Predigt am 23. Januar 2016

"Die Freude an Gott ist eure Stärke"

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Predigt am Gedenktag des Seligen Nikolaus Groß im Hohen Dom zu Essen

Liebe Schwestern und Brüder,

heute vor drei Jahren bin ich zusammen mit Frauen und Männern aus verschiedenen deutschen Bistümern zu einer Studienreise auf die Philippinen geflogen. Zwei Wochen lang konnte ich mich vor Ort über die Kirche dort informieren, konnte viel lernen über „Kleine christliche Gemeinschaften“ und wie in den Gemeinden Kirche gelebt und gestaltet wird. Meine Erlebnisse wurden in den vergangenen Tagen wieder lebendig, als ich die Texte des heutigen Sonntags angesehen und meditiert habe.

Die Christinnen und Christen auf den Philippinen leben aus der Beschäftigung mit dem Wort Gottes. Fast scheint es, als sei die heutige Lesung, die uns Nehemia überliefert hat, aus ihrem Erfahrungsbereich genommen. Außerdem korrespondiert sie mit der Erfahrung der Jüngerinnen und Jünger Jesu: In der Synagoge in seiner Heimatstadt Nazaret liest Jesus den dort Versammelten aus der Schriftrolle vor und erklärt das Gehörte. Und er beendet seine Predigt mit den Worten: „Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt.“ (Lk 4,21)

Auf den Philippinen kommen Menschen eines Dorfes oder eines Stadtviertels zusammen, um das Wort Gottes zu hören. Sie bitten – wie in der Lesung die „Männer und die Frauen und alle, die das Gesetz verstehen konnten“ – um die Verlesung des Wortes.

Offensichtlich haben alle – die Menschen um Esra und die Männer, Frauen und Kinder auf den Philippinen – die Ahnung, dass Gottes Wort wichtig für sie sein könnte. Um das Wort zu hören und aufzunehmen, investieren sie viel Zeit. „Vom frühen Morgen bis zum Mittag“ liest Esra den Versammelten vor. Esra ist ein Nachkomme Aarons und lebt mit dem Volk Gottes in der Verbannung in Israel. Fernab der Heimat und weit entfernt vom heimatlichen Tempel ist Esra und dem ganzen Volk Gottes das Wort Gottes offensichtlich lebens-wichtig gewesen.

„Vom frühen Morgen bis zum Mittag“ – wer von uns nimmt sich je so viel Zeit, um Gottes Wort zu hören oder zu lesen? Positiv und andersartig neu war die Erfahrung, die ich im November beim Bibelmarathon im Mariengymnasium in Essen-Werden machen durfte. Drei Tage und Nächte wurde die Bibel ohne Unterbrechung vorgelesen. Ich bin dankbar, dass ich Teil dieses Projektes sein durfte. Und dass ich spüren durfte, dass das Wort Gottes auch heute noch bei jungen und bei alten Menschen Gehör findet. Wie damals in der Babylonischen Gefangenschaft und wie heute auf den Philippinen.

Das Wort Gottes wird vorgelesen. Nicht von ausgedruckten Blättern oder Zetteln. Es wird von einem eigenen Ort gelesen und aus einem Buch. So wie hier in diesem Gottesdienst. Die Umstände ändern sich – der Ritus bleibt nahezu der gleiche.

Nach dem Lesen wird das Wort Gottes erklärt. „Nehemia, der Priester und Schriftgelehrte Esra und die Leviten“ lesen und deuten das Gehörte. Sie sind Menschen, die des Wortes kundig sind. „Die Priester und die Hauptamtlichen“ würden wir vielleicht heute sagen. Theologen und Theologinnen deuten das Wort Gottes auf dem Hintergrund ihres Studiums und ihrer Bibelkenntnisse. Das ist gut so. Das ist hilfreich. Sie lesen vor und sie erklären Unverständliches. Professionell. Leider hat ihre, hat unsere Deutung manchmal wenig mit dem konkreten Leben zu tun.

Auf den Philippinen bin ich bestärkt worden in einer Praxis, die mir schon als Pastor und Pfarrer wichtig war: Nicht nur die Hauptamtlichen sind Fachleute für das Wort Gottes. Im Glauben und im Leben erfahrene Menschen können das Wort Gottes auch deuten, so dass es für andere zu einer wirklichen Lebenshilfe werden kann. Beim Bibelteilen, bei der Wort- Gottes-Feier teilen alle miteinander, was für sie wichtig geworden ist beim Hören auf das Wort Gottes. Das sind manchmal ganz kleine und unscheinbare Details eines Textes, die aber einen Widerhall finden im Alltag 2016.

Ganz offensichtlich, so haben wir in der Lesung gehört, hat das Wort Gottes damals die Menschen berührt. Die „Erklärer“ sagen den Zuhörerinnen und Zuhörern: „Seid nicht traurig, und weint nicht!“ Stattdessen: „Nun geht, haltet ein festliches Mahl, und trinkt süßen Wein! … Macht euch keine Sorgen; denn die Freude am Herrn ist eure Stärke.“ „Freut euch.“

Diese Einladung erinnert mich an ein Dokument des 2. Vatikanischen Konzils – gaudium et spes –, das seit dem letzten Dezember 50 Jahre alt ist. Im Text über „die Kirche in der Welt von heute“ heißt es: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger [und Jüngerinnen] Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände.“ (GS 1)

Jüngerinnen und Jünger Christi weinen und lachen, haben Angst und freuen sich – und finden sich mit diesen Emotionen wieder im Wort Gottes, im Evangelium Jesu Christi. Was sie bewegt, verändert ihr Leben – und auch das Leben ihrer Familien und Gemeinden. Menschlich – und sozial.

Esra lädt die Familien nicht nur ein, Mahl zu halten, zu feiern, Wein zu trinken. Er fordert auch auf zu teilen: „Schickt auch denen etwas, die selbst nichts haben; denn heute ist ein heiliger Tag zur Ehre des Herrn.“ Liturgie und Verkündigung muss im Alltagsleben weiterwirken und sich konkretisieren im diakonischen Handeln. Damals und heute. Dann ist neues Leben möglich. „Macht euch keine Sorgen; denn die Freude am Herrn ist eure Stärke.“ So höre ich Nikolaus Groß: „Manchmal habe ich mir in den langen Monaten der Haft Gedanken darüber gemacht, was wohl einmal aus Euch werden möge, wenn ich nicht bei Euch sein könnte. Längst habe ich eingesehen, dass Euer Schicksal gar nicht von mir abhängt. Wenn Gott es so will, dass ich nicht mehr bei Euch sein soll, dann hat er auch für Euch eine Hilfe bereit, die ohne mich wirkt.“

(Abschiedsbrief)

Liebe Schwestern und Brüder, die Glaubenszeugnisse bei zahllosen Bibelgesprächen und bei meiner Reise auf die Philippinen haben mich geprägt und bereichert. So sehe ich auch die Lesungen des heutigen Gottesdienstes und sie bestärken mich durch das Glaubenszeugnis von Nikolaus Groß:

„Gott verlässt keinen, der ihm treu ist.“ „Gott schickt uns nicht mehr, als wir tragen können.“

Nikolaus Groß weiß um die Nähe des Gebetes auch mit seiner Familie. „Durch das Gebet bleibe ich euch in jeder Stunde nah.“ „Habt keine Trauer um mich – ich hoffe, dass mich der Herr annimmt. Hat er nicht alles wunderbar gefügt. Er ließ mich in meinem Hause, in dem ich auch in der Gefangenschaft manche Liebe und menschliches Mitgefühl empfing. Er gab mir über 5 Monate Zeit – wahrlich eine Gnadenzeit – mich auf die Heimholung vorzubereiten. .... Alles das hätte ja auch anders sein können. .... Muss ich nicht Gottes weise und gnädige Fügung preisen und ihm Dank sagen für seine Güte und väterliche Obhut? ... Gott hat mir damit gewiss eine große Gnade erwiesen. ... Ich habe für jeden von Euch einen Spruch oder Andachtsbildchen mit einem persönlichen letzten Wort versehen. Möge es jedem eine kleine Erinnerung sein auch zu der Bitte, mich im Gebet nicht zu vergessen.“

(Abschiedsbrief)

Heute vor 71 Jahren wurde Nikolaus Groß in Berlin-Plötzensee hingerichtet. Als Chefredakteur der „Westdeutschen Arbeiterzeitung“, dem Zentralorgan der KAB, versteckte er seine Kritik am politischen System zwischen den Zeilen, doch war sie für die Mitglieder der KAB nicht schwer zu entschlüsseln. 1938 wurde die Zeitung verboten. Nikolaus Groß betätigte sich fortan als Texter und Verleger kleinerer Schriften, in denen er den Arbeitern das Wort Gottes und seine praktische Bedeutung in schweren Zeiten näher zu bringen versuchte. Wir haben in Nikolaus Groß einen Verbündeten. Er und seine Frau Elisabeth waren Menschen, die aus dem Wort Gottes lebten. Beide hörten das Wort Gottes immer wieder in der Feier der Eucharistie.

Am 21. Januar, zwei Tage vor seiner Hinrichtung, schrieb Nikolaus Groß an seine Frau Elisabeth: „Der Name des Herrn sei gepriesen. Sein Wille soll an uns geschehen. Fürchtet nicht, dass Angesichts des Todes große Sturm und Unruhe in mir sei. Ich habe täglich immer wieder um die Kraft und Gnade gebeten, dass der Herr mich und euch stark mache, alles geduldig und ergeben auf uns zu nehmen, was er für uns bestimmt oder zugelassen. Und ich spüre, wie es durch das Gebet in mir still und friedlich geworden ist.“

(Brief 143)

„Der Name des Herrn sei gepriesen. Sein Wille soll an uns geschehen.“ Mir erscheint dieses kurze Wort aus einem langen Brief wie ein Beweis: Gottes Wort trägt. Es trägt auch in der letzten Stunde, in schweren Zeiten. Das Abschiedswort des Seligen Nikolaus Groß war sicher eine Herausforderung für seine Familie und ist es für uns.

Ich bin sicher: Das Wort aus dem Buch Nehemia: „Macht euch keine Sorgen; denn die Freude am Herrn ist eure Stärke“ ist die Glaubenserfahrung von Nikolaus Groß und seiner Frau Elisabeth, die dabei oft mit ihrer Lebens- und Glaubenshaltung nicht im Blick ist. Beide laden uns ein, diese Erfahrung mit ihnen heute – d.h. in unseren Nöten, Ängsten und Herausforderungen – zu teilen und zu leben: „Die Freude am Herrn ist eure Stärke.“

Quelle: Bistum Essen

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