10. Oktober 2004:

Predigt von Bischof Dr. Felix Genn

während des feierlichen Gottesdienstes zur Einweihung der Nikolaus-Groß-Kapelle

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Bischof Dr. Felix Genn

Liebe Mitbrüder im priesterlichen und Diakonenamt,
liebe Schwestern, liebe Brüder im Glauben,

es sind jetzt genau 30 Jahre her – wir lasen es im Ruhrwort –, dass der Brunnen vor der Südseite unseres Domes, der so genannte Altfrid-Brunnen, vom damaligen Oberbürgermeister von Essen und Bischof Franz Hengsbach eingeweiht wurde. 16 Jahre war das Bistum damals alt. Dieser Brunnen sollte an seine Geschichte erinnern. Es wurde zusammengefügt aus Teilen der Erzdiözesen Köln und Paderborn und des Bistums Münster. Die Gründung des Ruhrbistums 1958, so sagte mir einmal ein evangelischer Christ, war eine eindeutige Entscheidung der katholischen Kirche für diese Region, für die Menschen im Ruhrgebiet, um deutlich zu machen, dass Kirche auch organisatorisch und strukturell diesem Gebiet in unserem Land einen besonderen pastoralen Schwerpunkt verleihen wollte. Damals wurde diese Kirche zum Dom und das Bild der Goldenen Madonna zur Patronin unseres Bistums unter dem Titel „Mutter vom Guten Rat“. Sie sollte uns und sie sollte den Menschen in dieser Region gut raten. Wir werden morgen und am kommenden Sonntag dieses Fest in besonderer Weise feiern und den guten Rat in den Blick nehmen.

Parallel zu der Kapelle der Goldenen Madonna hier zu meiner Rechten wird nun heute in unserem Dom auf der Südseite die Seitenkapelle der Verehrung des Seligen Nikolaus Groß übergeben. Die Menschen, die vom Altfrid-Brunnen in den Dom kommen, sehen sofort als Erstes durch das Seitenschiff das Bild unseres Seligen. Es ist nicht selbstverständlich, dass jede Domkirche Kapellen für all die Heiligen enthält, die in dieser Ortskirche von den Gläubigen verehrt werden. Dies ist ein besonderer Akzent – so möchte ich es deuten. Seit der Seligsprechung ist das Leben und Werk dieses Mannes der gesamten Kirche und in besonderer Weise dem Bistum Essen übergeben. Auch hier in dieser Kapelle können Menschen guten Rat empfangen. Der Arbeiter, der Mann aus der Katholischen Arbeiterbewegung, der Journalist, der Familienvater und Ehemann – ihm diese Kapelle zu widmen, das ist eine Entscheidung, die sich in der Spur befindet, in der die Entscheidung zur Gründung unseres Bistums getroffen wurde. In dieser Kapelle wird gerade auch in unserer von sozialen Umbrüchen, besonders in dieser Region, gekennzeichneten Epoche gut geraten.

Liebe Schwestern, liebe Brüder, diese Kapelle lädt ein zum Verweilen, zur Stille und zum Gebet. Nikolaus Groß hat aus dem Gefängnis seiner Frau und seinen Kindern den guten Rat erteilt, gerade im Gebet nicht nachzulassen. „Betet gut, vertieft euch in die Kraft des Gebetes!“ Wenn wir uns die Gestalt dieses Mannes anschauen, dann fällt mir zunächst seine Bescheidenheit auf. Diese Kapelle gibt davon Ausdruck. Der Kopf steht seitlich, die Mitte ist frei, rechts die ottonische Säule mit dem wunderschönen Kapitell. Dieser Mann hat Gott die Mitte gelassen. So wurde er zur Säule. Dieser Mann hat sein Leben nicht vollenden können. Es wurde von Leid und tiefem Schmerz gezeichnet. Wer sich in die Betrachtung des Kopfes hinein versenkt, kann davon etwas erfahren. Aber in der Orientierung auf die Mitte hin ist unvollendet zeitliches Leben in die Vollendung Gottes gestellt. Gott die Mitte lassen – und das von einem Arbeiter, der wusste, welche Götter um ihn herum angebetet wurden! Er wusste, dass es nichtige waren. Aber zu der Entscheidung zu kommen, dass sie nichtig sind, das konnte ihm nur gelingen, weil er verwurzelt war in der Tiefe und aus dem Gebet lebte. Sein politisches Engagement in Absetzung zur national-sozialistischen Ideologie entspringt seinem christlichen Geist. Hier wird Kirche in einem ganz konkreten Leben erdhaft verwurzelt im konkreten Lebensraum der Arbeit. Aus der Mitte, die Gott darstellt, ist es Nikolaus Groß gelungen, ein Leben zu führen, das schließlich auch – und das ist das für mich erschütterndste Dokument, nämlich einer seiner letzten Briefe aus dem Gefängnis in Berlin – Kunde gibt von einem ganz tiefen Frieden, den er in Gott gefunden hat, und der ihm die Kraft schenkt, seiner Familie die Botschaft des Friedens zu übermitteln.

Liebe Schwestern, liebe Brüder, wird hier nicht gut geraten? Das, was Nikolaus Groß uns in dieser Kapelle vermittelt, kann gar nicht in wenigen Worten ausgeschöpft werden. Die Kapelle ist Einladung für die Menschen, sich hier hineinzuversenken in die Stille, die dieser Raum – auch mit den Darstellungen seines Lebens an der linken Wand – anbieten will. Dies möchte ich noch ein wenig deuten, und zwar im Kontext der Heiligen Schrift des heutigen Sonntags.

Ich möchte Sie noch einmal erinnern an die Erzählung von dem Syrer, dem Ausländer, dem Nichtjuden Naaman, der ins jüdische Volk kommt und durch das Untertauchen im Jordan auf Geheiß des Propheten Elischa geheilt wird, und der erkennt: All die Götter um ihn herum, vor denen er die Knie gebeugt hat bisher, sind nichtig. Es gibt nur in Israel einen wahren Gott. Die Mitte des Lebens von Nikolaus Groß ist dieser wahre Gott Israels. Der Syrer nimmt Erde aus Israel mit. Er möchte auf keinem anderen Boden mehr und selbst zu Hause einem Gott Opfer darbringen will, nur diesem Gott, der einen Bund mit dem Volk, eine Bindung an die Erde Israels eingegangen ist. Für den geheilten Syrer wird in der Beziehung zum Gott Israels sein Glaube ansichtig: Die Erde, die er mitgenommen hat, wird zum Zeichen, dass er sich fest in den Gott verwurzeln möchte, der sich in den Boden seines Lebens verwurzelt hat.

Liebe Schwestern, liebe Brüder, wie sehr wird dieses Bild übertrumpft von dem Gesicht Jesu Christi, in dem uns nicht ein nichtiger Gott, sondern der Gott Israels erdgeworden, menschgeworden, eingegangen in unsere Zeit und Gesellschaft, ansichtig wird. Aus dieser Mitte hat Nikolaus Groß gelebt, und er wusste, was die zehn Aussätzigen ausriefen, wenn sie Jesus ansprachen mit dem Wort: Jesus, Meister, erbarme dich unser. Ausgerechnet ist es wieder ein Fremder, ein Ausländer, ein Nichtjude, der erkennt, dass seine Heilung von diesem Gott Jesus Christus ausgegangen ist, denn vor ihm wirft er sich auf die Knie nieder und dankt. Und Jesus kann ihm sagen: Dein Glaube hat dich gerettet.

Liebe Schwestern, liebe Brüder, ein Schriftsteller, der vielleicht schon zweiten Generation der Christenheit – die Bibelforscher meinen, es sei nicht mehr Paulus, die Liturgie der Kirche schreibt es Paulus zu – hat zwei Briefe an einen Schüler Timotheus verfasst, und aus dem zweiten Brief haben wir sozusagen als Summe des Glaubensbekenntnisses, das uns die anderen biblischen Texte heute vorstellen, den Satz gehört: Das ist mein Evangelium. Jesus Christus, der Nachkomme Davids, ein Mann dieser Erde, ist von den Toten auferstanden. Gott hat sich seiner erbarmt. Gott hat ihn aus dem Tod errettet. Das ist der wahre Gott, der durch die Erde des Todes und des Grabes hindurchgegangen ist, diese Erde überwunden hat. Nikolaus Groß wusste um die Kraft dieses Auferstandenen, sonst hätte er nicht so enormen Wert auf die Feier des Sonntags gelegt. In ihm hat er den Frieden gefunden, als seine Hände gefesselt waren. Mit Paulus kann er sagen: „Aber das Wort Gottes ist nicht gefesselt“ (2 Tim 2, 9).

Ja: Es ist glaubwürdig dieses Wort. Paulus fährt sogar fort mit dem wunderbaren Satz: „Wenn wir mit Christus gestorben sind, werden wir auch mit ihm leben. Wenn wir standhaft bleiben, werden wir mit ihm herrschen. Wenn wir ihn verleugnen, dann wird er uns verleugnen, wenn wir ihm untreu werden, dann bleibt er doch treu, denn er kann sich selbst nicht verleugnen“ (2 Tim 2, 11 - 13).

Spüren Sie, wie konkret die Mitte ist, auf die das unvollendete Leben, das Gesicht, der Kopf des Nikolaus Groß hinweist? Auf den treuen Gott, der auch dann noch treu bleibt, wenn wir ihm untreu werden, der uns aber ermöglicht, mit der treuen Kraft seines Wortes in ihm standhaft zu bleiben und so mit ihm zu herrschen – eine Botschaft, die unsere Zeit braucht, liebe Schwestern, liebe Brüder; denn auf die Treue zu Christus kommt es angesichts unserer heutigen Götterwelt an. Wer hat es zu sagen? Nikolaus Groß lehrt uns – Jesus Christus, in dem man seinen Frieden auch dann finden kann, wenn die Hände gefesselt sind. Ihn rufen wir an in dieser Stunde: Jesus, Meister, erbarme dich unser. Amen.


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