15. Januar 2006:

Presseinformation des Justizministeriums Nordrhein-Westfalsen

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Festrede von Frau Justizministerin Roswitha Müller-Piepenkötter zum Jahresempfang der Katholischen Kirche in Mülheim an der Ruhr anlässlich des Gedächtnisses an den seligen Nikolaus Groß im Pfarrsaal Mülheim-Dümpten

"Können wir stolz auf unseren Rechtsstaat sein?"

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

gerne bin ich heute zu Ihnen gekommen, um aus Anlass des Gedenkens an den seligen Nikolaus Groß über unseren Rechtsstaat zu sprechen.

Für uns Deutsche ist es schlicht nicht möglich, über die Verfassung unseres Rechtsstaates zu sprechen, ohne den Blick in die Vergangenheit zu richten - immerhin hatten wir im vergangenen Jahrhundert zwei totalitäre Regime in Deutschland zu bewältigen. Das Gedenken an Nikolaus Groß ist ein bedrückender Anlass für eine solche Rückschau.

Begleiten Sie mich zu Beginn meiner Ausführungen in die Vergangenheit - und zwar 61 Jahre vom heutigen Tage an zurück in die Bellevuestraße 15 in Berlin. Wir schreiben den 15. Januar 1945 und befinden uns im Gebäude des Volksgerichtshofs.

An diesem Vormittag steht Nikolaus Groß, Schriftsteller, Bergarbeiter, Mitarbeiter der Kölner Verbands-Zentrale der Katholischen Arbeiterbewegung und Vater von sieben Kindern, vor dem 1. Senat des Volksgerichtshofs unter Vorsitz seines Präsidenten Roland Freisler. Ihm wird Hochverrat vorgeworfen.

Nikolaus Groß war zu Beginn des Jahres 1927 Hilfsredakteur bei der Westdeutschen Arbeiterzeitung, dem Organ der Katholischen Arbeiter-Bewegung, geworden und wurde schon bald ihr Chefredakteur. In dieser Funktion vermittelte er den katholischen Arbeitern Orientierung in vielen Fragen der Gesellschaft und der Arbeitswelt. Dabei machte er immer wieder klar, dass für ihn die politischen Herausforderungen einen sittlichen Anspruch enthalten und dass die sozialen Aufgaben ohne geistliche Bemühungen nicht zu lösen wären. Seit Anfang der 30er Jahre wurde ihm immer deutlicher, dass unter dem Hitler-Regime in Deutschland ein unhaltbarer Zustand erreicht war, dem man den Gehorsam verweigern musste. Im Kölner Ketteler-Haus, der Verbandszentrale der KAB, organisierte er seit Mitte der dreißiger Jahre ein Zentrum für Gespräche über die staatliche und gesellschaftliche Ordnung eines Deutschland ohne Hitler. Seine Überlegungen hielt er in zwei Aufzeichnungen fest, die später der Gestapo in die Hände fielen: "Die großen Aufgaben" und "Ist Deutschland verloren?".

Sie führten mit zu seiner Verurteilung. Ab 1940 musste er Verhöre und Hausdurchsuchungen über sich ergehen lassen. Darüber hinaus hatte er Kontakte zum Kreis um Stauffenberg und Tresckow. Nach dem fehlgeschlagenen Attentat gegen Hitler am 20. Juli 1944 geriet Groß, der an der Vorbereitung und Ausführung selbst nicht beteiligt war, in die Hände der Gestapo. Er wurde am 12. August 1944 gegen Mittag in seiner Wohnung verhaftet und zunächst ins Gefängnis Ravensbrück und dann in das Zuchthaus nach Berlin-Tegel gebracht. Seine Frau Elisabeth kam zweimal nach Berlin, um ihn zu besuchen. Sie berichtete über deutliche Folterspuren an seinen Händen und Armen.

Nikolaus Groß wurde am 15. Januar 1945 zum Tode verurteilt und am 23. Januar hingerichtet. Im Tenor des Todesurteils heißt es im typischen Freislerschen Hetz-Stil:

"Er schwamm im Verrat, muss folglich auch darin ertrinken!"

Meine Damen und Herren,

wer die Bilder der Angeklagten des 20. Juli kennt, ihre gedemütigten Gestalten, die im Angesicht des Justizterrors verzweifelt bemüht sind, ihre Würde zu bewahren, kann nachfühlen, wie es Nikolaus Groß an diesem 15. Januar 1945 ergangen sein muss.

Auf dem Foto, welches ihn bei seiner Verhandlung zeigt, sehen wir ihn, schmal aber aufrecht hinter seinem Stuhl stehend, im dunklen Anzug mit der für ihn so typischen runden Brille.

Freisler war für Groß kein Unbekannter, als er ihm an diesem 15. Januar gegenüber stand.

Schon 1932 hatte er in der Westdeutschen Arbeiterzeitung geschrieben: "Parteigenosse Freisler berechtigt zu den schönsten Hoffnungen. Kommunist, Marxist, Novemberling, Untermensch, Sowjetkommissar gewesen, dann Nazi, Antimarxist. Was mag sonst noch alles aus ihm werden?" Dass sie einander unter diesen Umständen begegnen würden, konnte aber auch Nikolaus Groß 1932 kaum ahnen.

Wie er standen in den Jahren 1942-45 Hunderte Widerständler, darunter Priester, Pfarrer, Sozialdemokraten und Kommunisten vor dem Volksgerichtshof. Menschen der unterschiedlichsten Herkunft, welche aufgrund der unterschiedlichsten Motive den Nationalsozialismus bekämpften, aber auch solche Unbedachten, die ihre Zweifel am "Endsieg" allzu offen geäußert hatten, so genannte "Meckerer", "Stänkerer" und "Wehrkraftzersetzer".

Viele von ihnen hatten sich vor dem Volksgerichtshof zu verantworten für Handlungen, die wir heute als Zivilcourage, als tätige Mitmenschlichkeit, als demokratischen Mut, als aufrechte, konsequente Haltung bezeichnen würden, welche wir bei unseren Zeitgenossen so oft einfordern.

Meine Damen und Herren,

in den Jahren von 1933 bis 1945 sind Tausende deutscher Bürgerinnen und Bürger Opfer einer unbarmherzigen nationalsozialistischen Justiz geworden: Die Vernichtungsurteile des Volksgerichtshofs, die brutale zivile Strafjustiz, unmenschliche Rasseschandeurteile, in die Hunderttausende gehende Zwangssterilisationen, die durch deutsche Amtsgerichte angeordnet wurden und oft genug tödliche Folgen hatten, geben hiervon beredtes Zeugnis.

Angesichts dieser Opferzahlen, mit denen Richter und Staatsanwälte zum Unrechtsregime des Nationalsozialismus ihren Beitrag geleistet haben, dies nur zu oft freiwillig, bereitwillig und fanatisch, fragten und fragen sich Menschen immer wieder: Wie konnte das passieren? Wie konnte der Rechtsstaat so schnell, so sang- und klanglos abdanken? Wie konnten gut ausgebildete, hochgebildete Richter dabei mitmachen, sich diesem Staat rückhaltlos zur Verfügung stellen?

Wie konnte es weiter geschehen, dass die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft zwar der Witwe Freislers anstandslos ihre Witwenrente auszahlte, der Witwe von Nikolaus Groß jedoch die ihre verweigerte? Die Antwort hängt untrennbar zusammen mit derjenigen auf die Frage, ob wir auf unseren Rechtsstaat stolz sein können.

Wir Deutsche haben mit dem Grundgesetz nicht den ersten Rechtsstaat unserer Geschichte. Auch die Weimarer Reichsverfassung verdiente die Bezeichnung "rechtsstaatliche Verfassung". Auch sie regelte in Art. 102 "Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen." Auch sie verbot Ausnahmegerichte und gebot, dass niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden dürfe. Auch sie kannte Grundrechte und bestimmte in Art. 114 "Die Freiheit der Person ist unverletzlich".

Wir alle wissen heute, dass die Weimarer Verfassung erhebliche Schwächen hatte - aber dass sie eine auf Rechtsstaatlichkeit angelegte Verfassung war, kann man nicht ernsthaft bestreiten.

1933 war diese Verfassung jedoch zur Makulatur geworden. Dabei war sie weder aufgehoben worden noch waren ihre verfassungsmäßigen Institutionen abgeschafft. Doch die Weimarer Verfassung hatte ihre tatsächliche Orientierungskraft verloren, hatte keine gelebte Verfassungswirklichkeit mehr. Dies wurde von vielen Richtern, Staatsanwälten, Rechtsprofessoren, Rechtsanwälten gefördert und gefordert. Die Ausgaben der Juristenzeitung und der Deutschen Richterzeitung aus den Jahrgängen 1933ff geben hiervon erschreckendes Zeugnis.

So wurde zum Bespiel die so genannte Reichstagsbrandverordnung, welche die verfassungsmäßigen Grundrechte suspendierte und einen permanenten zivilen Ausnahmezustand begründete, auch in Juristenkreisen ausdrücklich begrüßt. Auch das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, aufgrund dessen alle - im damaligen Sprachgebrauch - "nicht arischen" oder sonst nicht - in Anführungsstrichen - "verlässlichen" Beamten aus den Diensten des Reiches entlassen werden konnten, scheint von vereinzelten Stimmen abgesehen, in der Richterschaft oder überhaupt innerhalb der juristischen Elite der Weimarer Republik keine Ablehnung oder gar Empörung hervorgerufen zu haben. Von Protestaktionen zugunsten jüdischer Kollegen ist uns nichts bekannt. Schließlich leisteten 1934 bis auf wenige Einzelfälle sämtliche Juristen in Staatsdiensten den Treueid auf Hitler.

Meine Damen und Herren,

es ist hier nicht Raum, die Akte justiziellen Unrechts im Einzelnen zu beschreiben, die in den Jahren 1933-1945 begangen wurden. Der Beitrag, den die Justiz im Nationalsozialismus zur Vernichtung der jüdischen Bevölkerung, kranker und sozial ausgegrenzter Personen und Gruppen und der Regimegegner leistete, mag nach außen nicht besonders sichtbar geworden sein. Während die Schlägertrupps der Nazis gleichsam mit offenem Visier auftraten, nahm die Justiz weiter für sich in Anspruch, Gerechtigkeit walten zu lassen. Die Diskrepanz zwischen institutionellem Anspruch und gelebter Wirklichkeit konnte größer nicht sein.

Justizverbrechen wurden zwischen 1933 und 1945 an vielen Gerichten in Deutschland begangen, übrigens nicht nur in Strafsachen durch die von Freisler als "Panzertruppe der inneren Front" bezeichneten Sondergerichte, deren brutale Rechtsprechung zunehmend durch die Forschung aufgeklärt wird sondern auch durch die Gerichte in Zivilsachen.

Man denke nur an die unerträgliche antisemitische Rechtsbeugung, mit der jüdischen Prozessparteien im Zivilverfahren ihr Recht verweigert wurde. Erinnern möchte ich auch an die so genannten Rassenschandeverfahren an den allgemeinen Strafkammern der Landgerichte.

Die Opferzahlen der zivilen Sondergerichte - organisatorisch handelte es sich um besondere Spruchkörper der Landgerichte - werden auf über 10 000 geschätzt. Mindestens 350 000 Menschen wurden auf Anordnung der Amtsgerichte in ihrer funktionellen Zuständigkeit als sog. "Erbgesundheitsgerichte" in den Jahren 33-45 zwangssterilisiert.

An diesem Terror im Innern waren diejenigen, die Vertreter des Rechtsstaates sein sollten - Richter, Staatsanwälte und das Reichsjustizministerium - in führender Rolle beteiligt.

Und selbst nach dieser denkbar größten Katastrophe, die ein Rechtsstaat erleiden kann, wollte man nach 1945 in der Bundesrepublik Deutschland lange nichts von der eigenen Justizvergangenheit wissen; in der DDR hatte man es mit dem nächsten Unrechtsstaat zu tun.

Es nimmt vor diesem Hintergrund nicht Wunder, dass die Justiz der jungen Bundesrepublik in der Verfolgung des NS-Justizunrechts nicht sonderlich erfolgreich war. Nicht ein Richter - nicht von den Sondergerichten, nicht vom Volksgerichtshof - wurde wegen seiner Urteile in der NS-Zeit strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen.

Allgemein bekannt geworden ist der Fall des ehemaligen Hilfsrichters am Volksgerichtshofes Rehse, der für seine Mitwirkung an über 200 Todesurteilen von den Gerichten in der Bundesrepublik Deutschland strafrechtlich letztlich nicht zur Verantwortung gezogen wurde. So hielt ihm der Bundesgerichtshof zwar Rechtsblindheit und Verblendung vor - lehnte aber die Annahme der Rechtsbeugung ab.

Erst 1995 vollzog der Bundesgerichtshof anlässlich des Urteils gegen einen DDR-Richter wegen des Vorwurfs der Rechtsbeugung eine juristische Kehrtwende: Die Rechtsprechung im Dritten Reich sei angesichts der exzessiven Verhängung von Todesstrafen nicht zu Unrecht als "Blutjustiz" bezeichnet worden. Dass die verhängten Todesurteile ungesühnt geblieben seien, daran habe die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs einen wesentlichen Anteil gehabt.

Die darauf abzielende Kritik erachtete der Senat als berechtigt.

Ganz fraglos handelt es sich um ein wichtiges Urteil mit respektablem Mut zur Selbstkritik. Das bedrückende Ergebnis der faktischen Straflosigkeit des NS-Justizunrechts ist damit indessen nicht mehr zu ändern.

Nicht weniger fatal als die strafrechtliche Nichtverfolgung der NS-Richter war in meinen Augen die bereits angesprochene ungebrochene personelle Kontinuität vor und nach 1945. Mehrere hundert Sonderrichter wurden in Kenntnis ihrer früheren beruflichen Verwendung in den Justizdienst des neuen demokratischen Staates übernommen.

Die nötige Sensibilität dafür, wer in einem demokratischen Rechtsstaat als Richter tragbar ist und wer nicht, entwickelte sich im Bewusstsein von Justiz, Politik und Öffentlichkeit nur langsam. Letztlich hat der normale Alterungsprozess mehr zur personellen Bereinigung beigetragen als der späte und etwas halbherzige Versuch des Gesetzgebers, im Deutschen Richtergesetzes von 1961 die belasteten Richter mit einem großzügigen Pensionierungsangebot in den Ruhestand zu verabschieden.

Auch die Entschädigungsrechtsprechung der Nachkriegszeit zeugt von dieser unseligen Kontinuität: So ist Elisabeth Groß, die nach der Hinrichtung ihres Mannes ihre achtköpfige Familie alleine durchbringen musste und der im Gegensatz zur Witwe Roland Freislers ihre Witwenrente vorenthalten wurde, kein Einzelfall.

Wie ihr erging es vielen Angehörigen von Widerstandskämpfern, z.B. den Angehörigen Hans von Dohnanyis, der im April im KZ Sachsenhausen von einem SS-Standgericht zum Tode verurteilt wurde.

Meine Damen und Herren,

mit diesem Erbe haben wir zu leben. Mit dem Erbe der Justizverbrechen des Dritten Reiches und der unwiederbringlich gescheiterten juristischen Aufarbeitung muss der Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland fertig werden.

Und wir müssen uns dieses Erbes bewusst sein, damit der Rechtsstaat nie wieder zu Makulatur werden kann. Oftmals wird gerade in Zeiten knapper Kassen gefragt, ob es sich denn noch lohne, sich mit unserer nationalsozialistischen Vergangenheit auseinander zu setzen, diese zu erforschen und aufzuklären.

Das Schicksal von Nikolaus Groß und seiner Familie vor deutschen Gerichten, vor 1945 und nach 1945, zeigt indes überdeutlich, dass der Rechtsstaat nichts Naturgegebenes ist, das uns mit dem Grundgesetz gewissermaßen in den Schoss gefallen ist, es auch niemals sein wird, sondern jeden Tag von uns neu errungen werden muss.

Beispiel und Schicksal von Nikolaus Groß zeigen uns, dass es nicht nur ein Gebot der Redlichkeit, der Wahrhaftigkeit und der Achtung vor den Opfern ist, sich der eigenen Geschichte zu stellen, sie zu erforschen, aufzuklären und nach Kräften immer besser zu verstehen, sondern dass dies auch um des Rechtsstaats willen unabdingbar ist.

Das Versagen der Justiz und anderer Institutionen des Rechtsstaats in den Jahren von 1933 bis 1945, das Ausmaß der Justizverbrechen, zeigen wie in einem Brennglas die Mechanismen der schleichenden Auszehrung des Rechtsstaats auf, zeigen uns auch heute, worauf wir das Augenmerk richten müssen, wo wir selbstkritisch und wachsam unser Handeln und unser Denken beobachten müssen.

Sie zeigen uns, dass niemand den Rechtsstaat schwerer beschädigen kann und seine Glaubwürdigkeit nachhaltiger zerstören, als gerade diejenigen, die zu seinem Erhalt berufen sind.

Im Nürnberger Prozess von 1947 gegen hochrangige Vertreter der deutschen Justiz des Hitler-Staates hat der Internationale Militärgerichtshof dies eindrucksvoll auf den Punkt gebracht:

"Die Preisgabe des Rechtssystems eines Staates zur Erreichung verbrecherischer Ziele untergräbt dieses mehr als ausgesprochene Gräueltaten, welche den Talar des Richters nicht besudeln."

Die kenntnisreiche Auseinandersetzung mit der eigenen Justizvergangenheit lehrt uns, dass die bereitwillige Hinnahme krasser Rechtsbrüche, das Paktieren der meisten Richter und Staatsanwälte mit dem nationalsozialistischen Regime dem Rechtsstaat "Weimar" einen entscheidenden Schlag versetzt haben. Wir wissen heute, dass die Herabwürdigung und schleichende Entmenschlichung der jüdischen Bevölkerung durch die exzessive Rassenschanderechtsprechung deutscher Gerichte die Deportation der jüdischen Bevölkerung in den Köpfen ihrer Nachbarn mit vorbereitet hat.

Meine Damen und Herren,

wir haben aus unserer Vergangenheit gelernt, wir stellen uns dem Erbe unserer Justizgeschichte, und darauf können wir mit Recht stolz sein. Aus diesem Grund unterhält das Land Nordrhein-Westfalen seit 1993 an der Justizakademie in Recklinghausen eine Dokumentations- und Forschungsstelle "Justiz und Nationalsozialismus" - eine bundesweit einzigartige Einrichtung.

Hier wird durch Forschungsprojekte die Aufarbeitung dieser Vergangenheit vorangetrieben. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse zu unserer Justizgeschichte werden in einer eigenen Schriftenreihe publiziert. Die Forschungsstelle ergänzt aber auch das Fortbildungsangebot der Justizakademie.

So werden dort Symposien und Fortbildungsveranstaltungen zur juristischen Zeitgeschichte angeboten. Für neu eingestellte Richter in Nordrhein-Westfalen wird im Rahmen der Einführungslehrgänge eine Veranstaltung über die NS-Justiz abgehalten. Und auch für interessierte Rechtsreferendare werden entsprechende Seminare angeboten.

Nicht zuletzt hat sich die Justiz in Nordrhein-Westfalen in den letzten Jahrzehnten vor Ort engagiert der Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit gestellt: Nicht wenige Gerichte zeigten und zeigen mit großem persönlichen Einsatz der Justizmitarbeiter die Ausstellung "Justiz im Nationalsozialismus" bei sich im Hause, um hierdurch ihre lokale Justizgeschichte zu erforschen und zu dokumentieren.

Ebenso erinnern heute an verschiedenen Gerichtsgebäuden Gedenktafeln und Mahnmale an die Opfer der nationalsozialistischen Justiz. Gedenkveranstaltungen, Diskussionen, Konzerte, Ausstellungen und Denkschriften anlässlich justizhistorisch bedeutsamer Ereignisse runden dieses fortdauernde Engagement ab.

Meine Damen und Herren,

können wir heute also stolz auf unseren Rechtsstaat sein? Ich meine ja. Wir können zunächst dankbar sein, dankbar den Müttern und Vätern des Grundgesetzes, die ihn angesichts der Katastrophe von 33 - 45 weise eingerichtet haben. Besonders glücklich dürfen wir uns schätzen, dass sie sich nach den katastrophalen Erfahrungen der Weimarer Reichsverfassung für die wehrhafte Demokratie entschieden haben:

eine Demokratie, die sich ihres Wertes bewusst ist und deren wichtigsten Elemente nicht mehr zur Disposition stehen.

So konstituiert Art. 79 Absatz 3 des Grundgesetzes die unabänderlichen Grundprinzipien unserer Verfassungsordnung: Zu diesen gehört neben der bundesstaatlichen Ordnung, die Menschenwürde sowie die grundlegenden Staatsstrukturprinzipien des Art. 20 - darunter die Demokratie, die Gewaltenteilung - und eben auch der Rechtsstaat. Diese Grundregelungen sind selbst mit verfassungsändernder Mehrheit nicht abänderbar - die sogenannte Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG.

Das Rechtsstaatsprinzip fordert die uneingeschränkte und jederzeitige Herrschaft des Rechts. Es gehört zu den bedeutsamsten und lebenskräftigen Errungenschaften unserer gewachsenen verfassungsmäßigen Grundordnung. Jede Generation muss dies immer wieder neu für sich entdecken. Der Rechtsstaat steht für Gerechtigkeit und Rechtssicherheit. Er ist wesentlicher Pfeiler einer in Freiheit geordneten pluralistischen Gesellschaft, die auch den Missbrauch von Freiheit auffängt.

Das Grundgesetz und mit ihm der Rechtsstaat - das können wir nach über 50 Jahren seines Bestehens feststellen - haben sich bewährt.

Dafür - das wissen wir alle - genügt es nicht, dass die Verfassung gut ist - sie muss auch gelebt werden. Einer der maßgeblichen Garanten hierfür war und ist das Bundesverfassungsgericht. Es gehört zu den tragenden Grundlagen des ersten stabilen Rechtsstaates auf deutschem Boden. Es repräsentiert eine enorme Autorität, die weit über das Rechtliche hinausgeht. Nicht umsonst bestätigen viele demoskopische Umfragen, dass das Bundesverfassungsgericht unter allen Verfassungsinstitutionen Deutschlands in der deutschen Bevölkerung das weitaus größte Ansehen genießt.

Seine Aufgabe, die Einhaltung und Wahrung der verfassungsgemäßen Ordnung durch die anderen Staatsgewalten und die Verwirklichung der Grundrechte zu gewährleisten, hat das Bundesverfassungsgericht in den vergangenen Jahrzehnten überzeugend erfüllt.

Insbesondere hat es durch seine konkretisierende Verfassungsinterpretation sichergestellt, dass unsere Rechtsordnung in der Lage ist, sich einer verändernden Welt anzupassen, ohne das feste und solide Fundament, auf dem sie ruht, zu verlassen.

Wer von den Vätern und Müttern des Grundgesetzes hätte schon mit den Herausforderungen gerechnet, vor denen die moderne Gesellschaft steht - von der aktiven Sterbehilfe über das Klonen embryonaler Stammzellen bis hin zum Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan oder anderswo.

Der Rechtsstaat ist immer dort besonders gefordert, wo staatliche Macht droht, den ihr gesetzten rechtlichen Rahmen zu verlassen - gerade hier ist die unabhängige dritte Gewalt gefragt. Denken wir nur an in der Öffentlichkeit viel beachtete Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Versammlungsrecht, zur Telefonüberwachung, dem Europäischen Haftbefehl oder gerade aus der jüngsten Zeit zur überlangen Dauer von Untersuchungshaft.

All dies sind Entscheidungen, die in der Öffentlichkeit auch viel Kritik erfahren, weil es eben vielen Menschen schwer fällt zu akzeptieren, dass sich staatliche Macht zu beschränken hat - und zwar auch in Fällen, in denen ein Großteil der Bevölkerung bereits ein Urteil über bestimmte Einzelpersonen und Gruppen gefällt hat.

Denken Sie nur an den Fall des ehemaligen Frankfurter Polizeivizepräsidenten Daschner, unter dessen Führung Polizeibeamte dem seinerzeit mutmaßlichen Entführer des Bankierssohnes Jakob von Metzler Gewalt und Schmerzen angedroht haben sollen.

Dieses Verfahren hat zu einer erhitzten Debatte über die Frage der Zulässigkeit von Folter in extremen Zwangslagen geführt. Auch hier hat sich der Rechtsstaat durch den Schuldspruch und sorgfältige Abwägung der schwierigen Lage der Polizei bewährt - denn es ist und bleibt eine der wichtigsten Lehren aus unsere Vergangenheit, dass der Zweck die Mittel eben nicht heiligt - insbesondere, wenn diese den Menschen zum Objekt machen und ihn damit in seiner unveräußerlichen Menschenwürde verletzen.

Meine Damen und Herren,

wir können heute stolz sein auf eine Tradition der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, die wir Deutsche angenommen haben, konsequent fortentwickeln, überzeugt und engagiert leben.

Wir wissen aber auch, dass wir uns hierauf nicht ausruhen können. Unser Rechtsstaat ist ein Geschenk, das wir dadurch würdigen und lebendig erhalten, dass wir jeden Tag erneut für ihn eintreten.

Dies ist wichtig, denn der Rechtsstaat steht vor großen Herausforderungen. Nehmen Sie als Beispiel die Bedrohung unserer freiheitlichen Gesellschaft durch Terroristen.

In der größten Bedrängnis, in die die Bundesrepublik in den 70er Jahren durch die Terroristen der RAF geraten ist, ist es in sehr schwierigen Auseinandersetzungen gelungen, maßvolle aber wehrhafte Regelungen zu finden, die es erlaubten, diese Angriffe abzuwehren.

Der internationale fundamentalistische Terrorismus stellt eine neue Gefahr dar, die geeignet ist, den Rechtsstaat erneut auf die Probe zu stellen. Wie groß und real die Verlockung ist, angesichts der Hilflosigkeit gegen den Terror den Boden der Rechtsstaatlichkeit zu verlassen, zeigen Beispiele wie das Gefangenenlager in Guantanamo oder Übergriffe gegen irakische Gefangene in dem Gefängnis Abu Ghraib.

Daher ist es so wichtig, dass sich auch die internationale Staatengemeinschaft der Aufgabe stellt, der Herrschaft des Rechts Geltung zu verschaffen.

Dies wird vor allem durch die Tätigkeit der von den Vereinten Nationen ad hoc eingesetzten Internationalen Strafgerichtshöfe für das frühere Jugoslawien und für Ruanda sowie durch die Errichtung des ständigen Internationalen Strafgerichtshofs gewährleistet.

Deutschland unterstützt die Internationalen Gerichtshöfe in vielfältiger Weise. So sind deutsche Richter, Staatsanwälte und Verwaltungsfachleute - auch aus Nordrhein-Westfalen - in verantwortungsvollen Positionen tätig.

Allein 20 Prozent des Haushalts des Internationalen Strafgerichtshofs wird von Deutschland getragen. Wer international geächtete Straftaten begeht, kann nicht mehr darauf vertrauen dürfen, dass sein Tun ohne Folgen bleibt.

Aber der Rechtsstaat steht auch noch vor Herausforderungen ganz anderer Art - nicht zuletzt die schwierige Haushaltslage in vielen Ländern verleitet immer wieder dazu, über gravierende Einschnitte in rechtsstaatliche Verfahren nachzudenken und wirtschaftliche Überlegungen in den Vordergrund jeglicher Reformbemühungen zu stellen. Man hat sich daran gewöhnt, dass die Justiz als Garant des Rechtsstaates gut und geräuschlos funktioniert. Dass sie dies bei immer weiter drohenden Einschnitten irgendwann nicht mehr leisten kann, wird gerne verdrängt.

Derartige Entwicklungen sind natürlich nicht mit den Bedrohungen eines totalitären Regimes zu vergleichen. Dennoch haben uns gerade die furchtbaren Erfahrungen der Vergangenheit gelehrt, dass man den Anfängen einer schleichenden Demontage des Rechtsstaates vorbeugen muss. Daher halte ich es für wichtig, immer wieder ins Bewusstsein auch der Öffentlichkeit zu rufen, dass dieser Rechtsstaat zu seiner Verwirklichung das ständige Bemühen unserer Institutionen und der in ihnen tätigen Menschen braucht.

Meine Damen und Herren,

ich möchte zum Schluss noch einmal das grundlegende Scheitern des Rechtsstaates in Erinnerung rufen und die Folgen, die daraus für die Menschen entstanden sind. Soweit wir sehen können, stellte sich kaum einer von den Richtern und Staatsanwälten, die 1933 in Staatsdiensten standen, in den folgenden 12 Jahren die Frage, die Nikolaus Groß für die entscheidende in seinem Leben, seinem Widerstand, seinem Engagement hielt:

"Wenn wir heute nicht unser Leben einsetzen, wie sollen wir dann vor Gott und unserem Volk einmal bestehen?"

Männer und Frauen wie Nikolaus Groß waren bereit, für Menschenwürde und Freiheit, für Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit ihr Leben aufzuopfern. Ihnen waren Nächstenliebe, Herrschaft des Rechts, Gerechtigkeit gegen jedermann wichtiger als Macht und Lebensraum. Sie sahen die Gefahren, der Ideen von deutschem Volkstum, sog. "Rassereinheit" und all der anderen Ideen, an denen sich ihre Zeitgenossen berauschten.

Wir können stolz auf unseren Rechtsstaat sein, weil wir versuchen, darin jeden Tag neu das Erbe von Menschen wie Nikolaus Groß anzutreten und Rechtsstaatlichkeit so zu leben, dass ihr Widerstand und ihre Opfer nicht umsonst gewesen sind.

Quelle: Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen, Pressereferat, www.justiz.nrw.de


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