23. Januar 2004:

Rede von Hans Leyendecker

Leitender politischer Redakteur der Süddeutschen Zeitung beim Neujahrsempfang 2004 der Katholischen Kirche Mülheim an der Ruhr am Gedenktag des Seligen Nikolaus Groß

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Sehr geehrter Herr Dr. Alfs, lieber Herr Diakon Groß, meine Damen und Herren, ich danke für die Einladung. Es ist für mich eine Ehre, zu Ihnen reden zu dürfen.

Der Saal ist zwar voll, aber im wesentlichen sind wir ja unter uns. Da Katholiken bekanntlich Spaß verstehen, möchte ich mit einer kleinen Geschichte beginnen.

Kardinal Spellmann kam zum ersten Mal nach New York. Er wurde von einem Reporter gefragt:
"Herr Kardinal, werden Sie auch ein Bordell besuchen?" Der Kardinal, dialektisch natürlich nicht unbedarft, fragte zurück: "Gibt es ein Bordell in New York?" Am nächsten Tag erschien eine Zeitung mit der Schlagzeile: Kardinal Spellmann in New York. Seine erste Frage: Gibt es hier ein Bordell?"

Sie werden nicht bestreiten können, dass diese Zeile korrekt ist. Aber das ist in einer seligen Zeit geschehen. Sie konnten bei der Redaktion anrufen und sicher berichtete eine andere Zeitung, wie der Kollege da gemurkst habe. Die Gegenwart ist anders: Die Gegenwart ist Enthüllungsmanie. Heute diktiert der Boulevard die Stoffe und vor allem der Bild-Zeitung ist die Rolle eines Futter-lieferanten für die seriöse Presse zugewachsen. Der Leser wird mit Halbwahrheiten und Nebensächlichkeiten bombardiert. Effenberg, Naddel, Becker, Bohlen und Florida-Rolf, ein Dschungelcamp, liefern die Schlagzeilen. Gegenwart ist das Enthüllen von exklusivem Nichts. Fakten, Fakten, Fakten. Die besten Zahnärzte werden enthüllt, die besten Chirurgen, die coolsten Trends. Fakten, die manchmal bis zur Kenntlichkeit entstellen. Fortwährend und bis zur Besinnungslosigkeit wird enthüllt.

Wenn eine Geschichte wenig Neues zu bieten hat, wird einer Nachrichtenagentur eine Meldung über das Nichts angeboten. Die Standardformel lautet, dass sich die Geschichte ausweitet. Besonders an den Wochenenden weitet sich alles aus, bis es dann wieder platzt. Im Niemandsland zwischen Wahrheit und Dichtung gedeiht eine neue Form des Borderline-Journalismus mit Falschmeldungen und Wichtigtuerei.

"Der Journalist und das Gewissen" ist das Thema meines kleinen Vortrages. Anlass ist der dritte Gedächtnistag zum Gedenken an den seligen Nikolaus Groß, der als Schriftleiter der damaligen Westdeutschen Arbeiterzeitung, später Ketteler Wacht, gegen das Terrorregime der Nazis gekämpft hat. Kein Gernegroß, sondern ein großer Mann, der im Jahr 2001 vom Papst selig gesprochen worden ist. Ein Mann des Wortes, ein Mann mit Gewissen. Ein Mann, der gläubig war, ein Mann, der für seine Überzeugungen in den Tod ging.

Er war Journalist und deshalb Kollege. Das macht den Vortrag nicht einfacher. Wer über den Beitrag der Journalisten zur Wahrheitsfindung reden möchte, muss angesichts des Lebens von Nikolaus Groß eigentlich schweigen. Bei der freundlichen Begrüßung wurde ich fast in eine Reihe mit Groß gestellt. Das war nett gemeint, aber ich muss das zurückweisen. Groß ist, weil er aufklären wollte, hingerichtet worden. Ich gehe mit meiner Arbeit kein Risiko ein, mir droht allenfalls mal ein Anwalt
Journalisten in anderen Ländern wie Kolumbien, Algerien oder den früheren kommunistischen Ländern gehen bei ihrer Arbeit große Risiken ein. Deutsche Journalisten leben heute vergleichsweise in einer heilen Welt.
Worüber reden und streiten wir in diesen Tagen? Wir diskutieren über Kakerlaken-TV. "Ich bin ein Star - Holt mich hier raus". Ein skurriler Cocktail aus Zynismus, Gemeinheiten und Infantilitäten bewegte die Nation. Sind wir eigentlich Gaga? Ist das Publikum meschugge, das einem solchen Quatsch zuschaut und was ist mit den Journalisten? Sie ereifern sich auch in den besseren Feuilletons über etwas, das sie in allen Details beschreiben. Ist das die Aufgabe von Journalismus? Ist das wichtig?

Sensationshascherei und Exklusivitis, darauf hat mehrmals Bundespräsident Johannes Rau hingewiesen, diktieren oft das Tagesgeschäft. Die Kolportage ersetzt die Reportage und man hat den Eindruck, als gäbe es mehr Talkshows als wirklichen Gesprächsstoff. Oft werden die Grenzen von Information, Kommentar, Unterhaltung und Werbung verwischt. Ein Journalismus kommt hoch, der die Wirklichkeit nicht abbildet, sondern inszeniert. Gier nach Stoff verleitet wie bei einem Junkie zur Dramatisierung des Belanglosen. Es geht nicht mehr um die Beschreibung langfristiger Veränderungen unserer Gesellschaft, nicht um das sorgfältige Beobachten, Verstehen und Erklären von Zusammenhängen. Stattdessen geht es immer mehr um Effekte, um Schnelligkeit. Wir müssen eine Debatte über das Selbstverständnis des Journalismus im Zeitalter der Informationsüberflutung führen. Eine Debatte über den Versuch, der Wahrheit näher zukommen. Denn Wahrheit ist weder beliebig noch ein Hochglanzprodukt. Die Wahrheit ist schlicht. Was wahr ist, trägt und hält. Menschen werden irgendwann spüren, dass sie etwas vergessen haben, was so wichtig ist, dass sie ohne es nicht leben können. Sie werden danach fragen, worauf sie ihr Leben innerlich aufbauen können: die reelle Wahrheit, die göttliche, die ihrem Leben Grund und Richtung gibt. Und sie werden suchen nach dem kleinen Licht, das von Jesus Christus ausgeht, das keine Show ist; nichts was sie selber machen müssen. Einfach nur ein Geschenk Gottes, das sie nur weiterschenken können - im Vertrauen darauf, dass Gott wahr macht, was er verheißen hat. Die Wahrheit, die von Gott kommt, ist schlicht und einfach.

Gelingt es uns Journalisten, einen kleinen Zipfel der Wahrheit zu erhaschen? Glaube und Wissen sind beide auf Wahrheit gerichtet. In der abendländischen Geschichte stehen die beiden unterschiedlichen Grundhaltungen, Außenansicht und Innensehen, in einem fruchtbaren Wechselspiel. Sie spiegeln sich in der Spaltung von Wissen und Glauben. Der Rationalismus und später die Aufklärung haben diese Spaltung vertieft und die zweiwertige Außenansicht zur einzig wahren Ansicht erklärt.

Wie ist es mit der Aufklärung heute? Was kann Journalismus bringen? Er kann versuchen. Zusammenhänge zu erklären. Er kann auch Wächter sein, wenn andere Institutionen ausfallen. Wie sieht es mit der Kontrollfunktion der Presse aus? Keiner der großen politischen Skandale der Nachkriegszeit ist mit Hilfe eines Parlaments ans Licht gekommen. Welcher Untersuchungsausschuss war mehr als ein Kampfinstrument der Parteien? Wenige. Jeder Mächtige, der das Parlament betritt, kann sich auf seine Fraktion verlassen und manchmal auch auf die Opposition. Die demokratische Aufgabe der Kontrolle wird häufig nur zum Schein wahrgenommen, zu oft gibt es eine Kumpanei der Gegner. Scheinkämpfe werden geflihrt und wenn es ernst wird, sitzen wieder alle in einem Boot. Im Alltag versagt die parlamentarische Kontrolle und auch das normale Regelwerk passt nicht. Es entsteht ein Machtvakuum und in dem können sich für kurze Zeit die Medien tummeln. In jedem Wahlkampf hören Sie den Satz, man müsse verhindern, dass XY an die Macht komme.

Dahinter verbirgt sich die Erkenntnis, dass Macht korrumpieren kann und missbraucht wird. Der recherchierende Journalist hat die Aufgabe, die dunkle Seite der Macht auszuleuchten und den Mächtigen das Gefühl zu geben, dass der Missbrauch nicht völlig gefahrlos wird. Dies macht er in dem Wissen, dass sich die Sudler auf einen langen Zermürbungskrieg einrichten und mit dem Zynismus des Publikums reclmen dürfen. Bei politischen Skandalen geht es um Konflikte über die Verteilung, Ausübung, Kontrolle und Legitimierung von politischer Herrschaft. Skandale entzaubern die soziale Magie der öffentlichen Repräsentation, sind aber in einer politischen Kultur nichts Außergewöhnliches. Entscheidend für den Sittenbefund ist die gesellschaftliche Verarbeitung der Affären. Von Aufdeckung und Aufklärung kann eine Katharsis, eine reinigende Wirkung ausgehen.
Es gibt in diesem unserem Lande vorzügliche Reporter, gute Redakteure. Wer den Leitartikel schreiben darf, im Presseclub sitzt, hat den Ausweis höchster Kompetenz erreicht. Aber die Zeitungen und Sender beschäftigen nur wenige Rechercheure, die ernsthaft enthüllen wollen. Am liebsten bewegt man sich, und das könnte der Journalist Nikolaus Groß, den wir heute ehren wollen, nicht nachvollziehen, in Augenhöhe mit den Mächtigen. Von Kurt Tucholsky, dem großen deutschen Journalisten, stammt der Satz, der deutsche Journalist brauche nicht bestochen zu werden: "Er ist stolz, eingeladen zu sein, er ist schon zufrieden, wie eine Macht behandelt zu werden." Viele Journalisten verwechseln nach wie vor die Funktion der Kontrolle mit dem angenehmerem Geschäft der Kooperation. Die Krankheit des deutschen Journalismus ist nicht die gepflegte Kampagne, sondern die Verwischung von Grenzen zur Politik, zur Wirtschaft, der gegenseitigen Instrumentalisierung für politische und eigennützige Zwecke. Nicht nur der deutsche Philister findet in der Mitte sein Maß. Man äußert sich nur ungern jenseits dessen, was gerade als Konsenskorridor gilt und bitte, kein Risiko.

Aber wenn unsere Demokratie gut funktionieren soll, bedarf sie hartnäckig aufklärender Recherche. Die kostet Geld, die ist teuer. Leider sind immer weniger Verlage und immer weniger Sender bereit, sich solchen Journalismus zu leisten. Aufwändige Reisen müssen gemacht werden. Es kann Fehlschläge geben. Was wir allerdings nicht brauchen, sind rasende Verfolger. Wer in diesen Tagen den Fall Gerster, der auch wegen des Auftretens der Hauptperson vielschichtig ist, verfolgt hat, dem ist sicher aufgefallen, wie energisch da ein Skalp gefordert wurde. Ist er schon zurückgetreten worden. Wird er gleich zurückgetreten? Irgendwie muss so einer doch zu packen sein. Investigativer Journalismus aber muss sich um engagierte Distanz bemühen. Unbekanntes ist nicht allein deshalb verurteilenswert, weil es bisher unbekannt war.
Wir leben heute in einer aufgeregten Zeit, in einer permanenten Gegenwart, ohne Vergangenheit, ohne Zukunft. Ständig wird eine neue Sau durchs Dorf getrieben, es sind ganze Herden von Schweinen unterwegs und es werden immer mehr. Wir leben in einer rastlosen Zeit. Es ist nicht leicht, Leser, Zuhörer und Zuschauer für komplexe Sachverhalte zu finden, aber wir müssen es immer wieder versuchen.

Peter Eigen, der Vorsitzende der Antikorruptions-Organisation Transparency International, hat vor einiger Zeit darauf hingewiesen, dass ohne die Wachsamkeit von Journalisten die Zivilgesellschaft gefährdet werde. Die Presse soll kontrollieren, aber wer kontrolliert die Presse? Seit mehr als vier Jahrzehnten existiert ein Selbstorgan der Presse, der so genannte Presserat. Im Presserat verfolgen Verlegerverbände und Journalistenvereinigungen in paritätischer Besetzung gemeinsame Ziele: Sie stellen Missstände fest, sie geben Empfehlungen und Richtlinien für die Arbeit.

Sie prüfen Beschwerden über einzelne Zeitungen, Zeitschriften und Pressedienste, sprechen Missbilligungen aus und manchmal auch ein öffentliche Rüge. Das wirkt. Auch hat sich die Spruchpraxis der Pressekammern verändert. Die Anhörung der Betroffenen ist heute wichtiger denn je. Verdachtsberichterstattung ist nur zulässig, wenn die Recherchen einen aussagekräftigen Mindestbestand an Beweistatsachen ergeben haben.

Fassen wir zusammen, in welcher Verfassung befinden sich die Medien? Die Aufmachung entscheidet, nicht der Inhalt. Die Reklame, nicht die Qualität bestimmt den Absatz. Das Wort wird Ware. Die Presse schafft nur Stimmungen und erniedrigt das Wort zur Phrase. Phrase tötet die Sache. Alles gelangt heute überall hin, ist aber schon morgen nicht mehr da gewesen. Diese Analyse, meine Damen und Herren, ich muss das jetzt endlich zugeben, ist nicht neu. Schaudernd hat der Wiener Kulturkritiker Karl Kraus die Inszenierungskünstler gegeißelt, die Erfundenes und Halbwahres als Wahrheit ausgäben. Die Kritik von Kraus ist mehr als achtzig Jahre alt. Also sollten wir uns nicht bei Lamento aufhalten. Wir sollten optimistisch sein. Von Wolfgang Borchert, diesem aufregend ehrlichen Schriftsteller, stammt der bildhaft schöne Vers: "Ich möchte Leuchtturm sein in Nacht und Wind - ifir Dorsch und Stint, für jedes Boot - und bin doch selbst ein Schiff in Not."

Leuchtturm möchten wir Journalisten sein und sind doch selbst oft nur ein Schiff in Not: Die Größe der Worte Jesu und die Begrenztheit unserer eigenen Fähigkeit, Ihnen zu entsprechen, sind eine Urerfahrung unseres Glaubens und unseres Lebens.

Aber über alle Wenn und Aber hinweg, gilt eins: Wo Unrecht geschieht, darf niemand wegsehen oder schweigen. Das sind wir auch dem Andenken an Nikolaus Groß schuldig.

Ich danke Ihnen für Ihre Geduld.


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