Gedenkgottesdienst in der Münsterkirche am 23. Januar 2003:

Predigt zum Gedenken an den Seligen Nikolaus Groß

am Donnerstag, dem 23. Januar 2003
in der Essener Münsterkirche

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Liebe Schwestern und Brüder!

Unter dem Titel "Der Pianist" war vor einigen Wochen in den Kinos ein Film über die Geschichte des polnischen Juden Wladyslaw Szpilmann zu sehen, der unter unvorstellbaren Bedingungen das Warschauer Ghetto überlebte. Der ganze Film ist in Schwarz-weiß gedreht. Es ist ein Schattenfilm. Nur eine einzige Szene ist in Farbe gehalten. Die Familie des jüdischen Pianisten sitzt mit Hunderten Leidensgenossen auf einem großen Platz und wartet auf den Abtransport in ein Arbeitslager. Man hofft auf Überleben und Zukunft. Licht fällt auf die Szene, zum ersten und letzten mal in diesem Film. Es ist ein trügerisches Licht. Eine falsche Hoffnung. Ansonsten ist dieser Film das Dokument eines unaufhörlichen Schattens, einer unendlichen Nacht, grau, dunkel, schwarz.

Das Zeugnis von Nikolaus Groß ist nur zu verstehen vor dem Hintergrund dieser Nacht. Es war die Nacht der Zerstörung und der Gewalt. Die Nacht von Schmerzen, Verwundung und Tod. Die Nacht von Schutt und Geröll, von Hunger und Durst, Frieren und Erfrieren. Es war auch die Nacht der Angst und des Schreckens. Die Nacht der Menschenverachtung und des Terrors. Die Nacht der Willkür und der Quälerei. Die Nacht der Demütigung eines ganzen Volkes. Es war eine Nacht, in der es für Hoffnung und Zuversicht keine Begründung mehr gab. Trostlos. Bei zwei Besuchen im Konzentrationslager Auschwitz - dieser Schreckensort liegt bekanntlich auf dem Territorium unseres Partner-Bistums Kattowitz - habe ich das Inferno, die Hölle dort, erfahren: Der Anblick dort macht sprachlos, stumm und ohnmächtig! Wer kann sich von solchen Bildern der Zerstörung und zynischen Menschenverachtung lösen?

Wie konnte das geschehen?

Die Zeit des Nationalsozialismus ist eine Zeit der Gottlosigkeit. Menschen machen sich selbst zum Maß der Dinge. Macht ist zum Selbstzweck geworden; die Vergötzung der eigenen Person und der eigenen Weltanschauung hat die Menschlichkeit totgeknüppelt. Gott ist aus der Welt ausgeklammert worden. An die Stelle des Glaubens ist die Ideologie gerückt. Und in der Gottlosigkeit gehen die Maßstäbe der Menschlichkeit verloren. Menschen machen Menschen zu Untermenschen. Menschen degradieren Menschen zum Gegenstand von Experimenten. Menschen definieren lebenswerte und nicht lebenswerte Existenz. Menschen vernichten schließlich im Vollrausch Millionen von Menschen, deren Geschöpflichkeit und Würde sie nicht mehr sehen, weil sie den Schöpfer nicht mehr sehen. Es ist Nacht geworden, weil die Menschen das Licht Gottes ausgeblendet und weggeblendet haben. Geblieben ist das Dunkel der Lieblosigkeit, Angst und Gewalt.

Voller Schrecken, aber unbeirrbar in seiner Wahrnehmung, blickte Nikolaus Groß früh in diese Nacht hinein. Bald erkannte und benannte er die Zusammenhänge. Das hat ihn gefährlich gemacht: der Blick auf die Zusammenhänge und Ursachen. Sein "Verbrechen" bestand nicht so sehr in kritischen Äußerungen zu konkreten politischen Vorgängen. Nikolaus Groß war gefährlich, weil er die Menschen erinnert hat an Gott und weil er die innere Logik der nationalsozialistischen Ideologie offengelegt hat. Man wollte seinen Geist und seinen Glauben vor dem Gerichtshof mundtot machen und in Plötzensee umbringen. Seine Stimme, die von der Verantwortung der Menschen vor Gott sprach, sollte verstummen. Man wollte die Gedanken der Menschen an Gott ausrotten, indem man Menschen ausrottete, die Zeugnis abgelegten.

Die journalistische Arbeit von Nikolaus Groß in seiner Zeitung war ein Lichtsignal gegen die Dunkelheit seiner Zeit. Damit wollte er Bewußtsein schärfen oder erst wieder wecken. Seine Schriften zum Glauben und zur Familie hielten unermüdlich fest am Gottes- und Menschenbild der Bibel. Mit diesem Bild brachte er die Fratze des Nationalsozialismus ans Licht. Er schärfte den Blick für die Konturen einer Gesellschaft, die ins Dunkel der Unmenschlichkeit getaucht wurde.

Und auch das Zusammenleben und Zusammenstehen der Familie ist eine Lichtquelle in dunkler Zeit. Vertrauen und Treue haben Bestand in einer Zeit des Verrats und des Mißtrauens. Der feste Glaube läßt die Familie einander tragen. Anders ist es nicht vorstellbar, daß Elisabeth Groß sich von ihrem Mann mit Würde verabschieden konnte in ein anderes Leben hinein, ohne von Verzweiflung weggeschwemmt zu werden.

So war Nikolaus Groß "Zeuge des Lichts in dunkler Nacht". Er hielt sich an Gott, als Menschen die Macht an sich gerissen hatten. Und er hat widerstanden gegen alle Tendenzen, den Menschen in die Hände von Menschen zu geben. Er ist ein Beispiel für alle Situationen, in denen es gilt, für den Menschen und für das Leben einzutreten. "Ihr seid das Licht der Welt", heißt es im Evangelium, das wir eben hörten. Und man "zündet auch nicht ein Licht an und stülpt ein Gefäß darüber, sondern man stellt es auf den Leuchter; dann leuchtet es allen im Haus." Das Licht kommt auf den Leuchter nicht, um glorifiziert zu werden, sondern damit es leuchtet. Der Selige Nikolaus Groß wird im Bistum Essen nicht verehrt aus Personenkult, sondern damit er leuchtet. Sein Beispiel soll leuchten in unsere Zeit und ein Licht werfen auf alle Dunkelheiten, mit denen wir konfrontiert sind. Sein Licht soll die Konturen Gottes hervorbringen in einer Welt, die weltanschaulich diffus und indifferent geworden ist. Wir wollen klar sehen und Durchblick haben - auch und gerade in den schwierigen ethischen Fragen unserer Zeit.

Gibt es da nicht schon wieder Auffassungen, die wir überwunden glaubten? Wie steht es um die Akzeptanz und Wertschätzung behinderten Lebens, wenn die Forschung sich in der Produktion von scheinbar "perfekten" Menschen übt? Unser Menschenbild verdunkelt sich, wenn in unserer Gesellschaft von einem Kind als "Schadensfall" gesprochen wird. Die Kategorien von lebenswertem und nicht lebenswertem Leben schimmern auch durch, wenn über die Möglichkeiten der Euthanasie zunehmend bedenkenlos gesprochen wird. Alter, Krankheit und Gebrechlichkeit gehören zum Leben. Wer diesen existentiellen Erfahrungen eliminieren will, der verdunkelt und überschattet zugleich die Würde des Menschen. Das sind Nachterfahrungen in unserer Zeit, heute, jetzt.

Licht aber, das diese Nacht durchbricht, kann allein Gott spenden. Selbst in die Todeszelle in Plötzensee ist ein Lichtschein gefallen - auch und gerade in den letzten Stunden der Angst. Davon dürfen wir ausgehen. Im inständigen Gebet hat Nikolaus Groß eine Lichtquelle gefunden, die seine letzte Wegstrecke erhellt hat. Die wenigen Menschen, die ihn während seiner Haftzeit besuchen durften, waren beeindruckt von der Ausstrahlung der Ruhe und des Vertrauens. Es ist ein Vertrauen, das bis zum Schluß hält. Nikolaus Groß wird getragen von der Erfahrung, daß Gottes Licht noch in die Nacht der Todeszelle hineinreicht. Wo Menschen verstummen müssen, kann Gott es hell machen. Er verwandelt die beängstigende und bedrohliche Dunkelheit der Nacht und läßt ein warmes Licht aufstrahlen - wie wir es jetzt hier im Dom erleben. Das Licht strahlt Ruhe und Frieden aus. Es sammelt uns - wir sammeln uns. Die Nähe Gottes wird spürbar. Wer Gott einläßt in die Nacht der Gottlosigkeit, und wer Gott in seine persönliche Dunkelheit hineinnimmt, der bleibt nicht in der Finsternis stehen. Der macht wider alles Erwarten die Erfahrung des Lichtes und der Hoffnung. Gott gibt ein Licht in unsere finstere Nacht - diese Überzeugung und Erfahrung hat Nikolaus beseelt und getragen.

Im Gedenken an ihn - und ganz wie er es immer wieder getan hat - lasset uns beten.

Lebendiger Gott, du hast dem seligen Nikolaus Groß die Kraft geschenkt, sich als Christ einzusetzen in Familie, Beruf und Gesellschaft und sein Leben hinzugeben im Widerstand gegen die teuflischen Mächte seiner Zeit. Wir bitten dich: stärke auch uns im Glauben, damit wir deinen Auftrag für unser Leben erkennen und ihn mit Mut und Ausdauer erfüllen durch Jesus Christus, deinen Sohn, unsern Herrn und Gott, der in der Einheit des Heiligen Geistes mit dir lebt und herrscht in alle Ewigkeit.

Amen!


Auch verfügbar:

Click here to get more information about this themeOnly in German Predigt aus der Pfarrkirche St. Barbara, Mülheim, vom 26. Januar

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