22. Januar 1995:

Gedächtnisgottesdienst

zum 50. Todestag von Nikolaus Groß in Regina Martyrum, Berlin

Ansprache von Weihbischof Weider

[Zurück]

Zweimal ist an diesem Sonntag in den Lesungen vom "heute" die Rede. In der ersten Lesung heißt es: "Denn heute ist ein heiliger Tag." Und zwar deshalb, weil die Heimkehrer aus der babylonischen Gefangenschaft, die die Stadt Jerusalem wiederaufbauten, das Gesetz Gottes wiedergefunden hatten und dadurch großen Trost erfuhren. Und bei Lukas hörten wir aus dem Evangelium: "Heute hat sich dieses Schriftwort erfüllt", weil Jesus es selbst ist, von dem der Prophet Jesaja spricht, und damit der Messias bereits mitten unter den Zuhörern angekommen ist als der, der das Heil bringt.

Was damals "heute" war, ist es immer noch, denn heute wird das Wort Gottes verkündet als Trost. Und heute ist der Messias als Heilsbringer unter uns. Das Wirken Gottes versinkt nicht in der Vergangenheit. Es bleibt immer aktuell und zeitlos gegenwärtig. Das gilt auch für Gottes Wirken in seiner Kirche und im Leben des einzelnen Christen. Auch das, was im Leben des Nikolaus Groß, dessen wir heute besonders gedenken, wirksam wurde, war Gottes Tun. Darum kann es nicht in die Vergessenheit und Bedeutungslosigkeit zurückfallen. Wir, die wir angerührt wurden von der Gnade, die im Leben dieses Glaubenszeugen erfahrbar wurde, sind es Gott schuldig, daß wir sein Wirken lebendig erhalten in unserem Herzen und in unserem Leben, aber auch in seiner Kirche, damit diese Gnade immer noch Frucht bringt, auch heute.

"Vater, wohin gehst Du?", fragte die jüngste Tochter Leni an jenem schicksalsschweren 12. August 1944. Nikolaus Groß konnte die Antwort nur noch durch sein Sterben geben, und dieses Sterben begann, als er den Fuß über die Stelle der Wohnung setzte, um niemals mehr zurückzukehren. Er nennt es in seinem Abschiedsbrief "ein Gerufensein vom Herrn". Und seine Größe bestand darin, daß er sich durchgerungen hat zu einem Ja für diesen schweren Weg, letztlich zu einem Ja zu Gott. Der Weg eines jeden Christen ist letztlich immer Weg mit dem Herrn in seiner Sendung, Weg zu den Zerschlagenen, aber auch Weg ins Leben Gottes. Was war das für ein Weg, den Nikolaus Groß gehen mußte?

1. Der Weg aus der Verantwortung für das Volk

Nikolaus Groß war ein Mann des Volkes. Er kam aus den bescheidenen Verhältnissen einer Bergmannsfamilie und hat jahrelang erfahren, was es mit dem Beruf unter Tage auf sich hat. Er liebte sein Volk, besonders die Arbeiter, in deren Dienst er sich stellte und für deren Rechte er kämpfte. Mehr als ein Jahrzehnt bemühte er sich, den Arbeitern bewußt zu machen, daß es keine Kluft gibt zwischen Arbeit und Glaube, zwischen Arbeitswelt und Kirche, zwischen sozialem und apostolischem Dienst. Wenn er seine Grubenlampe als ewiges Licht für die Kapelle des Ketteler Hauses in Köln zur Verfügung stellte, sollte dies ein Zeichen dafür sein. So kam es fast zwangsläufig, dass er sich gegen das menschenverachtende Unrechtssystem des Nationalsozialismus zur Wehr setzte, weil er die Würde des Menschen auch des arbeitenden angegriffen sah. Als Mitglied des Fuldaer Kreises wußte er um manche Bedrohung des Menschen, aber auch um die möglichen Konsequenzen, wenn er nach seinem Gewissen handelte. Er schreibt: "Jeder Mensch trägt seine Bestimmung in sich, und niemand kann ihr ausweichen, ohne sich selbst untreu zu werden." "Wenn wir jetzt nicht handeln, wie wollen wir dann einmal vor unseren Kinder bestehen?" Mit seiner ganzen Existenz stand er zu der Überzeugung, etwas tun zu müssen gegen die Tyrannei der dämonischen Mächte, die in Deutschland aufgestanden waren, selbst wenn es ihm das Leben kosten würde. Aus dieser Verantwortung ist er den bitteren Weg gegangen bis zum Galgen hier in Plötzensee, bis unter das Kreuz.

2. Weg in der Verbundenheit mit seiner Familie

Nikolaus Groß spürte in diesen letzten Monaten seines Lebens besonders, was ihm die Verbundenheit zu seiner Familie für eine Kraft war trotz der räumlichen Trennung. Am 6. September 1944 erinnert er die seinen an den Sohn Klaus. Im Geist war er mit der Familie am 1. Jahrestag seiner Vermißtenmeldung in der 7.00 Uhr Messe, und dann heißt es: "... daß wir in dieser Stunde verbunden waren wie je zuvor." Einen Monat später schreibt er aus dem Gefängnis Tegel: "Wenn Menschen sich so liebhaben und so miteinander verbunden sind, wie es bei uns der Fall war, dann ist die schriftliche Verbindung etwas dürftig." Doch die Freude, an die Familie schreiben zu können, überstrahlt den ganzen Tag, wie er einmal erwähnte. Im November 1944 bedauert er, daß er den einzelnen Kindern nicht persönlich schreiben kann. Doch er beteuert, daß er niemals inniger und leidenschaftlicher mit seiner Liebe bei ihnen war als in dieser Zeit der Trennung. Die Familie war ihm die Weggemeinschaft geworden, die Gott ihm gegeben hatte. Sie war ihm Zeichen für die unübersehbare Liebe Gottes, die ihn hielt und durch alle Bedrohungen hindurchführte und stärkte.

So ist es ja immer auf den Wegen, die Gott uns führt. Wir gehen nicht allein. Wir haben Menschen, die uns nahe stehen und uns begleiten. Es ist stets ein großer Trost, wenn einer mitträgt und uns nicht allein läßt. Dazu hat uns Gott in Gemeinschaften gestellt in eine Familie oder Freundschaft oder auch eine Gemeinde. Dazu hat er unseren Schwestern, die die heilige Messe mitfeiern, ihre Ordensgemeinschaft gegeben, damit sie sich gegenseitig stärken für ihren Weg der Nachfolge Christi.

3. Weg in der Gemeinschaft mit Gott

Es fällt auf, daß in den Briefen von Nikolaus Groß immer wieder das Thema Gebet anklingt. In der räumlichen Trennung von seiner Familie findet er durch das Beten eine Brücke zu Gott, dem er sich erstaunlich nahe weiß. Er muß das Gebet als eine so starke Kraftquelle erfahren haben, daß er es besonders seinen Kindern immer wieder ans Herz legt. So schreibt er seiner Ehefrau: "Sage den Kindern, daß sie innig und echt beten. Nur wenn unser Gebet aus der Tiefe des Herzens kommt, dringt es bis zu Gott. Gut, vor allem gut beten, sage es den Kindern." Und als er seiner Frau mitteilen muß, daß er so schnell nicht wieder schreiben darf, empfiehlt er ihr selbst das Gebet: "Hör nicht auf zu schreiben. Hör selbst nicht auf zu beten. Es ist das Wichtigste, und keinen Tag darfst Du es vergessen." Wenn wir seinen bewegenden Abschiedsbrief lesen, wird deutlich, daß er auf seinem Weg dem Ziel wirklich nahegekommen ist: "Ich spüre, wie es durch das Gebet in mir still und friedlich geworden ist." In der Not des Gefängnisses wird der Glaube an Gottes Gegenwart immer mehr zum Anstoß, mit diesem Gott im Gespräch zu bleiben in all den schrecklichen Sorgen und Ängsten. Nikolaus Groß spürt, daß er seinen Weg nicht allein geht und daß das Wort stimmt: "Ich bleibe bei euch alle Tage." So kommt die Ewigkeit Gottes ihm auf seinem Weg entgegen mitten in die Armut seiner Gefängniszelle. "Ja, Gott gibt mir durch das Gebet viel Frieden und stille Herzensfreude. Darum ist es falsch, um mein Schicksal zu weinen und es zu bedauern. Laßt uns vielmehr im vereinten Gebet Gott danken und loben für alle Gaben des Leibes und der Seele." Es ist, als wäre die Gemeinschaft mit Gott in der Ewigkeit für ihn bereits erfahrene Gegenwart. "Die Freude am Herrn" ist seine Stärke geworden.

So wird Nikolaus Groß zu einem Zeichen, in dem die Macht der göttlichen Gnade aufbricht und auch uns Hoffnung auf unserem Weg schenkt. Es ist fast unmöglich, seine Briefe zu lesen und nicht selbst anzufangen mit dem Gebet. Wenn wir diese heilige Messe in der Gemeinschaft mit den Schwestern aus dem Karmel feiern, ist uns auch ihre Berufung zum besonderen Gebet in der Kirche ein Hinweis, den Gott uns in dieser Stunde gibt, damit wir unseren Weg richtig gehen können.

"Vater, wohin gehst Du?", diese Frage hat Nikolaus Groß in den langen Monaten seiner Haft bis zu seinem Tod nicht mehr losgelassen. Heute wissen wir die Antwort. Er ist in die Geborgenheit Gottes gegangen. Diese Antwort steht auch über unseren dunklen und schweren Wegen. Sie münden in den Weg des Herrn, der ins Licht führt. Dies gibt uns Mut, den Herrn ganz konkret als Bruder und Freund anzunehmen, mit dem es sich lohnt, unterwegs zu sein. Was Nikolaus Groß erfahren hat, ist auch uns als Gnade angeboten, damit die Freude a Herrn unsere Stärke wird. Amen.


[Zurück]