Interview mit Bernhard Groß

Gespräch zwischen einer Studierenden des Nikolaus-Groß-Abendgymnasiums und Bernhard Groß, dem jüngsten Sohn von Nikolaus Groß

aufgezeichnet am 16. März 1998

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Als Ihr Vater starb, waren Sie neun Jahre alt. Welche persönlichen Erinnerungen haben Sie an diese doch relativ kurze Zeit? Hatte Ihr Vater während seiner Tätigkeit im Kettelerhaus überhaupt Zeit, am Familienleben teilnehmen zu können?

Unser Vater war viel zu Hause, das war das Schöne an unserem Familienleben. Wir wohnten auf dem Gelände des Kettelerhauses in Köln, der Verbandszentrale der KAB. Unser Vater hatte in seinem Büro seinen Schreibtisch so stellen lassen, daß er immer durch das Fenster seine spielenden Kinder sehen konnte. Er war morgens zum Frühstück da, mittags zum Essen und zum Abendbrot. Die Mahlzeiten mit der Familie waren für ihn ganz wichtig.

Der Tisch, an dem wir uns täglich mit unseren Eltern mehrmals versammelten, spielte in unserem Familienleben darum eine besondere Rolle. An ihm wurde nicht nur gegessen und getrunken, sondern auch reichlich geistige Nahrung vermittelt. Manche Überlegungen nahmen an diesem stummen Diener der Familie ihren Anfang. Es waren ganz sicher die schönsten Stunden unserer Kindheit und Jugend, die wir mit unseren Eltern in Gesprächen über Gott und die Welt in der Tischrunde verbrachten.

Unser Vater hat viel gearbeitet und er war auch oft von zu Hause fort, aber er nahm sich immer Zeit für seine Familie, so oft und so lange es ihm möglich war. Neben seinem Glauben war ihm die Familie eine große Kraftquelle. Hochfeste im Jahreskreis waren immer besondere Ereignisse im Leben unserer Familie. Dazu zählten natürlich Ostern und Weihnachten, aber auch alle Sonn- und Feiertage.

Nach dem gemeinsamen Besuch der Hl. Messe gehörte der Sonntag in der Regel der Familie. In seinen vielen Schriften, die er nach dem Verbot der Ketteler-Wacht verfaßte, geht er oft auf die Heiligung des Sonntags ein. In der zerissenen Welt, in der wir lebten, war ihm das ein ganz besonderes Anliegen.

Bezeichnend für seine Vorstellung von Sonntagsheiligung war auch die Regelung, daß jedes der Kinder im Wechsel ein zweites Mal in die Kirche ging, weil unser in Rußland vermißter Bruder Klaus am Besuch des Sonntagsgottesdienstes gehindert war.

In einem 1938 erschienenen Beitrag "Kinder an der Krippe" schilderte er den Hl. Abend und den Weihnachtsmorgen in unserer Familie sehr liebevoll und ausführlich. Auch heute, mehr als 60 Jahre später, lohnt es sich noch, diese Zeilen nachzulesen. Es ist ein zeitgeschichtliches Dokument eines liebenden und fürsorglichen Vaters.

Viele Menschen können nicht verstehen, daß ein Mann, der seine Frau und seine Kinder liebt, eine bewußte Entscheidung für den Widerstand trifft und sich so in Todesgefahr begibt. Sie stellen die Frage, ob Nikolaus Groß seine Familie "im Stich gelassen" habe. Wie hat die Familie, wie hat Ihre Mutter und wie haben Ihre Geschwister das empfunden?

Es scheint auch heute noch so zu sein, daß sich ein Laie auf dem Hintergrund einer von ihm getroffenen Gewissensentscheidung auch vom Grundsatz her mehr und nachhaltiger hinterfragen lassen muß als Priester und Ordensleute. Mir ist das unverständlich.

Es ist sicher nicht unwichtig, wie andere die Entscheidung unseres Vaters bewerten, Gott mehr zu gehorchen als den Menschen. Für mich ist wichtig, wie groß in der Frage, allein dem eigenen Gewissen zu folgen, die Übereinstimmung zwischen meinem Vater und meiner Mutter war. Nur sie allein hätte im Zweifelsfall das Recht gehabt, sich verlassen zu fühlen oder ihn zu kritisieren. Man braucht heute nicht mehr darüber zu spekulieren, wie sie für sich, aber auch für uns damals unmündige Kinder, diese Frage beantwortet hat.

Es gibt ausreichend Belege und schriftliche Zeugnisse darüber, daß meine Eltern den Weg, der meinen Vater letztlich nach Plötzensee führte, im Bekenntnis des Glaubens gemeinsam gegangen sind.

In seinem Brief vom "Dreikönigstag" ist noch seine große seelische Belastung erkennbar. Nachdem unsere Mutter ihn am gleichen Tag besuchen konnte, schreibt er in einem Kassiber vom 11. Januar 1945:

"Gottes Wege sind wunderbar, und wie er uns etwas schickt, das können wir nicht vorausberechnen. ...... Dein Besuch am Samstag war für mich eine solche Quelle neuen und noch größeren Mutes und Vertrauens, daß ich es gar nicht sagen kann -, aber nach dieser Verschiebung auf unbestimmte Zeit kannst Du unmöglich hier bis zur Festsetzung und Abhaltung des neuen Termins warten. Es kann Wochen dauern - möglicherweise aber auch schon in Tagen sein. Dies letztere allerdings ist wahrscheinlicher. Ich bitte Dich aber im Interesse der Kinder, wieder heimzufahren. Beten kannst Du auch zu Hause, und ich habe durch Deinen Besuch festgestellt, wie nahe wir uns in jedem Augenblick auch über 500 Kilometer Entfernung sind. Unsere Herzen und Gedanken schlagen im gleichen Takt, und das ist ja schließlich wichtiger als räumliche Nähe."

In seinem Abschiedsbrief vom 21. Januar 1945 kommt er noch einmal ausführlich auf die völlige Übereinstimmung mit unserer Mutter zu sprechen. Seine letzten persönlichen Worte an sie drücken seinen Dank aus:

"Besonders Dir, liebe Mutter, muß ich noch danken. Als wir uns vor einigen Tagen für dieses Leben verabschiedeten, da habe ich, in die Zelle zurückgekehrt, Gott aus tiefem Herzen gedankt für Deinen christlichen Starkmut. Ja, Mutter, durch Deinen tapferen Abschied hast Du ein helles Licht auf meine letzten Lebenstage gegossen. Schöner und glücklicher konnte der Abschluß unserer innigen Liebe nicht sein, als er durch Dein starkmütiges Verhalten geworden ist. Ich weiß: Es hat Dich und mich große Kraft gekostet, aber daß uns der Herr diese Kraft geschenkt hat, dessen wollen wir dankbar eingedenk sein."

Im Blick auf seine sieben Kinder schreibt er weiter, daß es ihm in den Monaten der Gefangenschaft Sorgen gemacht habe, was wohl einmal aus ihnen werden möge, wenn er nicht mehr bei seiner Familie sein könnte. Die Antwort, die er hierzu gibt, ist nicht das Ergebnis einer vordergründigen Selbsttäuschung, sondern der Ausdruck seines unbedingten Vertrauen in Gott, der die Seinen nicht verläßt.

Natürlich haben wir alle unseren Vater sehr vermißt, und in vielen Situationen unserer Kindheit und Jugend hat er uns sehr gefehlt. Ich denke, das gilt besonders für unsere jüngste Schwester Leni, die damals erst fünf Jahre alt war und als einzige von uns keine persönlichen Erinnerungen an den Vater hat. Sehr schlimm muß es für unsere Mutter gewesen sein. Sie stand mit 43 Jahren plötzlich mit sieben Kindern allein, wovon der älteste Sohn in Rußland vermißt war. Auch wenn sie sich nicht im Stich gelassen gefühlt hat, schließt das nicht aus, daß sie sich oft einsam gefühlt hat.

Letztlich haben uns unsere Eltern durch ihr Beispiel ein großes Erbe hinterlassen, wofür ich bis zum heutigen Tag dankbar bin. Vorbilder zum Gelingen meines eigenen Lebens brauche ich nicht unbedingt in der Kirchengeschichte zu suchen. Ich finde sie in meinen Eltern. Mehr können Eltern ihren Kindern nicht hinterlassen.

Wie wichtig war der Glaube als Triebfeder für den Widerstand Ihres Vaters?

Ich glaube, wenn man der Gestalt von Nikolaus Groß nahekommen will, wenn man die innige Verbindung zwischen ihm und seiner Frau verstehen will, dann kann man dies nur, wenn man bereit ist, sich auf die gleiche Glaubensebene zu begeben. Auf die Ebene, die Grundlage ihres gemeinsamen Lebens war.

Die Briefe aus dem Gefängnis an unsere Mutter und uns sind ein beeindruckendes Zeugnis eines unerschütterlichen Glaubens an Gott und sein Heilswirken in unser Leben hinein, der großen Liebe dieser beiden Menschen zueinander und der Liebe eines Vaters zu seinen Kindern. Immer wieder ist in diesen Briefen die Rede von der Kraft und Wirksamkeit des Gebetes, das im Angesicht des sicheren Todes "still und ruhig" macht. Diesen Weg des Glaubens und Vertrauens sind beide gemeinsam gegangen. Ohne die tiefgläubige Haltung unserer Mutter hätte unser Vater seinen Weg so nicht gehen können.

Roland Freisler hätte Nikolaus Groß gerne nachgewiesen, daß seine Motivation Widerstand zu leisten, auf den gewaltsamen Tod Hitlers ausgerichtet war. Diesen Punkt der Anklage mußte er fallen lassen. So lautete die Begründung des Todesurteils: "Er schwamm mit im Verrat, muß folglich auch darin ertrinken."

Aus den vorhandenen Unterlagen ist belegbar, daß sein Handeln im Widerstand ausschließlich auf die Zeit nach dem Ende des Schreckens ausgerichtet war. Andere Thesen sind unwissenschaftlich, sie haben mit der historischen Wahrheit nichts zu tun. Das Buchmanuskript "Unter Heiligen Zeichen", das er zeitgleich mit seiner Widerstandstätigkeit in den Jahren 1942-43 geschrieben hat, belegt eindeutig die Motivation seines Handelns im Widerstand.

So haben unser Vater und unsere Mutter der Gottlosigkeit und Menschenverachtung des nationalsozialistischen Systems "widerstanden". Hierzu waren sie befähigt durch Ihre tiefreligiöse Grundhaltung. Ich denke, beide haben einen großen Beitrag geleistet für eine bessere Welt in Frieden, Freiheit und Menschenwürde.

Ist die Unausweichlichkeit des Weges in den Widerstand nicht bereits in der Frage angelegt: "Wenn wir jetzt nicht unser Leben einsetzen, wie können wir dann vor Gott und unserem Volke einmal bestehen?"

Unser Vater hat als verantwortlicher Redakteur der Westdeutschen Arbeiterzeitung, der späteren Ketteler-Wacht, schon lange vor Beginn des Dritten Reiches auf die Gefahr des Nationalsozialismus hingewiesen und hierbei besonders auf die Gottlosigkeit und Menschenverachtung dieser politisch radikalen Partei.

Er hat die Nazis als die Todfeinde der Demokratie und jeder christlichen Wertordnung bezeichnet. Man könnte viele solcher Beispiele anführen. In dieser Einschätzung hat er sich gemeinsam mit seinen Freunden aus dem Kettelerhaus nicht beirren lassen.

Ich glaube, die Unausweichlichkeit seines Weges war angelegt in seiner Lebensgestaltung aus dem Evangelium heraus. Christlich gelebtes Leben führte für ihn am Kreuz nicht vorbei. Auf diesem Hintergrund muß man diesen Ausspruch sehen.

Unsere Mutter hat es einmal später so formuliert: "Wenn er sein Leben für seinen Glauben und seine Überzeugung nicht eingesetzt hätte, wäre er später innerlich gestorben." Im dem vorhin erwähnten Manuskript "Unter Heiligen Zeichen" schreibt er:

"Die Gebote Gottes und die Lehre der Kirche bezeichnen den Lebensweg, den wir zu gehen haben. Christliches Leben ist ein Leben, das die Lehren und Gebote unseres Glaubens praktisch anwendet. Darum schauen wir auf die Heiligen. Sie haben das Leben bezwungen. Sie sind nicht die Knechte des Lebens, sondern seine Herren, seine Besieger, seine Erfüller geworden. Ihr heiliges Leben erzählt uns von Mut und Tapferkeit, von Klugheit und Reinheit, von gotterfüllter Liebe. Sie hatten ihr Leben unter Gottes Willen gestellt. Darum hat sie das Leben auch nicht vergessen."

Dieses umfangreiche Manuskript ist sein letztes schriftliches Werk. Er schrieb es, wie ich schon sagte, 1943/44, also zeitgleich mit seiner Mitarbeit im Kölner Widerstandskreis. Es ist ein großartiges Zeugnis dafür, aus welchem Geist heraus er Widerstand leistete. Gott und das eigene Gewissen waren die Grundlagen seines Handelns. Ihm war sehr bewußt, daß das Letzte ein Leben in Gott ist, nicht der Tod.

Am 23. Januar 1998 fand in der St. Agnes Kirche in Köln ein Gottesdienst im Gedenken an den 53. Jahrestag der Hinrichtung Ihres Vaters statt. Vor der Kirche standen einige Demonstranten mit Plakaten, auf denen zu lesen war: "Die Kirche ehrt die Märtyer des Widerstandes und lenkt damit von ihrem eigenen Versagen in der NS-Zeit ab." Wie bewerten Sie diesen Vorwurf und wie beurteilen Sie das Verhalten der katholischen Kirche in der Zeit des Nationalsozialismus?

Es ist jedem unbenommen, seine Meinung in geeigneter Form zu äußern. Für dieses Grundrecht unserer Demokratie hat ja unser Vater auch sein Leben eingesetzt. Allerdings kann ich mit dem vorkonziliaren Kirchenverständnis dieser Frauen und Männer wenig anfangen. Mein Kirchenverständnis ist nicht eingeengt auf das Amt in der Kirche, sondern schließt die vielen und unterschiedlichen Charismen und deren Wirkmöglichkeiten mit ein. Das gilt ganz besonders für die Zeit während der nationalsozialistischen Diktatur.

Natürlich hätte ich mir von Beginn des Dritten Reiches an eine Kirche gewünscht, die unbeirrt, verläßlich und durchgängig allen Gläubigen Orientierung gibt und stärker auf die Kraft der pfingstlichen Botschaft vertraut, als auf eine sinnlose und die Gläubigen irritierende Eingabepolitik.

Ich hätte mir eine Kirche gewünscht, die im Wissen um unsere gemeinsame Wurzel für die verfolgten und ermordeten jüdischen Schwestern und Brüder betet und der bewußt ist, daß mit der Vernichtung des jüdischen Volkes auch der Jude Christus gemeint war.

Und ich hätte mir eine Kirche gewünscht, die nicht tatenlos bleibt, wenn Priester und Laien verfolgt, eingesperrt und getötet werden, weil sie sich auf das Evangelium in radikaler Weise eingelassen haben und ihrem Gewissen folgend glaubhaft lebten und handelten.

Tief verletzt hat unsere Mutter die Weigerung des päpstlichen Nuntius Orsenigo, sie zu empfangen. Sie hatte versucht, ihm eine Durchschrift ihres Gnadengesuches an den Reichsjustizminister mit der Bitte zu überreichen, sich für unseren Vater einzusetzen. Sie hat es auch später nicht verstanden, daß einer Frau und Mutter von sieben Kindern, deren Mann wegen seiner christlichen Glaubensüberzeugung inhaftiert war, jede Hilfe und jedes Mitgefühl verweigert wurde.

Für das, was geschehen ist oder unterlassen wurde, haben sich die heutigen Bischöfe wiederholt entschuldigt. Ich denke, das muß man vor der Geschichte nun auch so stehen lassen.

Wir wissen aber auch um die großen Bemühungen der Bischöfe Dietz und Graf Preysing, den Frauen und Männern des Widerstandes Orientierung und Hilfe zu geben sowie um das offene Bekenntnis des Bischofs von Münster, Graf von Galen und um das Schicksal des Bischofs von Rottenburg.

Sicherlich hat es keinen organisierten kirchlichen Widerstand gegeben. Wenn ich aber einen Widerstand von Frauen und Männern innerhalb der Kirche leugnen würde, brächte ich damit zum Ausdruck, daß Nikolaus Groß, Bernhard Letterhaus, Prälat Müller, Gottfried Könzgen, die Eheleute Kreulich, Bernhard Lichtenberg, Alfred Delp und die vielen anderen Männer und Frauen, Priester und Laien aus anderen Motiven als aus ihrem Glauben heraus gehandelt haben. Damit würde ich mich von der geschichtlichen Wahrheit weit entfernen.

Die Kirche ist auf ihrem Weg durch die Zeit von Größe geprägt, aber auch von Versagen gezeichnet. Sie war in diesen 2000 Jahren aber immer eine Kirche der Märtyrer. Dagegen läßt sich nichts aufrechnen.

Hat die Kirche versucht, das Leben Ihres Vaters zu retten?

Bei der Beantwortung dieser Frage muß ich mich wieder auf mein Kirchenverständnis berufen, das nicht auf die sogenannte Amtskirche eingeengt ist. Damit stehe ich natürlich im Gegensatz zu solchen Kreisen, die mit einer gewissen Vorliebe die Kirche bei jeder Gelegenheit vorführen.

Ob es überhaupt eine reelle Chance gegeben hat, durch Intervention hoher Kirchenvertreter sein Leben und das Leben der vielen anderen zu retten, vermag ich nicht zu beurteilen. Das ist ein Gebiet, auf dem die Historiker Kompetenz besitzen. Ich neige sehr zu der Auffassung, daß es in dieser apokalyptischen Situation zu Beginn des Jahres 1945 keine Chance gab, das Leben der Männer zu retten, die in Tegel und Plötzensee auf ihre Hinrichtung warten mußten. Die vielen Kassiber von Pater Alfred Delp zeigen uns ja in erschütternder Weise, wie ein Mensch in diesen Monaten bis zu seiner Hinrichtung zwischen Bangen und Hoffen hin und her gerissen wurde.

Es ist aktenkundig, daß der Kölner Priester Hans Valks Ende Januar 1945 den Kölner Erzbischof gebeten hat, ein Gnadengesuch an den Reichsjustizminister zu richten. Beide konnten nicht wissen, daß unser Vater zu dieser Zeit schon tot war. An die vielen Bemühungen von Prälat Hans Valks, der heute 84-jährig in Köln lebt, denke ich immer mit großer Dankbarkeit.

Ich denke an den Diözesanpräses der KAB im Erzbistum Paderborn, Dr. Caspar Schulte. Er hatte offensichtlich gute Verbindungen nach Berlin. Er war es, der unsere Mutter zweimal veranlaßte, nach Berlin zu fahren, um ihrem Mann beizustehen. Er hat hierfür alle Möglichkeiten geschaffen.

Wieviel Trost unsere Eltern hierdurch erfahren durften, schreibt unser Vater in seinen späteren Briefen, besonders in seinem Abschiedsbrief.

Mir ist schon bewußt, daß die letzten Lebenswochen unseres Vaters ohne die Hilfe von Prälat Schulte anders verlaufen wären.

Hilfe, Trost und Beistand haben alle Gefangenen in Tegel und Plötzensee durch den Gefängnispfarrer Peter Buchholz erfahren. Er hat immer wieder Möglichkeiten gefunden, die Gefangenen trotz Führerverbot zu besuchen und ihnen die Kommunion zu reichen. Auch in diesem Zusammenhang möchte ich auf eigene Interpretationen verzichten und unseren Vater mit seinen Gedanken aus seinem Abschiedsbrief zu Wort kommen lassen:

"Habt keine Trauer um mich - ich hoffe, daß mich der Herr annimmt. Hat Er nicht alles wunderbar gefügt. Er ließ mich in einem Hause, in dem ich auch in der Gefangenschaft manche Liebe und menschliches Mitgefühl empfing. Er gab mir über fünf Monate Zeit - wahrscheinlich eine Gnadenzeit -, mich auf die Heimholung vorzubereiten. Ja, Er tat viel mehr: Er kam zu mir im Sakrament, oftmals, um bei mir zu sein in allen Stürmen und Nöten, besonders in der letzten Stunde. Alles das hätte ja auch anders sein können."

Durch den Rückhalt von Bischof Graf von Preysing war es den "beiden Mariannen", Marianne Hapig und Marianne Pünder, möglich, ständigen Kontakt zu den Gefangenen in Tegel zu halten. Gerade diese beiden glaubensstarken Frauen haben unserem Vater und den übrigen Gefangenen unter Gefährdung des eigenen Lebens täglich geholfen, das Los der Gefangenschaft zu ertragen.

Wenn ich sagen soll, was denn aus der Kirche heraus noch geschehen ist, das Leben unseres Vaters zu retten, dann denke ich an die große Gemeinde der Betenden. Ich denke an die vielen Menschen, die um seine Rettung gebetet - und an die mir bekannten Priester, die dieses Anliegen in der Hl. Messe vergegenwärtigt haben.

Alfred Delp, sein Zellennachbar, schreibt in einem seiner Briefe: "Wir beten hier zu viert, zwei Katholiken und zwei Protestanten." Genau hier schließt sich der Kreis der betenden Kirche.

Aus den Briefen unseres Vaters aus dem Gefängnis, besonders aus seinem letzten Brief, darf ich die Gewissheit entnehmen, daß Leben für ihn letztlich ein Leben in Gott bedeutete. Auf diesem Weg haben ihm viele aus ihrem Glauben heraus geholfen und ihn betend begleitet.

Welche Erinnerungen haben Sie an das Kriegsende?

Die Generation, der ich angehöre, hat ihre Kindheit unter einer ständigen Todesbedrohung durchlebt. So sind meine Kindheitserinnerungen ganz entscheidend vom Kriegsgeschehen und den Luftangriffen geprägt, denen man in den letzten Kriegsjahren Tag und Nacht ausgesetzt war. Als Kind mit dem Sterben leben zu müssen, prägt einen schon für das ganze Leben.

Im Frühjahr 1944 hat unser Vater mich bei seinem Freund Robert Mockenhaupt in Herdorf an der Sieg untergebracht, mein Bruder Alex fand Aufnahme bei einer Familie am Bodensee. Das hatte ihm der Kölner Priester Hans Valks ermöglicht. Für uns war damit das Risiko, bei einem Angriff auf Köln zu Schaden zu kommen, ausgeschaltet. Mein ältester Bruder Klaus war in Rußland vermißt.

Nach der Verhaftung unseres Vaters am 12. August 1944 zog unsere Mutter von Köln, wo unsere Familie seit 1929 lebte, nach Niederwenigern an der Ruhr, dem Geburtsort unserer Eltern. Die übrigen Geschwister wohnten bei ihr oder in ihrer Nähe.

Vor Weihnachten 1944 ließ mich meine Mutter zu sich holen; wir rückten wohl unter dem Druck der Kriegsereignisse näher zusammen. Die letzten Wochen vor der Befreiung durch die Amerikaner verbrachten wir viele Stunden am Tage und bei Nacht in einem ausgekohlten Stollen, der ebenerdig einen Eingang, aber keinen zweiten Ausgang hatte. Wir, und die vielen Dorfbewohner, die hier Schutz suchten, waren damit nur begrenzt sicher.

Entgegen den schrecklichen Erlebnissen der vergangenen Jahre verlief für uns das Kriegsende völlig undramatisch. Nachdem die Amerikaner über die Ruhr übergesetzt hatten, fuhr ein Jeep im Schatten einiger Panzer ins Dorf bis vor die Kirche. Damit war für uns der Krieg zu Ende. Die plötzliche Stille, besonders in den Nächten, war fast unheimlich. Wir hatten das Gefühl von einem Albtraum befreit zu sein. Ich glaube, wir brauchten alle einige Tage um zu erfassen, daß wir leben durften.

Vor einigen Jahren ist mir diese Situation noch einmal sehr deutlich in Erinnerung gekommen. Zusammen mit der Nikolaus-Groß-Schule in Lebach an der Saar habe ich 1992 das Buch meines Vaters "Sieben um einen Tisch" in dritter Auflage herausgebracht. Das Buch schließt mit dem Satz: "Wollte Gott, daß uns die herzinnige Gemeinschaft mit den Sieben ohne große Opfer, ohne Opfer an Leib und Leben erhalten bleibe." Unser Vater hat als einziger unserer Familie nicht überlebt. Wie Sie wissen, wurde er am 23. Januar 1945 mit neun anderen Männern in Berlin-Plötzensee hingerichtet.

Wie haben Sie vom Tod Ihres Vaters erfahren?

Anfang Februar 1945 haben wir von Theodor Hüpgens, einem Berliner Freund unseres Vaters, von seinem Tod erfahren. In einem Schreiben vom 27. Januar 1945 teilte er unserer Mutter mit:

"Ihr lieber und tapferer Mann ist am vergangenen Dienstag, dem 23. Januar, seinen letzten Gang gegangen. Es war der Tag, an dem Sie, wie Sie uns auf Ihrer Karte vom 24. Januar berichteten, heil und gut wieder daheim anlangten. Auch Nikolaus Groß ist heil und gut heimgegangen. Wir alle sind davon überzeugt, daß der Richter über die Lebenden und Toten ihm die Krone des Lebens verliehen hat."

Wenn man berücksichtigt, daß der Kölner Priester Hans Valks noch am 30. Januar 1945 den Kölner Erzbischof Dr. Josef Frings um ein Gnadengesuch für meinen Vater gebeten hat, muß uns die Todesnachricht unmittelbar danach erreicht haben, denn die ersten Todesanzeigen sind von unserer Familie am 7. Februar 1945 verschickt worden.

Mir ist in Erinnerung, daß an dem betreffenden Tag meine Mutter und die übrigen Geschwister sehr weinten. Meiner kleineren Schwester Leni und mir hatten sie nicht sofort gesagt, daß der Vater tot ist. Auch danach habe ich die schreckliche Gewissheit nicht begriffen und mich gegen die Vorstellung gewehrt, daß der Vater nicht mehr zurückkommt. Noch einige Zeit nach Kriegsende hatte ich die Vorstellung, das Ganze könnte ein Irrtum sein. Ein Leben in unserer Familie ohne unseren Vater war für mich unvorstellbar.

Wie haben die Menschen in Niederwenigern auf die Hinrichtung Ihres Vaters reagiert?

Soweit ich mich erinnern kann, haben die Menschen in Niederwenigern sehr betroffen auf die Nachricht von seinem Tod reagiert. Die Gründe seiner Verhaftung und die Begründung des Todesurteils waren ihnen nicht bekannt, obwohl manche schon eine Verbindung zum Attentat vom 20. Juli 1944 herstellten.

Viele aus dem Dorf waren mit meinem Vater zur Schule gegangen und hatten mit ihm und unserer Mutter die Kindheit verlebt. Unser Vater hatte auch nach seinem Weggang aus Niederwenigern ganz starke Bindungen an seinen Heimatort. Ich denke, daß die Menschen im Dorf spürten, daß er zu nichts Unrechtem fähig war. Da war niemand, der ihm diesen gewaltsamen Tod gönnte. So kann man schon sagen, daß wir ganz unbehelligt geblieben sind.

Auch mir ist in der Schule von meinem Lehrer und den übrigen Kindern nur Mitgefühl entgegengebracht worden. Ich glaube, das läßt ja auch Rückschlüsse auf Stimmungen und Meinungen in diesen Familien zu.

Am 12. Februar 1945 haben wir unter großer Beteiligung der Gemeinde das Seelenamt für den Vater gefeiert. Die starke Anteilnahme, die besonders in der Teilnahme an diesem Gottesdienst zum Ausdruck kam, werte ich schon als Ausdruck von Mitgefühl, Solidarität und christlicher Verbundenheit. In unserer Heimatgemeinde St. Agnes in Köln waren die Reaktionen ähnlich. Hier wurde das Seelenamt in Anwesenheit des Kölner Stadtdechanten am 16. Februar 1945 gefeiert.

Wie war es Ihrer Mutter möglich, eine so große Kinderschar zu versorgen, zu ernähren und zu kleiden?

Unmittelbar nach Kriegsende sind wir nach Köln zurückgekehrt. Unser Haus hatte, wenn auch beschädigt, den Krieg überstanden. Der Kölner Priester Hans Valks hatte ein Schild an unserer Haustüre anbringen lassen: "Dieses Haus steht unter dem Schutz des Erzbischofs von Köln". Dadurch war unsere Habe vor Plünderern gesichert. Welcher Kölner tat schon etwas gegen den "legendären Frings"?

Die wirtschaftliche Situation unserer Familie hat sich wahrscheinlich kaum von der anderer Familien unterschieden. Die Not war zu dieser Zeit unvorstellbar. Die Menschen hungerten, Millionen waren auf der Flucht. Sicher ist, daß die geringe Rente, die auch erst spät einsetzte, nicht ausreichte, die Familie zu ernähren. Über längere Zeit haben wir in unserem Haus in Köln Zimmer vermietet und meine Mutter hat mit Näharbeiten Geld dazuverdient. Für meine Mutter war es sicher eine tröstliche Erfahrung, daß sie von den guten Freunden ihres Mannes nicht verlassen war. Viele haben uns mit Lebensmitteln, Kleidung und Hausbrand geholfen. "Wenn die Not am größten ist, ist Gottes Hilf´ am nächsten." Dieser Spruch ist in dieser Zeit in unserer Familie oft gefallen.

Der frühere Reichskanzler Heinrich Brüning hatte zudem den Abschiedsbrief unseres Vaters in amerikanischen Zeitungen veröffentlicht. Er wollte deutlich machen, daß es auch ein anderes Deutschland gegeben hat. Das hatte den nützlichen Nebeneffekt, daß wir über eine Zeit hinweg in den Genuß von Care-Paketen kamen, die uns wieder über die schlimmste Not hinweg halfen. Heute bringe ich diese Hilfen oft in Verbindung mit einem Satz aus dem Abschiedsbrief unseres Vaters; auch wenn er es so materiell vielleicht nicht verstanden wissen wollte:

"Manchmal habe ich mir in den langen Monaten meiner Haft Gedanken darüber gemacht, was wohl einmal aus Euch werden möge, wenn ich nicht mehr bei Euch sein könnte. Längst habe ich eingesehen, daß Euer Schicksal gar nicht von mir abhängt. Wenn Gott es so will, daß ich nicht mehr bei Euch sein soll, dann hat er auch für Euch eine Hilfe bereit, die ohne mich wirkt. Gott verläßt keinen, der Ihm treu ist, und er wird auch Euch nicht verlassen, wenn Ihr Euch an Ihn haltet."

Nach dem Beistand, den unsere Mutter unserem Vater in den fünf Monaten seiner Haft gegeben hat, war es schon eine überragende Leistung, auch noch unsere große Familie über die Jahre der größten Not zu bringen. Sie hat später oft erzählt, daß sie manchmal nicht wußte, wie es am nächsten Tag weitergehen sollte. Aber immer dann, wenn es irgendwie weiterging, sagte meine Mutter: "Gott hat wieder wunderbar geholfen."

Es hat unsere Mutter tief verletzt, daß die Witwe von Roland Freisler eine hohe Beamtenpension bekam, wohingegen die Witwen der Hingerichteten um ihre berechtigten Ansprüche lange, und zum Teil noch erfolglos kämpfen mußten. Auch den Witwen der in Nürnberg hingerichteten Kriegsverbrecher bescherte der Rechtsstaat im Nachkriegsdeutschland hohe Pensionen und damit ein sorgenfreies Leben.

Gab es Menschen, die sich unter Berufung auf Ihren Vater oder mit Hilfe Ihrer Familie entnazifizieren wollten?

Meine Mutter war nach dem Krieg Mitglied im Entnazifizierungsausschuß der Stadt Köln. Es hat eine Reihe solcher Anfragen gegeben. Letztlich mußten sich aber alle vor diesen Ausschüssen verantworten. Auch die Opfer mußten sich ihre Unbedenklichkeit bescheinigen lassen, so auch meine Mutter.

Ein sehr trauriger Fall ist mir in Erinnerung geblieben, weil ich mit dem Sohn des betreffenden Mannes nach dem Krieg sehr eng befreundet war. Der Vater meines Freundes war Lehrer und weigerte sich lange erfolgreich gegen einen Beitritt zur NSDAP. Schließlich wurde ihm damit gedroht, aus dem Schuldienst entfernt zu werden. Er war bereit, das hinzunehmen. Nach einem ausführlichen Gespräch mit meinem Vater ist er dann doch der Partei beigetreten. Beide waren zu der Überzeugung gekommen, daß man gerade im Schuldienst das Feld nicht nur den Nazis überlassen dürfe. Mein Vater sicherte ihm zu, nach Kriegsende sich für ihn zu verwenden. Dazu kam es ja nun nicht mehr. Dieser Lehrer konnte zwar nicht entlassen werden, er durfte aber keinen Unterricht mehr erteilen, obwohl sich meine Mutter in Kenntnis der getroffenen Absprache für ihn verbürgte. Als besondere Härte mußte er an seiner Schule die Toiletten säubern. Es war unglaublich entwürdigend.

Erst im späteren Entnazifizierungsverfahren wurde er aufgrund der Aussagen meiner Mutter voll rehabilitiert. Ich weiß heute noch, daß mein Rechtsempfinden damals sehr strapaziert war, weil man sah, daß man die Kleinen fing und die Großen laufen ließ.

Wie sehen Sie die Beziehungen zwischen den Kindern der Opfer und der Täter?

Ich gebe durchaus zu, daß ich mit dieser Situation nicht gut zurechtkomme. Wenn ich einmal von einigen Ausnahmen absehe, kann ich mir gut vorstellen, daß die Nachkommen der Täter unter einer großen Belastung zu leben haben. Die Morde und Greueltaten in Verbindung mit dem eigenen Vater bringen zu müssen, stelle ich mir sehr schrecklich vor.

Ich habe vor einiger Zeit gehört, daß sich Nachkommen von Opfern und Tätern getroffen und versucht haben, ihre gemeinsame geschichtliche Vergangenheit zu bewältigen. Ich vermag nicht mit Sicherheit zu sagen, daß ich zu einem solchen Dialog heute fähig wäre. Vielleicht kann das die Generation nach uns einmal offener und unverkrampfter tun.

Wie hat die Bundesrepublik Deutschland das Lebenswerk Ihres Vaters und anderer Widerstandskämpfer gewürdigt?

Die Bundesrepublik Deutschland gibt es erst seit 1949. Ehrungen von Städten und Gemeinden, von Verbänden und der Kirche gab es bereits seit Kriegsende.

Schon im November 1945 ist für unseren Vater in Krefeld-Uerdingen die erste Straße benannt worden. Im gleichen Monat finden sich eine Reihe Priester zusammen, die versuchen, einen Seligsprechungsprozess zu beantragen. In den Folgejahren wurden in vielen Städten Straßen, Schulen und Häuser nach ihm benannt. Heute finden sich auch in vielen Kirchen Zeichen des Gedenkens an ihn.

Die staatlichen Organe haben sich seit 1946 durchgängig mit der Würdigung des Widerstandes befaßt. Alle Kanzler und Bundespräsidenten würdigten den Widerstand der Frauen und Männer und ihren Opfertod als Fundament unserer staatlichen Ordnung. An dieser Bewertung hat sich bis heute nichts geändert, wenn auch die Gedenkfeiern etwas verhaltener ausfallen und von der Öffentlichkeit, besonders von den Medien, nicht mehr besonders beachtet worden.

Ich will nicht verkennen, daß mich die zu starke Bewertung des Attentats vom 20. Juli 1944 manchmal gestört hat. Die vielen unterschiedlichen Widerstandskreise fanden in der Regel kaum eine Würdigung.

Kirchlicherseits hätte ich mir darum auch ein stärkeres Engagement in der Frage der Aufarbeitung des Widerstandes von Laien aus christlicher Glaubensüberzeugung gewünscht. Das ist in den vergangenen fünfzig Jahren doch sträflich vernachlässigt worden, sehr im Gegensatz zu der Aufarbeitung der Lebensbilder von Priestern und Ordensleuten. Die bisherigen Seligsprechungen belegen das leider sehr deutlich.

Ich denke, daß sich gerade die Laien in der Zeit der Verfolgung durch die Nationalsozialisten sehr deutlich in die Kirchengeschichte eingeschrieben haben.

Ihr Vater war ja nicht nur Widerstandskämpfer und Glaubenszeuge, sondern vor allem ein führender Repräsentant der katholischen Arbeiterbewegung.

Unser Vater kam aus einfachen Verhältnissen. Sein Vater war Zechenschmied, er selbst war in seiner Jugend Bergmann. Diese Wurzeln hat er nie geleugnet.

Über die Bildungsangebote des "Volksvereins für das katholische Deutschland" hat er sich in seiner freien Zeit weitergebildet. Über einige Stationen als Gewerkschaftssekretär des Christlichen Bergarbeiterverbandes kam er 1927 verantwortlich in die Redaktion der Westdeutschen Arbeiterzeitung, dem Organ der KAB Westdeutschland.

Es war immer sein Bestreben, die Lebensbedingungen der Arbeiter zu verbessern und ihnen einen geachteten Stand innerhalb der Gesellschaft zu verschaffen. Seine besondere Aufmerksamkeit galt zudem der Situation der Familie und später den Männern, die durch die Kriegsereignisse bedingt von zu Hause fort waren.

Sein Buch "Sieben um einen Tisch" ist heute, nach mehr als einem halben Jahrhundert, immer noch eine gefragte Lektüre.

Im Jahre 1988 hat die Kirche im Bistum Essen den Prozeß der Canonisierung für Nikolaus Groß eingeleitet und Ihr Vater ist zu einer wichtigen Persönlichkeit der Kirchengeschichte geworden. Es ist sicher nicht einfach, mit einem Vater zu "leben", der so im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses steht.

Meine Geschwister und ich waren lange Jahre bemüht, uns das Andenken an den Vater als eine ganz private Angelegenheit zu bewahren. Wenn einem nicht einmal ein Grab geblieben ist, möchte man die wenigen Gegenstände der Erinnerung nicht mit anderen Menschen teilen. Dazu zählen insbesondere die Briefe aus dem Gefängnis, die ja nur für unsere Mutter und uns bestimmt waren. In seinem Abschiedsbrief, den er zwei Tage vor seiner Hinrichtung mit gefesselten Händen an uns geschrieben hat, offenbart sich seine ganze Seele im Angesicht des gewaltsamen Todes. Es ist nicht leicht, all dies mit fremden Augen und Ohren zu teilen.

Die Entscheidung, seine gesamten Briefe aus dem Gefängnis zur Veröffentlichung freizugeben, ist uns allen sehr schwer gefallen. Der Historiker Dr. Jürgen Aretz hat diese Aufgabe auf unsere Bitte hin mit großem Einfühlungsvermögen übernommen.

Seit der Eröffnung des Seligsprechungsprozesses 1988 habe ich mich sehr intensiv und bis ins Detail mit dem Leben meines Vaters beschäftigt und auseinandergesetzt. Dabei habe ich mich sehr bemüht, ihn nicht vordergründig aus heutiger Sicht zu interpretieren, sondern ihn in allen mich beschäftigenden Fragen mit seinen Schriften und Manuskripten selbst antworten zu lassen. Hieraus hat sich für mich das Bild eines Mannes entwickelt, der seinen Weg unbeirrt durch die dunkelste Zeit unserer Geschichte gegangen ist, letztlich im Vertrauen auf Gott und sein Heilswirken an uns Menschen. Das hat mir in meinem Leben immer wieder Mut gemacht und deshalb kann ich besonders heute sehr gut mit dieser Vatergestalt leben, ohne daß ich allerdings ständig an ihm gemessen werden möchte. Bei aller Nähe des Vater-Sohn-Verhältnisses schafft die Vereinnahmung durch die Geschichte eine gewisse Distanz. Dieser Zustand wird sich bei seiner hoffentlich bald erfolgten Seligsprechung vermutlich noch verstärken. Davor habe ich keine Angst. Das glaubensstarke Vorbild meines Vaters und meiner Mutter sind mir ein frohes Hoffnungszeichen in die Zukunft der Kirche in das nächste Jahrtausend.

Heute sind Sie selbst Vater und Großvater. Welches geistige Erbe geben Sie weiter an die Kinder- und Enkelgeneration?

Ich denke, es ist das Bestreben von Eltern, ihren Kindern Werte zu vermitteln, die ihnen eine gute Lebensgestaltung ermöglichen. Wenn man dazu noch auf Vorbilder verweisen kann, deren Leben in allen Bereichen gelungen ist, ermuntert das sicherlich dazu, sein Leben in ähnlicher Weise zu gestalten.

Im Hinblick auf meine Kinder bin ich froh und dankbar, daß sie sich in der Tat dieses Erbes bewußt sind und jeder auf die ihm eigene Art damit verantwortlich umgeht. Das hätte durchaus auch anders aussehen können. Mir ist dabei immer wichtig gewesen, deutlich zu machen, daß man mit einem Vater, der heute im Ruf eines heiligmäßigen Lebens steht, in der Familie sehr gut und unverkrampft leben konnte. Vielleicht auch deshalb, weil wir es damals Gott sei Dank nicht gewußt haben. Sein Freund Alexander Drenker hat seine Gedanken hierzu in einem Zeitungsbericht nach dem Krieg so ausgedrückt. Er schreibt unter dem Datum vom 29. Oktober 1947:

"Fünfzehn Jahre kannte ich ihn, aber erst als er von uns ging, wußte ich, wer er war. Als ich in meinem kleinen Buch das Kapitel über die Heiligen schrieb, dachte ich an ihn, und als ich versuchte, mir ein Bild des Arbeiters zu machen, der Träger einer kommenden Zeit sein wird, war er mein Vorbild. Was ich über den Heiligen und den Arbeiter dachte, habe ich nach seinem Maß gedacht. Nikolaus Groß ist sicherlich nicht unbemerkt durch das Leben gegangen, aber er stand nicht im Vordergrund. Er wußte öffentlich zu sprechen, klar und klug mit einer eindringlichen warmherzigen Überzeugungskraft, aber er war kein großer Redner. Die Sprache seiner Broschüren und Artikel ist geformt, aber er war kein ursprünglich begabter Schriftsteller. Seine Größe und seine Vorbildlichkeit liegen in seinem Menschentum. Er war ein Mensch, in dessen Gegenwart man gut wurde und sich seiner Unzulänglichkeit schämte. Er hatte die Tugenden, die heute am seltensten und zugleich am notwendigsten sind. Er war von einer alles und alle umfassenden Güte, er wußte um die Kraft der Milde, er war aufrichtig und wahrhaftig, starkmütig und er hat nie Aufhebens von seiner außerordentlichen Seelenkraft gemacht. Er hat sich zu einer solchen Reife der Persönlichkeit emporentwickelt, daß das Ungewöhnliche an ihm wie selbstverständlich wirkte. Ich bin überzeugt, daß Nikolaus Groß, der im Leben nicht auf dem ersten Platz stand, in Zukunft zu immer größerem Ansehen gelangen wird. Sein Andenken wird nicht verblassen, sondern das Andenken aller anderen christlichen Arbeiterführer überstrahlen, denn er besaß das, was den berühmten Menschen meistens fehlt: Das vertraute Antlitz. Jeder konnte bei ihm sein besseres Ich wiederfinden. Er hat sich im Grunde genommen durch nichts von uns unterschieden als durch sein größeres Menschentum, ich möchte eigentlich sagen, durch seine größere Heiligkeit."

Prälat Hermann Josef Schmitt, der erste Verbandspräses der KAB nach dem Krieg hat ihn einmal "den kleinen Mann mit der großen Seele" und einen "Heiligen des Alltags" genannt. Ich möchte meinen Kindern und Enkeln vermitteln, daß Heilige und Selige keine Persönlichkeiten aus einer vergangenen Zeit sind, die mit unserem moderneren Leben in einem Medienzeitalter nichts mehr zu tun haben, sondern daß gerade ihr Leben Sinn macht und daß sie uns darum für unser Leben als Leitgestalten dienen können. Für unsere Familie ist es ganz wichtig, daß wir uns das Bild des Vaters, Großvaters und Urgroßvaters bewahren. Denn Heiligmäßigkeit vollzieht sich in den kleinen Dingen im Alltag des Lebens. Ich bin sicher, daß die Heiligen von morgen heute unerkannt neben uns im Bus und in der Kirche sitzen. Heute bin ich froh und glücklich, und im guten Sinne auch ein wenig stolz, daß Elisabeth und Nikolaus Groß meine Eltern waren.

Aus: "Nikolaus Groß, Arbeiterführer - Widerstandskämpfer - Glaubenszeuge, Wie sollen wir vor Gott und unserem Volk bestehen?" Details zu diesem Buch mehr..., Seiten 270 - 283


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