Carl Klinkhammer:

Die deutschen Katholiken und die Schuldfrage, Oktober 1946

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(...) Und wir alle haben nicht bloß "mit der großen Hure Babylon gelebt", freiwillig oder unfreiwillig. Denn es kann in keiner Weise geleugnet werden, daß im Laufe der Zeit die Mehrzahl des deutschen Volkes, und zwar jeder Einzelne objektiv und subjektiv, schwerste Schuld auf sich geladen hat, da er der Partei trotz zahlreicher gewichtiger Warnungen seine Zustimmung öffentlich oder geheim, frei oder gezwungen seine Stimme (äußerlich freilich zu harmlos scheinenden Führer-Fragen!) gegeben hat. Gar zu leicht und willfährig ließ man sich von einer verlogenen Propaganda einfangen. Man wollte nicht die Wahrheit erkennen. Man hatte nicht den Mut zu protestieren, obwohl man es zunächst noch gekonnt, in jedem Fall aber vom Gewissen her gemußt hätte.

Wird auch in dieser Hinsicht ein Christ vor dem Nichtchristen schuldig, so werden die Kirchen und ihre Priester vor den Christen und Laien schuldig. Denn hätten wir Priester aIle und allzeit Zeugnis für Christus gegen den menschgewordenen Antichrist und seine brutalen Gesetzlosigkeiten abgegeben, mag sein, daß man uns alle dann ermordet hätte. Mag aber auch sein, daß dann damals schon die ganze Welt aufgehorcht hätte. Und auf die immer wieder laut werdende "kluge, aberkluge" Frage: "Was hätte uns aber die Ermordung unserer Priester und die damit verbundene Vernichtung der Kirchen genützt?" sei mit Pfarrer Niemöller geantwortet: "So darf ein Christ nie fragen!" - "Tue recht und scheue niemand!" sagt ein alter, christlicher Weisheitsspruch. Nach ihm haben die Märtyrer zu allen Zeiten gehandelt, deren Blut immer wieder Same für neues Christentum geworden ist.

Sicherlich wäre es ein Unrecht zu behaupten, das edelste deutsche Wesen habe sich nicht empört gegen die Schandtaten Adolf Hitlers. Es wäre gewiß unwahr zu sagen, die besten Einzelgewissen und die christlichen Kirchen hätten geschwiegen und damit zugestimmt. Doch ebenso berechtigt und dringend notwendig ist auch die Frage: Haben die Einzelchristen und die Kirchen durch den Mund ihrer Vorsteher einheitlich und immer so vernehmlich und allgemein verständlich gesprochen, daß dadurch ein Sturm der Volksentrüstung über die brutale Willkür des Nationalsozialismus entfacht worden wäre? Oder hat man nicht doch in vermeintlicher Klugheit weitgehendst Rücksicht genommen auf die feinnervigen Ohren "rechtsstehender" (um nicht zu sagen nationalsozialistischer) Kirchenbesucher? Fürchtete man nicht ängstlich ihr protestartiges Verlassen des Gottesdienstes? Scheute man nicht die ablehnende Kritik sogenannter nationaler Christen oder Katholiken an den von vielen ersehnten, mitunter eindeutigen, nicht kompliziert verklausulierten, allgemein verständlichen Kanzelverkündigungen? Suchte man nicht - ein wahrhaftig sehr schlechtes Beispiel gebend - mangelnde Zivilcourage mit der Tugend angeblich "christlicher" Klugheit notdürftig zu bemänteln? Und wurden nicht weithin Priester, die diese "Klugheit" nicht mit Ihrer Gewissensstimme vereinbaren konnten und wegen Vergehens gegen den Kanzelparagraphen und das sogenannte Heimtückegesetz abgeurteilt wurden, von weiten Kreisen des Kirchenvolkes, sondern auch von ihren geistlichen Behörden als unkluge, stürmische Draufgänger mit dem Schlagwort "Politik gehört nicht auf die Kanzel" abgelehnt und entsprechend behandelt? Ist nicht die Bekenntniskirche, zumal im katholischen Lager, schon gleich in ihren ersten Anfängen aus Unverständnis und überklugen Nützlichkeitserwägungen untergraben worden von den eigenen Leuten? Es gab wohl eine Front der redenden und bekennenden Ablehnung des Hitlerismus. Aber die Front der schweigenden Ablehnung war ungleich größer. Viel, viel größer!

Wir wollen ehrlich bleiben. In Ehrfurcht verneigen wir uns vor denen, die überzeugungstreu Freiheit und Stellung und Leben eingesetzt haben für das "Nein" ihres Gewissens und die jederzeit und kompromißlos dazu bereit gewesen sind. Doch keiner - auch kein noch so mutiger Bekenner (!) - rühme sich heute und nehme sich selbst bei der Anerkennung irgendeiner Schuld am Emporkommen und Bestehenbleiben des zwölfjährigen Tausendjahrreiches Hitlers pharisäisch aus: Kein Christ, und kein Militarist, kein Priester und kein Laie, kein Pfarrer und kein Bischof, kein Arbeitnehmer und kein Arbeitgeber, kein Beamter und kein Angestellter, kein Kaufmann und kein Bauer, kein Vater und keine Mutter, kein Mann und keine Frau, keiner, keiner! Es sei nur kurz angefügt, daß die, denen das Recht, sich als Bekenner heute zu rühmen, redlich zustünde, in dieser Hinsicht heute die Stillsten im Lande sind, wissend, daß sie wirklich nicht mehr als nur Ihre Pflicht taten. Doch gerade sie sind es, die heute bereit sind, an der Schuld der anderen sühnend mitzutragen.

Sünde und Schuld! (...). Sünde und Schuld sind im deutschen Volk, das tatsächlich Zeuge so vielfältiger antisemitischer Barbareien und unmenschlicher KZ-Brutalitäten gewesen ist, furchtbarste Wirklichkeiten. Als Hitler und Himmler und ihre Komplizen im feigen Selbstmord weggingen und sich der Verantwortung vermeinten zu entziehen, da haben sie ihre und unsere Verschuldung nicht mitgenommen. Der Nürnberger Prozeß und alle übrigen Kriegsverbrecherprozesse werden sie nicht aus der Welt schaffen. Zentnerschwer lastet die Schuld noch auf dem deutschen Volk. Und diese Schuldenlast wird um so drückender, je weniger das deutsche Volk sie wahrhaben und erkennen will. (...)

Einmal wird der Herr einen jeden von uns fragen: Hast du mich besucht, da ich als "Kommunist" oder "Andersdenkender" in den Zuchthäusern des Dritten Reiches und hinter dem Stacheldraht der Konzentrationslager schmachtete? Hast du dich (wenn es einmal hochkam mit deinem Bekennermut), nicht nur mit einem frommen Gebetlein für mich, den gefangenen und konzentrationierten Christus, begnügt und die dich bei der Gestapo diffamierende Gefahr nicht achtend, teilnehmend an meinem Leid, mir wenigstens etwa ein kleines Päckchen Zigaretten in die Gefangenschaft geschickt? - Was du dem Geringsten meiner Brüder nicht getan hast, das hast du mir nicht getan.

Oder der Herr wird sagen: Ich bin es gewesen, der als geistig Minderwertiger und erblich Belasteter in den Krematorien gewisser Heil- und Pflegeanstalten euthanasiert worden ist. Hat das dich in tiefster Seele bekümmert? Bist du wirklich nicht müde geworden etwa beim Angelusläuten immer und immer wieder in die Welt hinauszuschreien: In meinem Vaterland wird ununterbrochen unschuldiges Menschenleben gemordet! - Was du an dem Geringsten meiner Brüder und Schwestern versäumtest zu tun, das hast du versäumt an mir zu tun. Oder der Herr wird sagen: Damals, als der Elendszug von Tausenden todgeweihter Juden an dir vorüberzog (...), da schaute ich auch nach dir aus und flehte um Erbarmen. Aber du bist zu meiner Todesqual in diesen meinen unschuldigen jüdischen Menschenbrüdern und -schwestern stumm geblieben. Was du dem Geringsten meiner Schwestern und Brüder nicht getan hast, das hast du mir nicht getan.

So könnte der Herr schier endlos fortfahren, das deutsche Volk zu fragen! Daß wir uns doch nicht vor der Schulderkenntnis drücken! Die Schuld begann nämlich für viele schon lange vor 1933, da wir z. B. nicht opferwillig und selbstlos genug an der Verwirklichung eines wahrhaft sozialen Staates gearbeitet hatten, der dem Nationalsozialismus die Voraussetzungen für seine verhängnisvolle Entwicklung genommen hätte. (...) Die Schuld lag schon in der von den Bischöfen vollzogenen, grundlosen und unbegründeten Aufhebung des episkopalen Verbotes der Parteimitgliedschaft für katholische Christen. Schuld lag schon in dem vom Jahre 1933 ab auf fast allen Kanzeln zu vernehmenden Hinweis, daß der Christ (gemäß dem irrig ausgelegten Paulusbrief) jeder staatlichen Obrigkeit untertan sein müsse.

Schulderkenntnis und Schuldanerkenntnis sind nicht das gleiche. Das erste ist unumgänglich nötig für jeden Deutschen. Das zweite ist sehr erwünscht und dringend geboten. Daß wir uns doch um diese Schuldanerkenntnis nicht drücken: "Vater, ich habe gesündigt vor dir und vor den Mitmenschen."(...) Daß wir uns doch nicht länger zu rechtfertigen trachten mit dem Hinweis auf die Alliierten, deren Weltreiche auch nicht nur durch die Befolgung der Bergpredigt Christi entstanden seien, in der geschrieben steht, daß selig sind die Friedfertigen, denn sie werden das Erdreich besitzen. (...)

Die heutige große Not des deutschen Volkes kann seine größte Gnade sein. Es geht heute wirklich nicht um würdelose Selbstanklage und um öffentliche Beichte. Es geht um die Ueberwindung der Herzenshärte und der pharisäischen Selbstgerechtigkeit. Es geht um die Ueberwindung des heute so furchtbar verbreiteten Egoismus in allen seinen betrüblichen Formen und nationalistischen Schattierungen.

Wäre es da nicht an der Zeit, zur Ueberwindung dieser seelischen Epidemien, der Ich-sucht und der Selbstgerechtigkeit in allen deutschen Landen Volksbußwallfahrten im strengsten Sinne des Wortes zu veranstalten? Nicht in "Sack und Asche" Buße tun, sondern in Gesinnung Buße tun! Die Kirchen-"Fürsten" an der Spitze! Durch solch bekennendes Beten und Büßen könnte auch beim letzten Deutschen (und gewiß nicht nur bei diesen!) die innere Sinneswandlung bewirkt werden, deren wir niemals entraten dürfen beim Aufbau des neuen Abendlandes.

Quelle: Neues Abendland, Oktober 1946, S. 12-16

Aus: "Nikolaus Groß, Arbeiterführer - Widerstandskämpfer - Glaubenszeuge, Wie sollen wir vor Gott und unserem Volk bestehen?" Details zu diesem Buch mehr..., Seiten 252 - 255


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