26. Dezember 2003:

Weihbischof Franz Grave:

Predigt im Pontifikalamt

am Fest des Hl. Stephanus am 2. Weihnachtstag in der Essener Münsterkirche

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Liebe Schwestern und Brüder!

"Ich sehe den Himmel offen und den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen."

Das ist für die Leute um Stephanus zu viel. Das können sie nicht hören. Das wollen sie nicht hören. Sie wollen nicht an Gott erinnert werden. Das größte Verbrechen des Stephanus in den Augen seiner Peiniger ist dieses: er erinnert sie an Gott.

Stephanus, der Ezrmärtyrer. Er ist der zeitlich erste Märtyrer, von dem uns die Apostelgeschichte berichtet. In der Nachfolge Christi gibt er sein Leben hin. Stephanus ist aber auch der Erz- oder Urmärtyrer, weil sein Schicksal für alle Zeiten das Muster des Märtyrertums widerspiegelt. Der Märtyrer ist der Gottes-erinnerer. Er hält den Menschen, den Mächtigen, den Verstiegenen, ihre Grenzen vor Augen, "und sie konnten der Weisheit und dem Geist, mit dem er sprach, nicht widerstehen". Bis heute ertragen es die Tyrannen nicht, daß an Gott erinnert wird. Es schmälert ihre Macht, es relativiert ihren Einfluß; es schraubt sie zurück auf menschliches Maß, und das ist es, was sie fürchten.

Stephanus, erfüllt vom Heiligen Geist, blickte zum Himmel empor und sah die Herrlichkeit Gottes und Jesus zur Rechten Gottes und rief: "Ich sehe den Himmel offen." Bis heute gibt es Gläubige, die in dieser Weise Zeugnis ablegen und dafür getötet werden. Der Märtyrertod ist keine Anfangserscheinung gewesen; die Märtyrer sind nicht ausgestorben. Auch unsere Zeit ist keine märtyrerlose Zeit. Im Gegenteil. Das letzte, 20. Jahrhundert, war ein Jahrhundert der Märtyrer. Der Papst hat in seinem Schreiben "Tertio millennio adveniente" zur Jahrtausendwende geschrieben:

"Am Ende des zweiten Jahrtausends ist die Kirche erneut zur Märtyrerkirche geworden. Die Verfolgungen von Gläubigen - Priestern, Ordensleuten und Laien - hat in verschiedenen Teilen der Welt eine reiche Saat von Märtyrern bewirkt. Das Zeugnis für Christus bis zum Blutvergießen ist zum gemeinsamen Erbe von Katholiken, Orthodoxen, Anglikanern und Protestanten geworden."

Dieses letzte Jahrhundert, das finstere Seiten kannte und lange Schatten warf, war eine Hochzeit der Märtyrer. In den großen Leidenszeiten dieses Jahrhunderts ist das Zeugnis der Christen lebendig gewesen - der Christen aller Konfessionen. "Der Ökumenismus der Heiligen," so noch einmal Johannes Paul II. "ist vielleicht am überzeugendsten. Die communio sanctorum, Gemeinschaft der Heiligen, spricht mit lauterer Stimme als die Urheber von Spaltungen." Das gemeinsame Zeugnis ist ein Zeichen der Einheit der Christen. Wird das nicht bei den verschiedenen ökumenischen Bemühungen und Bewertungen viel zu wenig bedacht? Konsensdokumente in der ökumenischen Theologie sind wichtig. Aber die Märtyrer-Ökumene wiegt mehr.

Das Zeugnis der Christen bestand darin, daß sie die Erinnerung nicht aufgegeben haben. Sie haben an Gott erinnert, sie haben an Christus erinnert. Sie haben nicht zugelassen, daß das Dunkel der Zeit das Licht von Ostern abgedeckt und verdeckt hat. Trotz allem haben die Christen niemals die Erinnerung daran aufgegeben, daß Christus das damals denkbar schlechteste und schlimmste menschliche Schicksal geteilt hat. Und sie haben die Erinnerung daran wachgehalten, daß er dieses Schicksal überwunden und besiegt hat. In diesem Bewußtsein haben sie es geschafft, nicht an sich selbst zu denken, sich selbst nicht zu retten, sich selbst nicht wichtig zu nehmen. Sie waren erfüllt vom Wort Jesu, das wir im Evangelium vorhin gehört haben: "Ihr werdet um meinetwillen vor Statthalter und Könige geführt, damit ihr... Zeugnis ablegt."

Denken wir an die Gefangenen in den sowjetischen Gulags. Denken wir an die Massaker in China in der ersten Hälfte des Jahrhunderts. Denken wir an die Christen, die Opfer der Nationalsozialisten: Dietrich Bonhoefer, Maximilian Kolbe, Gottfried Könzgen, Edith Stein, Alfred Delp, Bernhard Lichtenberg. Denken wir an die Opfer von Massakern in Lateinamerika, Afrika, Kambodscha, an die "ethnischen Säuberungen" im ehemaligen Jugoslawien, die Massaker in Ruanda, an eine Million Tote im Bürgerkrieg von Mosambik. Überall dort hat es Christen gegeben, die der Gewalt Widerstand geleistet und die Liebe nicht aufgegeben haben.

Ob die Märtyrer dieser Zeit alle mit Namen bekannt sind? Es waren viele Namenlose, die trotz aller Widerstände weiter geliebt haben. Oft waren es einfache Leute, die in Treue zu ihrem Glauben gestanden haben und für diese Liebe mit dem Tod bezahlt haben. Sie sind konsequent geblieben. Konsequent wie der einfache Bauer und Schäfer Michele Del Greco aus den Abruzzen, der von den Deutschen erschossen wurde, nachdem er englischen Soldaten Lebensmittel geschenkt hatte. Er hat gesagt: "Ich sterbe, weil ich das in die Tat umgesetzt habe, was mir als Kind in der Kirche beigebracht wurde: Man soll den Hungernden etwas zu essen geben."

Konsequent wie zum Beispiel die ungezählten Opfer der Verfolgungszeit in Guatemala in den 80er Jahren. 150.000 Menschen sind im Bürgerkrieg dort ermordet worden oder verschwunden, darunter viele Katechetinnen und Katecheten, Priester und Ordensleute. Sie ließen ihr Leben, weil sie öffentlich Unrecht anprangerten, gegen Hungerlöhne und ungerechte Landverteilung protestierten. Im guatemaltekischen Volk gibt es keine Zweifel darüber, daß diese Menschen Märtyrer sind, auch wenn es nur in den wenigsten Fällen zu einem ordentlichen Feststellungsverfahren gekommen ist. Diese vielen machten die Probe aufs Exempel und lösten ihr Leben ein für die Option für die Armen, indem sie nicht schwiegen zu Unrecht und Leid.

Sind sie Helden, die Märtyrer? Ist das übermenschlich? Was wissen wir schon von denen, die in den Todeszellen auf ihre Hinrichtung gewartet haben? Sie seien ohne Angst gewesen? Aber es geht nicht um Heldentum. Es geht auch nicht darum, Risiken einzugehen. Die Wurzel des Martyriums ist die alltägliche Treue zu der Überzeugung, daß man die Liebe nicht fahrenlassen darf und daß Gott auch im tiefsten Dunkel nicht abwesend ist. Aus dieser Überzeugung wachsen Kräfte. Ich denke an Nikolaus Groß in der Todeszelle. Sollen wir uns einen Menschen ohne Angst, ohne Trauer, ohne Sehnsucht nach dem Leben vorstellen? Im Gegenteil. Er hat an den Seinen mit Liebe gehangen. Und doch hat er sich schließlich nicht lähmen lassen von der Sorge um sich und seine Bedürfnisse. Er hat nicht auf den Ratschlag gehört, den auch Christus am Kreuz vernommen hat: Rette dich selbst! Er hat die Rettung von Gott und nur von ihm erhofft. In seinem letzten Brief aus dem Gefängnis schreibt er: "Fürchtet nicht, daß angesichts des Todes großer Sturm und Unruhe in mir sei. Ich habe täglich gebetet, daß der Herr mich und Euch stark mache, alles geduldig und ergeben auf uns zu nehmen, was er für uns bestimmt oder zugelassen. Und ich spüre, wie es durch das Gebet in mir still und friedliche geworden ist... Gott verläßt keinen, der ihm treu ist." Aus diesen Worten klingt dieselbe Zuversicht, von der das heutige Evangelium spricht: "Wer bis zum Ende standhaft bleibt, der wird gerettet."

Ich denke auch an das Ehepaar Kreulich aus Essen-Kray. Kritische Bemerkungen über das nationalsozialistische Regime reichen aus, um die Eheleute in das Schußfeld der Partei zu bringen. Bernhard und Maria Kreulich sind keine Helden. Im Laufe der Verhöre aber wächst ihnen der Mut zu, ihre Überzeugung nicht zu verleugnen. Die Folge ist das Todesurteil. In der Zeit bis zur Hinrichtung verfaßt Maria Kreulich ein Gebet, das die ganze Zerrissenheit ihrer Situation dokumentiert. "Das Herz sträubt sich, den Weg zu gehen. Es kann den Allmächtigen nicht verstehen (...) Mein Gott, mein Gott, soll das Liebe sein?" so schreibt sie voller Zweifel. Und dann: "Dein Wille geschehe, nicht wie ich will... Wenn ich auch das Ziel Deiner Wege nicht sehe, Du führst mich doch wohl, Herr, Dein Wille geschehe."

Die Märtyrer, die vielen: Was sagen sie uns? Geraten sie in Vergessenheit? Es scheint so zu sein, daß unsere Zeit ihnen den Rücken zukehren will. Dabei haben sie ein Erbe zu verschenken, ein Erbe, das eben nicht nur für Dunkelzeiten, für Extremzeiten taugt. Das Erbe der Märtyrer lautet: Liebe ist stärker als der Tod; Gottes Liebe überwindet alles.

Dies ist ein Erbe, das es anzunehmen gilt. Natürlich haben wir Angst. Natürlich weichen wir dem Leid aus. Natürlich tun wir uns schwer, auf etwas zu verzichten. Die Erinnerung an das Erbe der Märtyrer bewahrt uns dann vor Vergeßlichkeit und Selbstliebe. Es ist ein Erbe für den Alltag. Für den Alltag, in dem es notwendig ist, allen Haß, alle Gewalt und alle Aggressitivät auch im Kleinen abzulegen.

Erzbischof Oscar Romero, der während der Feier der Eucharistie am Altar erschossen wurde, schrieb dazu:

"Das Zweite Vatikanische Konzil sagt, daß nicht alle die Ehre haben werden, ihr physisches Blut zu vergießen und für ihren Glauben zu sterben. Gott fordert jedoch von allen Gläubigen den Geist des Martyriums, und das bedeutet, daß wir alle bereit sein müssen, für unseren Glauben zu sterben. Wenn uns also der Herr diese Ehre nicht gewährt, so müssen wir doch dazu bereit sein, damit wir in der Stunde, wenn von uns Rechenschaft gefordert wird, sagen können: Herr, ich bin bereit gewesen... Und ich habe es für ihn hingegeben, denn man gibt das Leben nicht nur dann hin, wenn man getötet wird. Das Leben hingeben und in einem Geist des Martyriums leben, bedeutet Hingabe in den alltäglichen Verpflichtungen und in der Stille des Alltags."

Wenn wir die Märtyrer so anschauen - wenn wir Martyrium so verstehen: dann erfassen uns weder Angst noch das Unbehagen, alle diese Menschen, die ihr Leben gaben, seien so weit weg von uns. Dann rücken sie uns plötzlich nahe und werden zu Begleitern in unserer ganz persönlichen, konkreten Lebenshingabe, der Hingabe im Alltag. Dann können wir wie Sie unseren Alltag öffnen auf Gott hin und Gott einlassen in unser Leben. Mit den Märtyrern können wir wie Stephanus bezeugen, was wesentlich ist: Ich sehe den Himmel offen! Das ist eine Zeitansage gegen den geschlossenen Himmel, unter dem wir leben. Ein Himmel ohne Gott, eine Welt ohne Gott. Die Märtyrer leben und sterben gegen den geschlossenen Himmel an. Ihr Zeugnis lenkt unseren Blick zum Himmel, der offen ist - aufgerissen durch Gottes Sohn.

Amen!


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