Dieses Buch ist kein Schulbuch wie andere. Es wurde von zwölf europäischen Historikern unterschiedlicher Nationalität gemeinsam verfaßt. Sie sind mit mir davon überzeugt, daß die Geschichte Europas jenseits der Vergangenheit ihres eigenen Landes angesiedelt ist, auch wenn jede Nation gleichermaßen daran beteiligt ist und deshalb keine außer acht gelassen werden darf. Der Zufall wollte es, daß ich gleichzeitig als Brite, Franzose und Norweger zur Welt kam. Folglich sind die Gründe begreiflich, die mich veranlaßten, die Initiative für dieses Werk zu ergreifen. In der Schule schlug mir häufig das Mißtrauen meiner englischen und französischen Mitschüler entgegen, weil ich keiner Nation vollständig angehörte. Auf welche Seite sollte ich mich schlagen, wenn der Hundertjährige Krieg, der spanische Erbfolgekrieg oder die napoleonischen Kriege behandelt wurden?
Über derartige Probleme ist die Zeit längst hinweggegangen. Wir müssen aber noch mehr tun, um die nationalistischen Ausbrüche ein für allemal zu bewältigen, die bisweilen für antidemokratische Ausbrüche genutzt wurden. Das gilt auch bezüglich der Furcht, durch fremde Mächte beherrscht zu werden; solche Angst entsteht insbesondere mit der Vorstellung, daß sich die nationale Souveränität auflöse. Je mehr sich Europa über die Frage seiner Bestimmung vorantastet, umso deutlicher scheint etwas Ungreifbares seine Völker auf ihrem Weg der gegenseitigen Annäherung zu bremsen. Dieses undefinierbare "Etwas" setzt sich - je abgestuft - aus unterschiedlichen Wirtschaftsinteressen, verschiedenen Sprachen und kulturellen Traditionen zusammen. Gerade letztere besitzen ein zähes Leben. Sie werden innerhalb der Familien von Generation zu Generation weitergegeben, aber zu oft auch durch bestimmte Sichtweisen im Unterricht am Leben gehalten.
Natürlich beginnt der Lehrer mit der Geschichte des eigenen Landes. Steht sie nicht jedem am nächsten? Verkörpert sie nicht die Seele und das Erbe der Nation? Den nationalen Gedanken gibt es doch erst seit einigen Jahrhunderten. Häufig spielte die Erziehung bei der Verankerung und manchmal auch Übersteigerung des Nationalbewußtseins in den Köpfen junger Menschen eine entscheidende Rolle. Kann die Geschichte beim Zusammenwachsen Europas heute nicht eine ähnlich erzieherische Rolle spielen? Es ist ein empfindliches, aber gleichzeitig auch packendes Fach. Die Geschichte hilft uns, unsere Ursprünge zu begreifen und die Spannungen zu erkennen, die seit den Anfängen zu verzeichnen sind und die heute noch in einzelnen Teilen Europas wirksam sind. Aus der Vergangenheit könnnen wir aber auch Gemeinsamkeiten ableiten, das heißt alles, was dem Wort "Europa" Sinn verleiht. So veranlaßt der Umgang mit Geschichte zum Nachdenken über die Gegenwart und noch mehr über die Zukunft (...)
Frederic Delouche
Quelle: Europäisches Geschichtsbuch / erarbeitet von 12 europäischen Historikern, Stuttgart 1992