führt. Er ruft uns dazu auf, im Alltag, besonders aber in extremen Grenz- und Konfliktsituationen, dem menschlichen Leben mit Ehrfurcht und Achtsamkeit zu begegnen. Er fordert uns auf, wachsam zu sein, gegenüber einer Haltung, die die Bewältigung von aussichtlosem Leiden nicht mehr im mitmenschlichen Beistand und in mitmenschlicher Gemeinschaft, sondern in der Tötung sucht. Die Herausforderung, vor der wir Christen stehen, beginnt nicht erst, wenn ein behindertes Kind geboren ist oder ein Mensch unmittelbar dem Sterben entgegengeht, sie erstreckt sich auf das menschliche Leben in allen seinen Phasen und Situationen, sie betrifft unsere ganze Kultur des Zusammenlebens.

Liebe Brüder und Schwestern, ich bitte und bestärke Sie, in Ihren Familien, in Ihrer Gemeinde, in Ihrer Umgebung, in Ihrer Nachbarschaft, den Weg zu einer Kultur des Lebens zu beschreiten, die - inmitten des Lebens - um Leiden, Sterben und Tod weiß und sie annimmt. Auf diesem Weg und in diesem Dienst am Leben begleite Sie der Segen des dreifaltigen Gottes, der ein Freund des Lebens und der die Fülle des Lebens ist.

+ Hubert Luthe, Bischof von Essen

Quelle: Ruhrwort, 28.03.1998


Aufgaben:
  1. Wie begründet Bischof Luthe die Unverfügbarkeit und Unantastbarkeit des menschlichen Lebens?
  2. Wie kann eine Kultur des Lebens aussehen? Nehmen Sie das Gedicht der Eltern eines behinderten Kindes (s.o.) zum Ausgangspunkt Ihrer Überlegungen.

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