29. Januar 2004:

Alle wollen leuchten

In Mülheim beleuchtete Hans Leyendecker kritisch den Medienbetrieb und nahm Maß an Nikolaus Groß

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Familienvater, Gewerkschafter und Schriftleiter der Westdeutschen Arbeiter-Zeitung: Nikolaus Groß kämpfte auch als Journalist gegen das Terrorregime der Nazis. Für Hans Leyendecker von der Süddeutschen Zeitung (SZ) war das der Ausgangspunkt, um sich beim Jahresempfang der Mülheimer Katholiken kritisch mit der Rolle der Medien in der heutigen Gesellschaft zu befassen.

Nachdenklicher Redner, aufmerksame Zuhörer: Hans Leyendecker spricht in Mülheim über seine Zunft
Foto: Wojciech Brzeska

Er wurde am 7. Oktober 2001 von Papst Johannes Paul II. selig gesprochen: Nikolaus Groß, der Familienvater, Arbeiterführer, Journalist und Widerstandskämpfer. Seit seiner Seligsprechung nehmen Katholiken in Mülheim an der Ruhr den Gedächtnistag des ersten Seligen des Bistums Essen (23. Januar) zum Anlass, um zum Jahresempfang der katholischen Kirche in der Ruhrstadt einzuladen. Nachdem Diakon Bernhard Groß, zweitjüngster Sohn des Seligen, 2002 über den Familienvater gesprochen und Weihbischof Franz Grave im vergangenen Jahr Groß' Verdienste als Gewerkschafter hervorgehoben hatte, stand in diesem Jahr der Journalist Nikolaus Groß im Mittelpunkt.

Und dazu hatte der Stadtkatholikenausschuss als Veranstalter des Jahresempfangs einen prominenten Redner für den Festvortrag gewinnen können. Zu dem Thema "Der Journalist und das Gewissen" sprach im überfüllten Pfarrsaal St. Barbara Hans Leyendecker, leitender politischer Redakteur der Süddeutschen Zeitung (SZ) und bekannt als der "Chefenthüller der Republik".

Indem er scharfe Kritik am Ist-Zustand der gegenwärtigen Berichterstattung in den Medien übte, kam Leyendecker gleich zur Sache: Heute diktiere der Boulevard die Themen. Vor allem der Bild-Zeitung sei die Rolle eines "Futterlieferanten" für die seriöse Presse zugewachsen, stellte der Journalist fest. Der Leser werde mit Halbwahrheiten und Nebensächlichkeiten bombardiert. Effenberg, Naddel, Bohlen sowie das "Kakerlaken-TV" ("Ich bin ein Star - holt mich hier raus") lieferten die Schlagzeilen. Ein skuriler Cocktail aus Zynismus, Gemeinheiten und Infantilitäten scheint die Nation zu bewegen. Die "Gegenwart ist das Enthüllen von exklusivem Nichts", brachte es Leyendecker auf den Punkt. Die Aufmachung entscheide, nicht die Sache; die Reklame, nicht die Qualität. Die Presse schaffe nur Stimmung und erniedrige das Wort zur Phrase. Und die Phrase töte die Sache. Ein Teufelskreis.

Wo aber bleibt das Entscheidende, das, was die Menschen im Zeitalter der Informationsüberflutung wirklich brauchen? Wo bleibt die Wahrheit? Die Wahrheit, die trägt und hält, "die reelle, die göttliche Wahrheit, die dem Leben Grund und Richtung gibt", fragte der Redakteur der Süddeutschen Zeitung.

Diese Wahrheit ans Tageslicht zu bringen, sei die eigentliche Aufgabe des Journalismus, unterstrich Leyendecker. Aufklären, Zusammenhänge erklären, Wächter sein, wenn andere Institutionen ausfallen. "Der recherchierende Journalist hat die Aufgabe, die dunkle Seite der Macht auszuleuchten und den Mächtigen das Gefühl zu geben, dass der Missbrauch nicht völlig gefahrlos wird", forderte der 54-Jährige. Gleichzeitig kritisierte er, immer weniger Verlage würden teure Recherchen in Kauf nehmen; Zeitungen und Sender würden nur wenige Redakteure beschäftigen, die ernsthaft enthüllen wollen. "Am liebsten bewegt man sich - und das könnte der Journalist Nikolaus Groß, den wir heute ehren wollen, nicht nachvollziehen - in Augenhöhe mit den Mächtigen", bedauerte Leyendecker.

Ein Zitat von Wolfgang Borchert aufgreifend ("Ich möchte Leuchtturm sein in Nacht und Wind / für Dorsch und Stint, für jedes Boot / und bin doch selbst ein Schiff in Not"), beendete Hans Leyendecker seine Festrede: Journalisten möchten Leuchtturm sein und sind doch selbst oft nur ein Schiff in Not. Aber über alle Wenn und Aber hinweg gelte eins: "Wo Unrecht geschieht, darf niemand wegsehen oder schweigen. Das sind wir auch dem Andenken an Nikolaus Groß schuldig."

Hans Leyendecker, leitender politischer Redakteur der Süddeutschen Zeitung.
Foto: Wojciech Brzeska

"Viele Journalisten verwechseln nach wie vor die Funktion der Kontrolle mit dem angenehmeren Geschäft der Kooperation.
Die Krankheit des deutschen Journalismus ist nicht die gepflegte Kampagne, sondern die Verwischung von Grenzen zur Politik, zur Wirtschaft, der gegenseitigen Instrumentalisierung für politische und eigennützige Zwecke."


Aus: Ruhrwort vom 29. Januar 2004, von Wojciech Brzeska

Lesen Sie dazu die vollständige Rede des Redakteurs Hans Leyendecker:

Klicken Sie für mehr zu diesem Thema Rede von Hans Leyendecker

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