Gedicht von Eltern eines behinderten Kindes

Ich habe Angst - Ich habe Mut

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Ich habe Mut,
wenn ich in das Gesicht meines Sohnes sehe.
Ich habe Angst,
wenn andere ihn ängstlich anschauen.
Ich habe Mut,
wenn ich sein phantasievolles Spiel betrachte.
Ich habe Angst,
daß andere seine Liebe zur Welt zurückweisen.
Ich habe Mut,
wenn ich ihn lachend, weinend, glücklich, wütend erlebe.
Ich habe Angst,
daß andere ihn als gefühllos bewerten.
Ich habe Mut,
wenn Johannes mit viel Vertrauen auf andere Menschen zugeht.
Ich habe Angst,
daß ihn eines Tages jemand mißbraucht.
Ich habe Mut,
wenn ich ihn in einem Regelkindergarten mit vielen Kindern,
Erzieherinnen gemeinsam leben und lernen sehe.
Ich habe Angst,
wenn Mütter ihren Kindern verbieten, mit Johannes zu spielen.
Ich habe Mut,
wenn ich erlebe, wie selbstverständlich Menschen Johannes annehmen
und mit ihm umgehen.
Ich habe Angst,
daß ein Anstötz und ein Singer vielen Menschen aus der Seele sprechen.
Ich habe Angst,
daß Zustände wie vor 50 Jahren entstehen.
Ich habe Angst,
weil ich nicht will, daß Johannes die wenigen Menschen, die ihn ernst
nehmen, immer brauchen wird, damit er so sein darf wie er ist.
Ich habe Angst,
immer Angst haben zu müssen, weil die Wissenschaft
eine Grenze ziehen will.
Ich habe Angst,
daß die Politik so eine Wissenschaft als Berechtigung für
menschenunwürdige Entscheidungen benutzt.
Ich habe Angst,
irgendwann keine Kraft mehr zu haben, mich gegen solche Strömungen
wehren zu können.

Ich bekomme Mut,
wenn ich EUCH HIER sehe und höre, wenn ich spüre, daß der
Widerstand mitgetragen wird.
Dann kommt so eine leise Ahnung von einem lebendigen
Leben gemeinsam mit allen MENSCHEN !!!

Ulla und Johannes Kreienburg - Anger

Quelle: Aus der Zeitschrift "zusammen" Heft 9/1989, S. 8


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