Abituraufsätze von 1942

im Fach Deutsch aus Essen Borbeck

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Worte in Klammern () sind Korrekturen des Lehrers

Deutsche Prüfungsarbeit

Essen, den 26. 2. 42

Wie stellen Sie sich zur Tendenz des Films "Ich klage an"?

Im vorigen Jahre lief in Deutschland ein Film an, der ein überaus schwieriges Problem aufwarf und an die Öffentlichkeit brachte (die Gemüter bewegte). Er hatte den Titel "Ich klage an". Sein Inhalt war in kurzen Zügen folgender: Die Frau eines Arztes erkrankt an einer chronischen, unheilbaren Krankheit. Es handelt sich um die multiple Sklerose, die schleichend ein Organ nach dem anderen befällt und schließlich unter großen Schmerzen den Tod herbeiführt. Der Arzt versucht nun mit größter Anstrengung, (den Erreger zu entdecken und) ein Mittel gegen diese Krankheit zu finden. Als es ihm trotz unmenschlicher Arbeit nicht gelingt, setzt er sich über das bestehende Gesetz hinweg, gibt seiner Frau auf ihr Verlangen Gift und macht ihr so das Sterben leicht. Es kommt zur Gerichtsverhandlung, in der der Angeklagte schließlich zum Ankläger wird und dieses Gesetz als nicht tragbar hinstellt. Die Entscheidung mußte man dem Film selbstverständlich erlassen (ließ der Film offen).

Es ist nun interessant, einmal zu erörtern (wichtig, festzustellen) wie sich die einzelnen staatlichen und religiösen Einrichtungen zu diesem Problem stellen. Die klarste und durchsichtigste Stellung nimmt wohl der Jurist ein. Die vorsätzliche Beseitigung eines Menschen, und davon kann (muß) man hier ja wohl sprechen, ist Mord oder vorsätzliche Tötung und (beides) wird nach den §§ 211 und 212 des Strafgesetzbuches mit dem Tode oder mit Zuchthaus nicht unter fünf Jahren bestraft. Diese Paragraphen sind auch heute noch nicht im Sinne dieses (unseres) Problems geändert worden.

Der Staat kann nach zwei Seiten hin Stellung nehmen. Einerseits muß es ihm angelegen sein, gesundes Erbgut zu erhalten, andererseits muß aber (oft) schädliches Erbgut ausgemerzt werden.

Auch die Stellung der katholischen Kirche kann man als durchaus klar bezeichnen. Sie muß diesen Eingriff in das Leben ablehnen; denn nach ihrer Lehre hat Gott einem Menschen das Leben gegeben, und er allein ist daher berechtigt, es wieder zu nehmen. (Todesstrafe?) Die Stellungnahme der evangelischen Kirche ist dagegen weniger eindeutig.

Wenn man sich nun die Frage vorlegt, wie das Problem der Euthanasie vom menschlichen Standpunkte aus zu beurteilen ist, so muß (kann) man folgendes sagen: Wenn ein Mensch mit schweren körperlichen Qualen darniederliegt, und der Tod noch nicht an ihn herantreten will, so bedeutet es zweifellos für ihn eine Erlösung, wenn man durch ein künstliches Mittel den Tod schneller herbeiführt. Daher ist die Euthanasie von diesem Standpunkte aus zu billigen.

Welche Folgen würde nun die Aufhebung des bestehenden Gesetzes haben (nach sich ziehen)? Der Arzt, der einen derartigen Eingriff vornimmt (nach Entscheidung eines Sachverständigen-Ausschusses), würde straffrei ausgehen. Ich glaube jedoch nicht, daß er eine solche Tat ohne sein Gewissen (immer mit reinem Gewissen) begehen kann. Die innere Stimme ist doch eine zu starke Macht, als daß sie einfach übergangen werden könnte (dürfte). Ich könnte mir weiter vorstellen, daß ein skrupelloser Arzt bei einem persönlichen Feind eine unheilbare Krankheit als Diagnose stellt und ihn so ohne Strafe umbringen könnte. (Die Gefahr würde bei einem Gremium gemildert sein.) Zu der Frage, ob eine Beseitigung der Idioten (Vollkrüppel, zum Beispiel Schwerkriegsbeschädigte) gerechtfertigt ist, möchte ich folgendes sagen: Wenn auch diese Menschen heute unproduktiv sind und dem Staate zur Last fallen, so haben sie doch meist früher etwas geleistet. (sehr viele von Geburt auf idiotisch) Wenn sie nun ohne ihre Schuld dem Vaterlande heute nicht mehr dienen können, so ist das kein Grund, sie zu beseitigen. Der praktische Nutzen darf nicht immer (gegenüber der unterschiedlichen Bedeutung des) dem sittlich-moralischen Fühlen und Denken zurücktreten, wie es leider heute häufig der Fall ist.

Wir sehen also, daß manches für die Aufhebung des Gesetzes, aber meiner Ansicht nach wichtigere Faktoren dagegen sprechen. Viele Menschen, die heute das Gesetz abtun möchten, würden vielleicht ganz anders sprechen, wenn unter ihren eigenen Angehörigen ein derartiger Fall vorläge. Wenn das Gesetz bestehen bliebe, können für den ehrenhaften und korrekten (verantwortungsbewußten) Arzt keine Zweifel aufkommen, denn er handelt nach dem Gesetz. Bei einer Aufhebung würde das Gewissen des Arztes einen großen Zwiespalt hervorrufen (mehr belastet werden, denn er würde ja auch nach dem Gesetz handeln!), an dem er vielleicht zerbrechen könnte.

Der Film lief gerade zu einer Zeit, da durch einige Gerüchte dieses Problem aktuell zu werden begann (in aller Munde war). So wurde es durch das volkstümlichste aller Volksaufklärungsmittel - als solches kann (darf) man den Film heute wohl bezeichnen - den meisten Volksgenossen zugänglich gemacht (aufgenötigt). Da der Film die Lösung des Problems nicht brachte, mußte sich hier der Einzelne (jeder) seine eigenen Gedanken machen. Es ist jedoch heute, in einer Zeit, in der alle Menschen ungeheuer eingespannt sind, naturgemäß so, daß der Einzelmensch kaum Zeit hat, sich mit (derartig) wichtigen Problemen eingehend auseinanderzusetzen. Es wäre deshalb vielleicht besser gewesen, diese wichtige Frage (zurückzustellen) zunächst in gelehrten Fachkreisen eingehend zu besprechen (ist geschehen) und dann zu einer Lösung zu kommen, die beiden Teilen gerecht würde.

(Klar und (...) ! Stilistisch (...) Gut.)

(Abschließender Kommentar z.T. unleserlich.)


Worte in Klammern () sind Korrekturen des Lehrers

Deutsche Prüfungsarbeit

Essen, den 26. 2. 42

Wie stellen Sie sich zur Tendenz des Films "Ich klage an"?

Die Tendenz des Films "Ich klage an" kann dem denkenden Beobachter kaum verborgen bleiben. Die Beantwortung des Fragepunktes (der aufgeworfenen Frage) ist ganz offensichtlich (klar, gegeben). Es soll dem Arzt erlaubt werden, mit Zustimmung eines aus medizinischen Sachverständigen bestehenden Ausschusses einen unheilbaren, unbedingt dem Tode geweihten Kranken auf seinen eigenen Wunsch (wird nicht immer möglich sein) von seinen qualvollen Leiden zu erlösen und ihn durch ein schmerzloses (und schmerzstillendes) Mittel sanft entschlafen zu lassen. Die in dem Film angeführten Beweggründe zur Rechtfertigung einer derartigen Handlungsweise könnten vielleicht im Augenblick verfangen, bei näherer Betrachtung erweisen sie sich aber sachlich, wie auch seelisch als unhaltbar.

Es ist sicher für den Arzt und für die Angehörigen oft hart und bitter, einen Menschen furchtbar leiden zu sehen und ihm doch nicht helfen zu können. Ganz zweifellos bedeutet auch die Pflege und Erhaltung unproduktiver Kranker für die Gemeinschaft des Volkes und für den Einzelnen eine schwere finanzielle und soziale Belastung. Aber ist es deshalb erlaubt, diese Kranken zu töten und sich von ihrer Last zu befreien? Nein, und nochmals nein. Das machtvolle göttliche Gebot lautet: "Du sollst nicht töten", es lautet nicht: "Ja, im allgemeinen ist zwar der Mord verboten, aber unter gewissen Umständen läßt er sich denn doch rechtfertigen." (Derartige Ausnahmen machen wir allerdings: Todesstrafe, Krieg.) Die Euthanasie ist und bleibt vorsätzliche Tötung, so beurteilt sie wenigstens bis heute noch das Gesetz, und als solche müßte (muß) sie jedem sittlichen und religiösen, jedem von der Weisheit der göttlichen Weltordnung durchdrungenen Menschen erscheinen.

Es wäre ein feiger und eines wahren Menschen unwürdiger Standpunkt, nur die gesunden Tage und die Freuden des Lebens lieben zu wollen, der Krankheit und Not aber zu entfliehen und im Angesichte des Todes zu versagen. F. W. Förster hat nicht Unrecht mit der Behauptung, der Mensch bewähre sich erst im Leiden. Der Wille Gottes kennt keine Zweckwidrigkeit, seine Ratschlüsse haben in jedem Falle einen letzten und höchsten Sinn; wir Menschen vermögen nur diesen Sinn nicht immer zu erkennen. Auch das Leiden dient sicherlich einem höchsten Zweck, (z.B. auch Erziehung für andere) und wir haben uns ihm gegenüber fest und standhaft zu bewähren und nicht feige davor zurückzuschrecken.

Wenn auch der Wunsch eines Kranken, von seinem Leiden erlöst zu werden, in dem qualvollen Zustande noch manchmal (menschlich) zu entschuldigen ist, so bleibt die Einwilligung des Gesunden in diesen Wunsch ein Mord.

Gott hat das Leben geschaffen und nicht der Mensch, der also auch kein Recht hat, es frevelhaft zu zerstören. (Gut!) Der Arzt ist ein Diener des Lebens und nicht des Todes. Er hat die hohe Pflicht und Aufgabe, zu heilen und Schmerzen zu lindern, nicht aber nach seinem Gutdünken (Ausschuß von Sachverständigen) das Leben zu vernichten.

Wer vermag denn überhaupt mit untrüglicher Sicherheit festzustellen, dieses Leiden sei unheilbar und jener Kranke müsse unbedingt sterben? Es gibt Krankheitsfälle, bei denen entgegen aller menschlichen Berechnung und Voraussicht doch die Gesundung eintritt. Hier also der göttlichen Bestimmung durch verfrühten Eingriff vorauseilen zu wollen, wäre vermessen und ein Verstoß gegen das göttliche Gesetz.

Würde nicht auch mit der Tötung der unheilbar Kranken der Menschheit der Gegenstand so unendlicher, hingebungsvoller Liebe und Opferfreudigkeit genommen werden, der so die hohen und edlen Eigenschaften zur Geltung kommen läßt? (Gut!) Sicherlich könnte die so verwendete Kraft den positiven Aufgaben des Volkes zum Nutzen gereichen, ist es aber nicht auch schwerer, das Arme und Verlassene zu lieben, als Arzt zu wirken, wo Ehre und Erfolg sinken?

Wenn dem Arzte die Gewalt über das Leben des Kranken übertragen würde, so müßte notwendig die Achtung des Volkes vor der medizinischen Wissenschaft, wie vor dem Leben überhaupt, sinken.

Im übrigen ist doch wohl das Erscheinen eines Films mit einer offenbar gegen das augenblicklich gültige Staatsgesetz gerichteten Tendenz unzweckmäßig und nicht zur wahrhaften Erziehung des Volkes geeignet. Einfache Volkskreise nehmen so eine Meinung an, die vom Standpunkte des Staates, wie auch der Religion nicht zu billigen ist. (Gut!)

Das dritte Reich hat alle möglichen und notwendigen Maßnahmen ergriffen, erbliche Krankheiten zu verhindern, es fördert die medizinische Wissenschaft in jeder Hinsicht. Damit dient es der Erhaltung des Lebens im wahrsten und schönsten Sinne.

(Sehr gute Gedanken, wenn auch - wohl gemerkt! - einseitig, da hauptsächlich vom religiösen Standpunkte getragen. Todesstrafe, auch der Krieg, wären Abweichungen vom göttlichen Gebot. Stilistisch sehr flüssig. Gut.)

Quelle: Zur Verfügung gestellt von Prof. Dr. W. Breyvogel, Universität Essen


Aufgaben:
  1. Stellen Sie die wesentlichen Aussagen der beiden Aufsätze stichwortartig zusammen!
  2. Welche Erziehungsziele und Moralvorstellungen aus dem zeitgeschichtlichen Kontext werden von den beiden Prüflingen angesprochen, wie nehmen die Prüflinge dazu Stellung?
  3. Wie bewerten Sie die rationalen Argumente der Prüflinge aus heutiger Sicht?
  4. Wie bewerten Sie die moralischen Argumente der Prüflinge aus heutiger Sicht?
  5. Wie bewerten Sie die Anmerkungen des korrigierenden Lehrers?


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