30.09.1998

Nikolaus Groß, die KAB und der Widerstand im Dritten Reich

Vortrag von Wilfried Loth

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Nikolaus Groß wurde am 30. September 1898 in Niederwenigern geboren. 1912, also mit 14 Jahren, begann er in einem Blechwalz- und Röhrenwerk in Altendorf zu arbeiten, 1915 wechselte er auf eine Zeche in Bochurn-Dahlhausen, 1920 wurde er Sekretär beim Gewerkverein christlicher Bergarbeiter. 1927 übernahm Nikolaus Groß das Amt des Redakteurs der Westdeutschen Arbeiterzeitung, die vom Verband der Westdeutschen Katholischen Arbeiterbewegung in Köln herausgegeben wurde. Als Mitglied der Verbandsspitze der KAB beteiligte er sich an den Widerstandsaktivitäten des sogenannten "Kölner Kreises". Nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944 wurde er verhaftet, vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt, am 23. Januar 1945 wurde er in Berlin-Plötzensee hingerichtet.

Hinter diesen dürren Fakten verbirgt sich ein reiches Leben, ein Leben, das viele Fragen aufwirft. Zwei dieser Fragen sind von besonderem Interesse, wenn eine Bildungsstätte in katholischer Trägerschaft das Andenken an Nikolaus Groß ehrt. Was bedeutet es, wenn ein junger Arbeiter aus dem Industrierevier an der Ruhr Funktionär der katholischen Arbeiterbewegung wird, so lautet die erste Frage; wie ist das zu erklären, und wofür stand diese Arbeiterbewegung? Die zweite Frage schließt sich daran unmittelbar an: Wie gerät ein Mitglied dieser Arbeiterbewegung in den Widerstand im Dritten Reich, warum engagierte Nikolaus Groß sich im Widerstand und wofür engagierte er sich? Ich will versuchen, diese beiden Fragen soweit zu beantworten, wie das beim gegenwärtigen Stand der Forschung möglich ist.

I.

Nikolaus Groß stammt aus einer Familie, die wie so viele andere in das wachsende Industrierevier an der Ruhr gezogen war, um dort Arbeit zu finden. Sein Vater fand Arbeit, er fand aber auch noch etwas anderes: In Niederwenigern ebenso wie in den anderen Industriedörfern bot die Kirchengemeinde mit ihren Riten, Festen, sozialen Netzen und religiöser Unterweisung den vielen Zuwanderern aus ländlichen Gebieten eine "neue alte Heimat":

Geistige, emotionale und soziale Stützen, die den Arbeitern und ihren Familien halfen, die Belastungen des rasanten Industrialisierungsprozesses zu ertragen, die harte Arbeit ebenso wie das Leben in völlig neuen Verhältnissen. An die traditionellen Aktivitäten der Gemeinde anknüpfend bildeten sich katholische Vereine, und insbesondere jüngere Geistliche (die sogenannten "roten Kapläne") kümmerten sich nicht nur um das Seelenheil ihrer Pfarrangehörigen, sondern dezidiert auch um ihre sozialen Belange, um ein Leben der Arbeiter in Würde.

Diese Verbindung von traditionellen Werten und praktischem sozialen Engagement festigte die Bindung katholischer Arbeiter an ihre Seelsorger und damit an die Kirche und den politischen Katholizismus. Sie ließ einen spezifischen Arbeiter-Katholizismus entstehen, der für viele Arbeiter nicht nur eine Form der Daseinsbewältigung war, sondern auch ein Weg zur Verbesserung der Verhältnisse, in denen sie sich befanden, ein Weg zu sozialem Fortschritt, gesellschaftlichem Aufstieg und politischer Mitverantwortung, oder, um einen Begriff zu gebrauchen, der in diesem Zusammenhang durchaus Sinn macht, ein Weg der Arbeiter-Emanzipation. Dieser Weg war so attraktiv, daß er großen Anklang fand. Neuere Forschungen zeigen immer deutlicher, daß er die ursprüngliche Form der Arbeiterbewegung an der Ruhr darstellte, jedenfalls im Kernbereich der "Industriedörfer" zwischen Gelsenkirchen und Oberhausen. Die sozialdemokratische, das heißt:kirchenferne Variante trat erst seit der Wende zum 20. Jahrhundert allmählich hinzu.

Für Nikolaus Groß war es daher ganz selbstverständlich, daß er 1917, nach der Beendigung seiner Ausbildung zum Bergmann, dem Gewerkverein christlicher Bergarbeiter beitrat, der zunächst führenden gewerkschaftlichen Organisation der Bergleute an der Ruhr, die 1894 von dem katholischen Berghauer August Brust in Altenessen gegründet worden war. Es war dies eine Organisation, die sich am Zielbild einer, wie es immer wieder hieß, "gerechten" Staats- und Gesellschaftsordnung orientierte. Gemeint waren damit ein "gerechter Anteil" der Arbeiter am Volkseinkommen ebenso wie eine "angemessene" Vertretung der Arbeiter auf allen gesellschaftlichen und politischen Ebenen, Mitbestimmung in den Betrieben, Vermögensbildung in Arbeiterhand und sozialpolitische Anstrengungen des Staates.

Vom Ursprung her war diese Bewegung kompromissorientiert, ihre Mitglieder hofften auf Besserung der Verhältnisse durch die Einsicht der privilegierten, der Unternehmer und der staatlichen Obrigkeit. Als diese Einsicht aber auf sich warten ließ, griffen die christlichen Arbeiter durchaus auch zum Mittel des Streiks, und auch sonst lernten sie, harte Interessenpolitik zu betreiben, die von der bürgerlichen Gesellschaft nicht immer gerne gesehen wurde. Christlich heißt übrigens in diesem Zusammenhang in erster Linie "nicht-sozialdemokratisch": Die katholischen Arbeiter gingen davon aus, daß sie mit den evangelischen Arbeitern in einer Front kämpfen mußten, wenn sie Erfolg haben wollten; sie wollten überhaupt alle Arbeiter gewinnen, soweit sie sich nicht ideologisch und parteipolitisch an die Sozialdemokratie banden.

Für Nikolaus Groß gilt nun, daß er nicht nur Mitglied in dieser Arbeiterbewegung sein wollte, sondern sich in besonderem Maße für sie engagierte, das heißt: seine Fähigkeiten und Kräfte in den Dienst der Bewegung stellte. Er nahm an den Schulungskursen des Volksvereins für das katholische Deutschland teil, der großen Bildungsorganisation des sozialen Katholizismus mit Sitz in Mönchengladbach. Neben seiner Arbeit als Bergmann lernte er dort die Grundsätze katholischer Soziallehre kennen, die Elemente moderner Sozialpolitik, wie sie von den "Kathedersozialisten" und anderen Reformern gelehrt wurden, und er lernte auch, wie man die Arbeiterbewegung praktisch organisierte - wie man Versammlungen leitete, Mitteilungsblätter redigierte und die Arbeiter über ihre Rechte aufklärte. So zugerüstet, trat Nikolaus Groß 1918 in die Zentrumspartei ein, wenig später auch in die KAB, und im Juli 1920 wurde er hauptamtlicher Sekretär des Gewerkvereins, zunächst mit der Betreuung der Arbeiterjugend in Oberhausen betraut.

Als Gewerkschaftsfunktionär, so würde man das heute bezeichnen, verkörperte Nikolaus Groß die Verbindung von Glauben und sozialem Engagement, die das Milieu kennzeichnete, aus dem er hervorgegangen war. Politisch ging es ihm in erster Linie um die Emanzipation der Arbeiter, deren Stellung in der frühen Industriegesellschaft er als unterprivilegiert erfahren hatte und auch als ungerecht benachteiligt begriff. "Gleichberechtigung und Gleichachtung" der Arbeiter, wie er es in einem Artikel für die "Westdeutsche Arbeiterzeitung" einmal formulierte, war ihm mit der gesamten katholischen Arbeiterbewegung das zentrale Ziel seines politischen Engagements. Über die rechtliche Freiheit und das allgemeine Wahlrecht hinaus, die im Laufe des Ersten Weltkriegs schon erkämpft worden waren, bedeutete dies größeren Anteil am Volkseinkommen, stärkere Vertretung in den Parlamenten und Verwaltungen und bewußte Mitwirkung an der Gestaltung des "Volksganzen".

Für den Anwalt der Arbeiteremanzipation stellte die Weimarer Demokratie als "Volksstaat von Weimar" einen entscheidenden Fortschritt gegenüber dem wilhelminischen Obrigkeitsstaat dar. Als einem Abkömmling der Ruhrbergarbeiterschaft, der in der Zeit der krisenhaften Zuspitzung der inneren Spannungen des Kaiserreichs 1917/18 politisch sozialisiert worden war, lagen ihm nostalgische Gefühle für die 1918 abgeschaffte Monarchie fern. Sozialromantische Vorstellungen, wie sie in Teilen des Katholizismus noch Anklang fanden, lehnte er aufgrund seiner Erfahrung in den politischen und sozialen Kämpfen um den Aufstieg der Arbeiter als freiheitsfeindlich und unpraktikabel ab. Gegen die Rechtstendenzen im deutschen Katholizismus postulierte er, daß der Katholizismus ein "absolut zuverlässiger Garant des demokratischen Volksstaates" sein müsse.

Das Ideal des "demokratischen Volksstaates" sah Nikolaus Groß freilich in der Weimarer Republik noch nicht genügend verwirklicht. "Der Geist des neuen Staates," schrieb er 1928, "ist nicht immer und überall Volksstaatsgeist. Selbst die politische Gleichberechtigung bleibt doch oft nur formal, solange die wirtschaftliche und soziale [...] Gleichberechtigung nicht vorhanden ist". Die politische Demokratie bedurfte für ihn also einer sozialen Absicherung, einer Ergänzung durch "Wirtschaftsdemokratie", Sozialpartnerschaft und Sozialstaat. Je deutlicher die Unternehmerseite in der zweiten Hälfte der 20er Jahre von der Sozialpartnerschaft wieder abrückte, desto intensiver forderte er die soziale Demokratie ein.

Soziales Engagement, Solidarität mit den Mitmenschen und Übernahme von Verantwortung für die Gemeinschaft, wie sie sich hier abzeichneten, ergaben sich für Nikolaus Groß ganz selbstverständlich aus dem katholischen Glauben, wie er ihn in der Familie und der Gemeinde erfahren und in größeren Gemeinschaften immer wieder bestätigt gefunden hatte. "Christus der untrügliche Lehrer des sozialen Friedens, der siegreiche Überwinder der sozialen Zerklüftung, der alleinige Retter aus der gewaltigen Krise, die die Menschheit befallen hat" - dieses programmatische Bekenntnis von 1927 kann für die Frühzeit seines Engagements in der katholischen Arbeiterbewegung ebenso angenommen werden wie für seine Tätigkeit im Vorstand der KAB Westdeutschlands und sein allmähliches Hineinwachsen in die Widerstandsnetze, die sich im Dritten Reich bildeten; es spricht aus allen öffentlichen Bekundungen in gleicher Weise wie aus den überlieferten privaten Äußerungen und den Zeugnissen von Weggefährten.

Die Selbstverständlichkeit, mit der sich Groß für seine Mitmenschen engagierte, ließ ihn selten ein Wort über die Motive seines Engagements verlieren. Gelegentlich scheinen sie aber in politischen Bekundungen auf - etwa wenn er 1927 zustimmend Otto Müller mit dem Satz zitiert, "letzter Beweggrund politischer Tätigkeit" dürfe "nicht die Aufstellung von Forderungen sein, sondern die Überzeugung von der Verpflichtung, dem Gesamtwohl dienen zu müssen." Sie sind auch zu erahnen, wenn er nach einem Gestapo-Bericht 1935 in einer Veranstaltung dazu aufruft, der KAB und ihrer Aufgabe auch "auf die Gefahr des Existenzopfers hin" die Treue zu halten. Schließlich sind sie in der Bemerkung greifbar, die Groß' Mitgefangener Rudolf Pechel als eine seiner letzten Äußerungen vor der Hinrichtung überliefert: "Was kann ein Vater seinen Kindern Größeres hinterlassen als das Bewußtsein, daß er sein Leben für die Freiheit und Würde seines Volkes gegeben hat?"

II.

Das Verständnis von Politik, das Nikolaus Groß in der katholischen Arbeiterbewegung erworben hatte, war in mancherlei Hinsicht problematisch. Wie in einem Rechtsstaat die Freiheit gesichert werden sollte, darüber machte er sich seiner Herkunft entsprechend wenig Gedanken; und die Prägung durch den Kulturkampf des Kaiserreichs ließ ihn den Gegensatz zum Liberalismus wie zum Sozialismus als außerordentlich stark empfinden. Beides zusammen genommen führte Groß dazu, die schleichende Erosion der Weimarer Republik ab 1930 mitzutragen - wie es auch die sonstige KAB-Führung und die Führung der Zentrumspartei taten. Weil er die Interessen der Arbeiter bei Heinrich Brüning als ehemaligem Sekretär der Christlichen Gewerkschaften gut aufgehoben glaubte, unterstützte er dessen Kanzlerschaft ohne jeden Vorbehalt, auch wenn sie das autoritäre Regieren per Notverordnung von vorneherein einer erneuten Regierungsbeteiligung der SPD vorzog. Gegen das "Kabinett der Barone" Franz von Papens, das nach dem Sturz Brünings im Sommer 1932 installiert wurde, setzte er angesichts der Gefahr einer Mehrheitsbildung der NSDAP Hitlers mit der DNVP Hugenbergs auf eine Regierungskoalition aus Zentrum und Nationalsozialisten, die die nationalsozialistische Bewegung schließlich "zähmen" sollte. Dabei ging er davon aus, daß die Regierungsverantwortung auf die NSDAP eine ähnlich mäßigende Wirkung haben würde wie seinerzeit auf die SPD.

Ich verweise dazu auf die Dokumentation und die biographische Darstellung von Dr. Vera Bücker-Kauschke, der auch die meisten folgenden Zitate entnommen sind.

Die Hoffnung auf eine Zähmung der NSDAP in der Regierungsverantwortung ließ Groß offensichtlich auch die nationalsozialistische Machtergreifung nach Hitlers Beauftragung mit dem Kanzleramt am 30. Januar 1933 leichter ertragen. Zunächst versuchte die KAB-Führung noch, die Zentrumsfraktion des Reichstags zu einer Ablehnung des Ermächtigungsgesetzes vom 23. März 1933 zu bewegen. Nachdem sie damit gescheitert war, wurde aus der Unterstützung des Koalitionsangebots der Zentrumsfraktion an die NSDAP jetzt die Bereitschaft zur Mitwirkung an der neuen "Volksgemeinschaft". In der "Westdeutschen Arbeiter-Zeitung" wurde das Zurückdrängen großbürgerlicher und adliger Führungskräfte positiv registriert; die Verletzung rechtsstaatlicher Grundsätze wurde kaum wahrgenommen. "Grundsätzliche Opposition", betonte das KAB-Organ im April 1933, käme für die katholischen Arbeiter nicht in Frage.

Die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten bedeutete aber nicht Anpassung. Die gleiche weltanschauliche Fundierung, die die Wahrnehmung der Gefahren für die Demokratie beeinträchtigte, führte Groß zu einer sehr frühen und prinzipiellen Ablehnung des Nationalsozialismus. "Wir lehnen als katholische Arbeiter den NS nicht nur aus politischen und wirtschaftlichen Gründen, sondern entscheidend auch aus unserer religiösen und kulturellen Haltung entschieden und eindeutig ab", schrieb er im September 1930 in der Westdeutschen Arbeiterzeitung, lange vor entsprechenden Verlautbarungen der deutschen Bischöfe.

Nikolaus Groß sah daher im Reichskonkordat vom 20. Juli 1933 eine tragfähige Grundlage für die Fortsetzung der katholischen Verbandsarbeit und damit sowohl für die Befestigung des Glaubens als auch für den Einsatz für die Rechte der Arbeiter. Offensiv forderte er im Herbst 1933 dazu auf, neue KAB-Vereine zu gründen, nachdem die Verbände durch das Konkordat geschützt seien. Gleichzeitig hoffte er, die katholischen Arbeiter könnten in der Deutschen Arbeitsfront, der neuen Zwangsorganisation für alle Arbeiter des Reiches, für die Durchsetzung der Grundsätze der katholischen Soziallehre wirken.

Zu welchem Zeitpunkt Groß bewußt wurde, daß die Hoffnung auf einen evolutionären Wandel der nationalsozialistischen Bewegung illusionär war, ist nicht genau zu rekonstruieren. Ernüchternd dürfte wohl gewirkt haben, daß das Verbot der Doppelmitgliedschaft in DAF und KAB vom April 1934 entgegen ersten Hoffnungen nicht zurückgenommen wurde. Für KAB-Mitglieder bedeutete dies den Verlust aller Rechte auf Sozialleistungen, die sie als Gewerkschaftsmitglieder erworben hatten, und häufig auch den Verlust des Arbeitsplatzes, der an die Bedingung einer DAF Mitgliedschaft gebunden war. Mit Sorge erfüllte Groß wohl auch, daß das Regime seine antikirchliche Propaganda ab 1935 zusehends verstärkte. Jedenfalls engagierte sich die "Ketteler Wacht" (wie das Verbandsorgan der KAB seit Anfang 1935 hieß) mit Nachdruck für die Verteidigung der von der NSDAP attackierten Bekenntnisschule; und aus dem Mai 1935 ist der schon zitierte Appell überliefert, der KAB auch "auf die Gefahr des Existenzopfers hin" die Treue zu halten.

Mitgliedschaft gebunden war. Mit Sorge erfüllte Groß wohl auch, daß das Regime seine antikirchliche Propaganda ab 1935 zusehends verstärkte. Jedenfalls engagierte sich die "Ketteler Wacht" (wie das Verbandsorgan der KAB seit Anfang 1935 hieß) mit Nachdruck für die Verteidigung der von der NSDAP attackierten Bekenntnisschule; und aus dem Mai 1935 ist der schon zitierte Appell überliefert, der KAB auch "auf die Gefahr des Existenzopfers hin" die Treue zu halten.

Sodann ist zu beobachten, daß Groß seine Aktivitäten in der zweiten Hälfte der 30er Jahre zunehmend auf die Immunisierung der katholischen Arbeiterbewegung gegen die totalitären Ansprüche des Regimes konzentrierte. Mit den einzelnen Verbandsgruppen hielt er durch eine ausgedehnte Reise- und Vortragstätigkeit Kontakt; in zahlreichen Zeitschriftenartikeln und Kleinschriften beschwor er die Werte christlicher Lebensführung. Dabei legte er besonderen Nachdruck auf die Bedeutung der christlichen Familie und den religiösen Erziehungsauftrag der Familienväter. Ihnen kam nach seinen Vorstellungen offensichtlich eine Schlüsselfunktion bei der Bewahrung der Existenz im Lichte des Glaubens zu, nachdem der Katholizismus zunehmend aus dem öffentlichen Raum verbannt wurde.

III.

Darüber hinaus wurde in den Gesprächsrunden in der Kölner Verbandszentrale der KAB spätestens seit 1935 über politische Alternativen zum nationalsozialistischen Regime nachgedacht. An diesen Gesprächen im Kettelerhaus in Köln war die Verbandsspitze der KAB beteiligt, neben dem "Hauptschriftleiter" Groß der Geistliche Präses Otto Müller, der Verbandsvorsitzende Josef Joos und der Verbandssekretär Bernhard Letterhaus, darüber hinaus ehemalige Gewerkschaftsführer und Zentrumspolitiker aus den verschiedenen Orten des Rheinlands und des Ruhrgebiets. Zunächst ging es bei diesen konspirativen Treffen um die Frage, wie der soziale und politische Katholizismus trotz der Verbote seine Aktivitäten fortsetzen konnte. Daraus entwickelte sich notwendigerweise der Gedanke an organisierten Widerstand. Und dieser führte logisch zu der Frage, wie denn ein Deutschland ohne Hitler, ein Deutschland nach Hitler aussehen sollte.

Daraus ergab sich ganz allmählich, verstärkt seit 1940, der Aufbau von geheimen Kontakten zu Gleichgesinnten. Nikolaus Groß wirkte an der Entwicklung dieses Widerstandsnetzes in erster Linie als Organisator von Treffen, Kontaktvermittler und Kurier mit. Seit 1938 arbeitete er bei der überdiözesanen Zentralstelle für Männerseelsorge in Fulda mit, mit der die Bischöfe neue Wege der Männerseelsorge nach dem Verbot der Arbeitervereine entwickeln wollten. Hier lernte er 1941 den Jesuitenpater Alfred Delp kennen, der Mitglied im oppositionellen Kreisauer Kreis war und immer wieder betonte, daß sich die Kirche offensiv für die Verteidigung der Menschenrechte einsetzte.

1942, als Bernhard Letterhaus als Hauptmann zur Abwehr in das Oberkommando der Wehrmacht nach Berlin versetzt wurde, ergab sich eine Ausweitung der Kontakte auf den Berliner Widerstandskreis um Carl Goerdeler, den früheren Oberbürgermeister von Leipzig. Vermittler war hier Jakob Kaiser, ein christlicher Gewerkschaftler, der dem Goerdeler-Kreis angehörte und Letterhaus einbezog, um das Gewicht der Arbeiterbewegung im Widerstand zu verstärken. Auch Groß kam besuchsweise nach Berlin und traf dort Kaiser. Ebenso traf er mit Goerdeler zusammen, der politisch aus dem deutschnationalen Lager kam, mit dem Sozialdemokraten Wilhelm Leuschner und mit dem Publizisten Rudolf Pechel, dem Herausgeber der konservativen Deutschen Rundschau. Ganz nebenbei wurden hier traditionelle politische, konfessionelle und soziale Schranken überwunden. Im gemeinsamen Bewußtsein, daß man für ein besseres Deutschland gemeinsam tätig werden mußte, kam man sich näher, eine wichtige Voraussetzung für die spätere Gründung einer lebensfähigen Demokratie in Deutschland.

Wie sich die Mitglieder des Kölner Kreises die Zukunft vorstellten, ist nur in Umrissen bekannt. Deutlich ist, daß sie an die Schaffung einer überkonfessionellen Partei dachten, an die Schaffung einer Einheitsgewerkschaft, an einen Wiederaufbau auf der Grundlage der Gemeinsamkeit, die sie im Widerstand erfahren hatten. Von Willi Elfes, dem Vorgänger von Nikolaus Groß als Schriftleiter der KAB, haben wir ein Vortragsmanuskript aus dem Jahr 1942, in dem er darüber hinaus eine Organisation der Berufsstände, eine Genossenschaftsbewegung und die Überwindung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung forderte. Weiter schwebte ihm die "Errichtung eines Staatswesens in einer Ordnung von Freiheit und Autorität" vor, "in einer gesunden Verbindung von staatlicher Führung und staatsbürgerlicher Selbsthilfe." Konkret hieß das "eine parlamentarische Volksvertretung auf demokratischer Grundlage nach den Regeln des Mehrparteiensystems", eine starke, aber parlamentarisch verantwortliche Regierung und eine reiche Selbstverwaltung "sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Körperschaften" nach dem Subsidiaritätsprinzip.

Groß redigierte zusammen mit Elfes zwei Programmschriften. "Ist Deutschland verloren?", war die eine überschrieben, "Die großen Aufgaben" die andere. Wir wissen freilich nur, daß es sie gab.

Erhalten geblieben sind sie nicht; wahrscheinlich haben sie die Autoren nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944 vernichtet.

Nach dem Bericht von Pater Laurentius Siemer, dem Provinzial der Dominikaner im Kloster Walberberg, der vön den Arbeiterführern zu ihren Besprechungen hinzugezogen worden war, waren sie zunächst davon überzeugt, "daß, wenn überhaupt ein Umsturz von Innen her kommen könne, er getragen sein müsste von den Arbeitern." Mit der Zeit wurde ihnen aber deutlich, daß es dafür keine Ansätze gab. Statt dessen hofften sie, seit Kaiser mit dem zurückgetretenen Generalstabschef der Reichswehr, Generaloberst von Hammerstein in Verbindung getreten war, auf eine Initiative der militärischen Führung. Sie selbst sahen sich in der Rolle von Zuträgern und Unterstützern eines möglichen Regimewechsels.

Als sich die Führer des konservativen Widerstands 1943 auf die Notwendigkeit eines baldigen Staatsstreichs verständigten, trugen die hl. Kölner! diese Entscheidung nicht nur mit. Sie beteiligten sich aktiv an der Organisation des Umsturzregimes und an der Gewinnung von zuverlässigen Personen, deren Mitarbeit für die Etablierung des neuen Regimes unabdingbar war. Auch hier sind nicht alle Einzelheiten bekannt geworden, aber wir wissen zum Beispiel, daß Nikolaus Groß Ende Oktober 1943 im Auftrag Goerdelers nach Saarbrücken reiste, um den früheren Zentrumsabgeordneten und Völkerbund-Kommissar Bartholomäus Koßmann zu bitten, sich als Politischer Beauftragter für den Wehrkreis XII (Wiesbaden) zur Verfügung zu stellen, d.h. als eine Art Oberpräsident der südwestdeutschen Provinz.' Daneben hielt er Kontakt zu KAB-Sekretären und anderen Arbeiterführern, die zur Absicherung des Umsturzes und der danach anstehenden gesellschaftlichen Neuordnung bereitstehen sollten. Bereit sein ist alles, schrieb er dem KAB-Sekretär Georg Budke kurz vor dem 20.Juli 1944.

Groß selbst ist im Zuge der Planungen für die Zeit nach dem Umsturz wohl gedrängt worden, für das Amt des Polizeipräsidenten der Preußischen Rheinprovinz zur Verfügung zu stehen. Er wollte freilich eher wieder als Arbeiterführer tätig werden, möglicherweise in einer stärker verantwortlichen Position als bisher.

IV.

Daß ihm bewußt war, welches Risiko er mit der aktiven Mitarbeit im Widerstand auf sich nahm, darf angesichts des allgemeinen Diskussionsstands in den Widerstandskreisen angenommen werden. Der damalige Diözesanpräses der KAB Paderborn, Caspar Schulte, bezeugt zudem, daß Groß ihm am 19. Juli 1944 auf eine entsprechende Warnung geantwortet hat: "Wenn wir heute nicht unser Leben einsetzen, wie wollen wir dann vor Gott und unserem Volke einmal bestehen?" Schulte fügt hinzu: "Sie [gemeint sind neben Groß Bernhard Letterhaus und Otto Müller] gingen ihren Weg in der Bereitschaft, einen qualvollen Tod um der Freiheit willen auf sich zu nehmen."

An Selbstzeugnissen zu den Motiven, die Groß dazu führten, das Risiko des Widerstands auf sich zu nehmen, ist neben der Äußerung gegenüber Schulte nur die bereits zitierte Äußerung zu Pechel im Gefängnis von Tegel überliefert: "Was kann ein Vater seinen Kindern Größeres hinterlassen als das Bewußtsein, daß er sein Leben für die Freiheit und Würde seines Volkes gegeben hat?" Es kann daher nicht genau gesagt werden, wieweit ihn die Kenntnis einzelner Verbrechen des Regimes in der Unterstützung der Attentatspläne bestärkte, wieweit er auch das Schicksal seines Volkes im Angesicht der drohenden Niederlage im Blick hatte und wie sehr ihn die Furcht vor einem künftigen Vernichtungsfeldzug gegen das Christentum zum Handeln trieb. Aus der Übereinstimmung der zitierten Äußerungen mit seiner bisherigen Lebensführung kann nur geschlossen werden, daß er "Freiheit und Würde" seines Volkes beschädigt und bedroht sah und daß er es für seine selbstverständliche Pflicht als Christ hielt, an der Abwendung dieses Unheils mitzuwirken.

Das schloß auch die Bereitschaft zur Unterstützung des Attentats gegen Hitler ein. Nikolaus Groß hat sich das nicht leicht gemacht; wir wissen von besorgten Anfragen der Arbeiterführer etwa bei den Dominikanerpatres, ob denn Tyrannenmord sittlich erlaubt sei. Nachdem die Verschwörer des militärischen Widerstands zu der Überzeugung gelangt waren, daß es anders nicht ging, rang er sich freilich ebenfalls zu dieser Einstellung durch. offenkundig wußte er auch ziemlich genau, was für den 20. Juli 1944 geplant war. "In den nächsten Tagen wird etwas geschehen, was die Weltgeschichte verändern wird," sagte er am 19. Juli zu Diözesanpräses Schulte.

Nach dem gescheiterten Attentat war es nur eine Frage der Zeit, bis die Verbindung von Nikolaus Groß zum Widerstand entdeckt werden würde. Am 12. August war es soweit, Groß wurde in seiner Kölner Wohnung verhaftet. Die Gestapo hatte ihn in Verdacht, weil er bekanntermaßen ein Freund des schon verhafteten Letterhaus war; und sie fand heraus, daß er über Jakob Kaiser in direkter Verbindung zu der Widerstandsgruppe um Goerdeler stand. Besprechungen in Köln über das Projekt der Einheitsgewerkschaft, die Programmschriften wurden ebenfalls aktenkundig, weiter ein Besuch Geordelers in Köln im Zuge der Personalplanungen und schließlich der Versuch, Bartholomäus Koßmann zu gewinnen.

Für den sogenannten Volksgerichtshof genügte das, um Nikolaus Groß wegen Hochverrats zum Tode zu verurteilen. "Er schwamm mit im Verrat," befand dessen Präsident Roland Freisler, "folglich muß er auch darin ertrinken." In den Verhören wurde Groß gefoltert. Er "gab seine Tat offen zu", wie es in dem Bericht des SS-Prozeßbeobachters an die Parteikanzlei lakonisch heißt, "behauptete allerdings, als Nichtakademiker sich über deren Tragweite nicht klar geworden zu sein. Doch konnte ihn das nicht retten."

Nikolaus Groß hat sein Leben in der Tat "für die Freiheit und Würde seines Volkes!!" gegeben, wie er es im Gespräch mit Rudolf Pechel formuliert hatte. Die moralische Bedeutung des Widerstands ist trotz seines äußerlichen Scheiterns unermeßlich. "Freiheit und Würde", das bedeutete für ihn, soviel darf man aus seinen früheren Äußerungen und Handlungen ableiten, eine freiheitliche politische Ordnung, die es (in der Formulierung von Pater Delp 1943) den Menschen ermöglicht, "christliches Leben und christliche Ordnung zu vollziehen." Dies schloß die Freiheit für die Entfaltung der Kirche ein, aber auch die Freiheit zur Überwindung von Ausbeutung, Not und Entrechtung, wie er sie als besonderes Anliegen der Arbeiterbewegung begriff; und es zielte auch ganz allgemein auf die Entfaltung des Gemeinwohls. Dieses Ziel bestimmte sein Handeln durchgehend, und es führte ihn, da er an seinem Engagement unbeirrt und ohne Rücksicht auf mögliche Konsequenzen festhielt, notwendigerweise in eine Konfrontation mit dem totalitären Regime.

Das Regime sah in Nikolaus Groß darum zu Recht einen politischen Gegner. Da sein politisches Engagement aber ebenso in seinem Glauben wurzelte wie in seinen elementaren Lebenserfahrungen (das eine kann von dem anderen nicht getrennt werden)‚ stellt sein Tod zugleich ein Glaubenszeugnis dar. Er nahm das Risiko des Todes auf sich, weil er es für seine Pflicht hielt, die Gemeinschaft aus dem Glauben zu gestalten. Eine solche Haltung nötigt uns unabhängig von den eigenen religiösen Überzeugungen Respekt ab. Und sie erinnert uns eindringlich daran, daß es politische Werte jenseits nackter Interessenpolitik gibt, für die sich der Einsatz lohnt. "Freiheit und Würde" kommen nicht von selbst, sie müssen immer wieder erkämpft werden. Das wird deutlich, wenn wir - wie hier und heute - Nikolaus Groß ehrend gedenken.


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