Bundeskanzler Helmut Kohl

über die

Opfer des 23. Januar 1945

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Gedenkansprache vom 23. Januar 1995 anlässlich des 50. Jahrestages der Hinrichtung von zehn Widerstandskämpfern in Berlin-Plötzensee

Wir ehren heute zehn bedeutende Repräsentanten des deutschen Widerstandes, die am 23. Januar 1945 hier in Berlin-Plötzensee hingerichtet wurden. Sie wurden Opfer eines Willkür Regimes, das noch im Angesicht der nicht mehr abwendbaren Niederlage seine Gegner und auch deren Familien mit erbarmungsloser Härte verfolgte.

Die zehn Männer, die vor 50 Jahren hier ermordet wurden, kamen aus unterschiedlichen politischen Richtungen und aus verschiedensten Schichten unseres Volkes. Sie alle hatte der Kampf gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft zusammengeführt:

Diese Männer waren bereit, für Menschenwürde und Freiheit, für Gerechtigkeit und Wahrheit ihr Leben aufzuopfern. Sie wollten die Herrschaft des Rechts wiederherstellen. Es war ein Aufstand des Gewissens gegen die Herrschaft des Verbrechens. Gemeinsam mit anderen Angehörigen des Widerstandes haben die zehn Männer, vor denen wir uns heute verneigen, mit ihrem mutigen Handeln uns Deutschen auch geholfen, bald nach dem Krieg in die Gemeinschaft der freien Völker zurückzufinden.

Ihr Vermächtnis gehört zum Fundament des freiheitlichen und demokratischen Rechtstaats, in dem wir Deutschen nach Jahrzehnten der Teilung jetzt wieder gemeinsam leben dürfen. Für sie waren patriotische Gesinnung und die Treue zu sittlichen Werten eine untrennbare Einheit. Demgegenüber wollten die Nationalsozialisten unser ganzes Volk in den Untergang stürzen. Dies ist ihnen nicht gelungen.

Aus den guten Traditionen der deutschen Geschichte schöpften wir viel Kraft für den Neuaufbau noch 1945. Die Christlich Demokratische Union Deutschlands ist ein Symbol dieses Neuanfangs. Sie hat ihre Wurzeln ganz wesentlich in der Auflehnung des Gewissens und im Aufstand der Tat gegen die Nazi Barbarei. Eugen Gerstenmaier, Mitverschwörer des Attentats auf Hitler, hat einmal gesagt, Gründung und Geschichte der Unionsparteien seien "alles in allem der spontanste, der sichtbarste und der wirksamste ... Ausdruck der Wandlung Deutschlands und der Deutschen im 20. Jahrhundert".

Der erste Vorsitzende des Reichsverbandes der Christlich Demokratischen Union, wie damals die Berliner Gründung hieß, Andreas Hermes, saß noch neun Wochen vor seiner Wahl zum Parteivorsitzenden in der Todeszelle. Sein Nachfolger, Jakob Kaiser, war als christlicher Gewerkschafter ebenfalls führend am Widerstand gegen die Nazi Barbarei beteiligt. Fast alle der 35 Unterzeichner des Berliner Gründungsaufrufs vom 26. Juni 1945 waren Verfolgte des Nazi Regimes. Allein 15 von ihnen waren Beteiligte. Eingeweihte und dann auch Verfolgte im Zusammenhang mit dem Umsturzversuch vom 20. Juli 1944.

Leo Schwering, einer der Gründungsväter der CDU im Westen, sagte im Juni 1945 vor Überlebenden des rheinischen Widerstandes über seine ermordeten Gefährten die visionären Worte: "Sie fielen als Blutzeugen. Sie werden Samen für unsere Zukunft sein." Der Geist der Freiheit, der sich im Widerstand und in den Konzentrationslagern gegen totalitäre Unterdrückung und Unrecht herausgebildet hatte, ist die entscheidende Klammer der neuen Partei gewesen. Evangelische und katholische Christen erkannten, daß konfessionelle Gegensätze sie in der Auseinandersetzung mit den Feinden der Freiheit nur geschwächt hatten. Die Erinnerung an die Ursprünge unserer Union hat uns in den Jahren der deutschen Teilung die Kraft gegeben, unerschütterlich am Ziel der Einheit unseres Vaterlandes in einem freien und geeinten Europa festzuhalten.

Das Vermächtnis des deutschen Widerstandes nimmt alle demokratischen Parteien in die Pflicht. So erinnert der heutige Tag uns daran, daß die Würde jedes einzelnen Menschen aller staatlichen Gewalt vorausgeht und ihr übergeordnet ist. Sie ist ein absoluter Wert, der keiner Begründung bedarf. Die Politik kann und darf über diesen Wert nicht verfügen, sondern hat ihn bedingungslos zu achten.

Das Gedenken an die Opfer des deutschen Widerstandes mahnt uns auch, den antitotalitären Grundkonsens, auf dem die Bundesrepublik Deutschland nach dem Krieg gegründet wurde, zu erneuern. Wer heute konsequent unsere freiheitliche. Demokratie verteidigt, wird morgen nicht in die Lage kommen, Widerstand leisten zu müssen.

Jeder ist aufgefordert. ideologisch begründeten Machtansprüchen zu widerstehen und jeglicher Form von Fanatismus entgegenzutreten. Intoleranz und Mißachtung des anderen dürfen in Deutschland nie wieder eine Chance haben. Wir schulden den Männern und Frauen des deutschen Widerstandes für immer Dank. Ihr Vermächtnis bleibt wirksam. Erweisen wir uns ihrer als würdig!


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