Ansprache von Schwester Maria Theresia Smith zum 27. Januar 2002:

Gedenkfeier für Nikolaus Groß

im ehemaligen Hinrichtungsschuppen Plötzensee

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Liebe Verwandte, liebe Freunde unseres sel. Nikolaus Groß,

eigentlich möchte man lieber schweigen als reden an diesem Ort. Ein Ort, der beklommen macht mit seiner Mordausrüstung, mit der Erinnerung an mehr als zweitausendfachen gewaltsamen, qualvollen Tod von Männern und Frauen, Deutschen und Ausländern, denen die Gegnerschaft gegen den Diktator Hitler und sein Regime gemeinsam war. Menschen, die sich zumeist bewusst zum aktiven Widerstand entschlossen hatten, früher oder später. Menschen, die in einem Land voller Spitzel und Denunzianten eine gefährliche Doppelexistenz auf sich nahmen, um ihrem Gewissen zu folgen und etwas dafür zu tun, dass die Herrschaft der Rechtlosigkeit und Gewalt abgekürzt und die Zeit "danach" vorbereitet werde.

Nikolaus Groß gehörte zu ihnen, der "leise Verschwörer", wie ihn einer genannt hat. In diesen Tagen haben wir unvergessliche Anstöße zur Besinnung auf die Botschaft seines Lebens und Sterbens erhalten. Die Stunde der Besinnung hier unter dem Galgen, an dem er starb, konfrontiert uns noch einmal mit der unaufdringlichen Konsequenz, die ihn auszeichnete, mit der bei ihm ein Schritt auf den anderen folgte, sie allesamt wie sein ganzer Weg getragen und inspiriert von der Kraft seines Glaubens und seiner Liebe.

Schon oft werden Sie sich gefragt haben: Wer war er, dieser "leise Verschwörer"? Wird man - nach 57 Jahren - Neues an ihm entdecken können? Ausgeschlossen wäre das nicht, denn, wie er selbst gesagt hat, ist jeder Mensch sein Geheimnis, das sich nie vollständig mitteilt. Ich möchte jedenfalls danach fragen, wer er war, was er selbst als Person, als der Mensch, der er war, uns heute sagen kann und vielleicht sagen möchte, uns, dir und mir. Dabei geht es mir nicht um neue Erkenntnisse über ihn, sondern um ein neues, nachdenkliches Hören und Erspüren dessen, was in seinem Leben, seinen Worten Botschaft für uns sein kann. Für uns als Christen, die wir in diesen verworrenen und unsicheren Zeiten Orientierung für uns selbst und unseren Weg in Kirche, Politik und Gesellschaft suchen.

Ich glaube, dass uns Nikolaus Groß einen zweifachen Weg zeigt: einen radikalen Weg nach außen und einen radikalen Weg nach innen. Es ist nicht neu, dass das Auseinanderfallen dieser beiden Wege als ein Grundübel der Kirche und in einem weiteren Sinn auch der Gesellschaft diagnostiziert wird. Mit anderen, nur scheinbar einfacheren Worten gesagt: Es fehlt die Weisheit, in der wir die auseinanderstrebenden Seiten unseres Lebens und der Welt zusammenhalten und in einer fruchtbaren Spannung leben können.

Als ich immer wieder Texte von Nikolaus Groß las und über das Geheimnis seines Lebens nachdachte, fiel mir ein Gedicht von Hilde Domin ein, das so beginnt:

Man muß weggehen können und doch sein wie ein Baum:

als bliebe die Wurzel im Boden, als zöge die Landschaft und wir ständen fest.

Er konnte es. Er konnte weggehen und war doch wie ein Baum, fest verwurzelt im Boden. Er fand die Kraft, die Zerreißproben, vor die er sich im Leben gestellt sah, auszuhalten, ja, an ihnen zu wachsen.

Am 12.Nov. 44 schreibt er aus dem Gefängnis Tegel an seine Frau und seine Kinder: "Ich meine, daß ich dir im Geiste nie so nahe gewesen und so eng verbunden war als jetzt, wo wir äußerlich so sehr getrennt sind. Und auch die Kinder haben meinem Herzen nie näher gestanden."

Seine Briefe aus der Haft lesen sich wie Variationen zu diesem Grundthema: Gehen und Bleiben, Ferne und Nähe, Trennung und Verbundenheit, Einsamkeit und Frieden. Wir ahnen nur die Schmerzen, die es ihn gekostet haben muß, diese Gegensätze in sich zu verbinden. Seine Briefe sprechen vor allem von der tiefen Verwurzelung in seiner Familie, die aber angewiesen ist auf eine ständige Erneuerung und Vertiefung von beiden Seiten. Geradezu flehend, beschwörend klingen seine beständigen Bitten, ihn im Gebet nicht zu vergessen. Es ist alles eine Frage der Beziehung, auch das Gebet. "Nur wenn unser Gebet aus der Tiefe des Herzens kommt, dringt es bis zu Gott. Gut, vor allen Dingen gut beten. Sage es den Kindern" (Brief vom 17.9.44).

Das Gebet "aus der Tiefe des Herzens" erreicht Gott und zugleich den geliebten Menschen, für den wir beten. Für Nikolaus Groß ist es der radikale Weg nach innen und nach außen. Es verbindet die eigene Tiefe, die eigene Wahrheit, das eigene Ich mit Gott in mir und im anderen. Es bewirkt Einheit. Es ist mit der Liebe verwandt, drückt sie aus. Nikolaus Groß schreibt am 11. Sept. 44: "Meine Gedanken sind bei euch bei Tag und bei Nacht. ... In diesen Wochen ist mir klar geworden, daß wir nicht mehr zu tun vermögen, als Liebe zu säen und Güte auszuteilen.. Es ist das Höchste, was wir vermögen. Ich möchte es so gern an euch tun und immer wieder tun."

Am 30. Sept.: "Durch das Gebet bleibe ich euch in jeder Stunde nahe. Keine Zeit des Tages, in der ich nicht für euch und mit euch betete..." Und am 22.Okt.: "Ich möchte, was ich an Kraft der Seele besitze, nur so als Liebe und Güte hingeben an euch, meine Herzlieben. Und wenn ihr aus meinen dürftigen Zeilen einen Gewinn ziehen wollt, dann seid einander reich und freigebig in der Liebe, die ihr euch schenkt. Die Liebe ist und bleibt das größte." Das "Höchste", was wir vermögen; das "Größte", was ist. Es klingt die Radikalität seines Weges nach innen und nach außen an: Die Liebe muß gesät, die Güte ausgeteilt werden. Dieser nüchterne, dieser "leise" Mensch gerät an die Grenze des Vorstellbaren und Sagbaren in einer Situation der Ohnmacht und Preisgegebenheit. Es sind nicht Wunschträume, denen er nachhängt. Er schreibt aus einer Erfahrung der Fülle.

Ich möchte an dieser Stelle innehalten und zurückblenden auf den Weg, den Nikolaus Groß gegangen war, bzw. den er geführt wurde. Beides wäre wohl richtig aus seiner Sicht. Sie kennen die Vergrößerung aus dem Foto der Abschlussklasse von 1912 der katholischen Volksschule in Niederwenigern: ein nicht besonders glückliches Jungengesicht schaut uns an. Mit seinen 14 Jahren wurde dieser Junge Bergarbeiter. Acht Jahre später ist er bereits hauptberuflich als Jugendsekretär im "Gewerkverein christlicher Bergarbeiter Deutschlands" in Oberhausen tätig. Wer hat ihn ermutigt, seine Ziele weiter zu stecken, sich in Rhetorik schulen zu lassen, Fortbildungskurse zu besuchen neben seiner schweren Arbeit? Vielleicht erlebte er selbst den Einsatz christlicher Arbeiterführer als befreiend und wollte es ihnen gleich tun. Es kommt mir so vor, als könnte man hier bereits sein soziales und politisches Verantwortungsbewusstsein greifen, diese Zielstrebigkeit weiterzukommen, seine Fähigkeiten einzusetzen, sich herausfordern zu lassen von strukturellen Mängeln in seiner Umgebung wie auch von den Gefahren der instabilen politischen Situation der 20iger Jahre.

Parallel zu seiner beruflichen Entfaltung wächst seine Familie, die er 1923 mit Elisabeth Koch, einer Klassenkameradin aus der Kath. Volksschule, gegründet hat. Sie sollte ihm an innerer Größe nicht nachstehen. Nirgendwo hört man, dass er seine Familie als Last angesichts seiner wachsenden beruflichen Aufgaben gesehen hätte. Im Gegenteil: Sie ist für ihn eine Quelle der Kraft und Lebensorientierung, wie seine Reflexionen in dem schönen Buch "Sieben um einen Tisch" zeigen.

Mir scheint, dass sich ihm die 'Kraftquelle Familie' erschloss, weil er sich konsequent (wie er alles in seinem Leben unternahm), auf ihre Realitäten einließ. Nicht als Verpflichtung, sondern weil sie zu seinem Leben gehörte. Es war ein radikaler Weg nach innen, den er in und mit seiner Familie ging, eine liebevolle Entdeckungsreise zu den Wurzeln des Lebens und den Wachstumsschritten seiner Kinder. Bei ihnen ging er permanent in die Schule. Nichts war zu banal, um nicht Lehrstoff für ihn zu sein. Die Familie war seine Lebensschule. Gerade darum hat sie ihn nicht festgehalten, sondern gestärkt und freigegeben für seinen Weg. So verstand er auch ihre Aufgabe gegenüber jedem ihrer Mitglieder. Darin muss es zwischen ihm und seiner Frau, der "Mutter", eine tiefe Übereinstimmung gegeben haben. Nicht 'Festhalten', sondern 'Loslassen' ist ihre Lebensweisheit. In diesem Zusammenhang spricht er von den Kindern als von "unseren Gästen" und fährt fort: "Gäste nennen wir sie, weil sie heute bei uns leben, morgen oder übermorgen oder irgendwann einmal wieder gehen. Wir haben sie zu eigen bekommen, und doch sind sie nicht unser Eigen." Und an anderer Stelle: "Es ist der Gang der Natur, dass wir entlassen müssen, was wir empfingen, dass uns verloren geht, was wir mit leidenschaftlichem Begehr festhalten möchten." Als Nikolaus Groß diese Sätze schreibt, ist sein Ältester Klaus bereits als vermisst gemeldet. In seinen Briefen aus der Haft spürt man etwas von dem "leidenschaftlichen Begehr", mit dem er sich auf das Gebet wirft und die Seinen dazu auffordert, um seinen Sohn zu retten. Kämpfen um das "Eigene", nicht aufgeben und doch ergeben sein in eine höhere Führung, das ist Weisheit.

Im Spannungsfeld zwischen dem bunten Wechsel kindlicher Wunschträume und dem hohen Leitbild der Eltern stößt der Vater an seine Grenzen. Er ist sich vielleicht nicht bewusst, in welchem Maß dieses sein Leitbild der Erziehung bekenntnishafte Züge trägt. Es ist leistungsorientiert, willensorientiert, vor allem seinsorientiert. Er nennt Innerlichkeit als Reichtum des Menschen, Einfachheit und Ganzheit als Ziel, Treue zu sich und seinem Wesen als das Äußerste, was vom Menschen gesagt werden kann. - Ja, es ist in gewisser Weise ein Selbstbildnis, das Nikolaus Groß hier von sich zeichnet. Dazu gehört auch, dass er diesem Leitbild gegenüber seine Unvollkommenheit und Unzulänglichkeit eingesteht und zugleich die Unlösbarkeit der Aufgabe, seinen Kindern zu vermitteln, was er selbst nicht erreichen konnte. Wie er diesem Dilemma entkommt, ist bemerkenswert. Ich lese den betreffenden Passus aus "Sieben um einen Tisch": "Wenn ich dann aber vor meinen Kindern stehe und sie anschaue, ... wenn ich in der Erinnerung den vielen sich kreuzenden, zusammenlaufenden und auseinanderstrebenden Wegen nachgehe, die sich durch ihr Leben ziehen, wenn ich in diesem Leben lese und nach Antwort suche, dann finde ich: Jeder Mensch trägt seine Bestimmung in sich. Niemand kann ihr ausweichen oder sich entziehen, ohne sich selbst untreu zu werden. Mag es unsere Bestimmung sein, uns in unseren Kindern zu verwirklichen. Wenn uns die Bestimmung zugefallen ist, dann wird uns auch die Kraft gegeben, sie zu erfüllen." Der Abschnitt endet mit dem großartigen Bekenntnis: "Wer vom Leben klein denkt, den behandelt es kleinlich. Wer aber an das Leben glaubt und ihm vertraut, den enttäuscht es nicht."

Es drängt sich uns die Überlegung auf, dass unsere an Kindern arme Gesellschaft den Lernort 'Familie' zu selten anbieten kann. Damit droht unserer Erwachsenenwelt die durch nichts zu ersetzende Berührung mit dem wirklichen Leben, wie sie uns im Umgang mit Kindern zuteil wird, fremd zu werden. - "Wer vom Leben klein denkt, den behandelt es kleinlich. Wer aber an das Leben glaubt und ihm vertraut, den enttäuscht es nicht."

Hier, am Ort seines gewaltsamen Todes, hören wir sein radikales Bekenntnis zum Leben. Leben zu entdecken, Leben zu fördern, zu schützen, lebensfeindliche Mächte zu demaskieren, das war die Bestimmung von Nikolaus Groß. Er hätte - und er hat - sein Bekenntnis zum Leben, das uns nicht enttäuscht, auch hier, an diesem Ort, nicht zurückgenommen. Er hat es nur ein klein wenig anders formuliert.

"Wie gut ist doch Gott und wie reich hat er mein Leben gemacht", schreibt er an Frau und Kinder in seinem Abschiedsbrief, zwei Tage vor seinem Tod. Und - in einer feinen Variation zum Thema 'Bestimmung des Menschen': "Habt keine Trauer um mich - ich hoffe, dass mich der Herr annimmt. Hat er nicht alles wunderbar gefügt."

Kein Fragezeichen. Kein Ausruf. "Hat er nicht alles wunderbar gefügt." - Punkt. Eine schlichte Feststellung. Kein Erstaunen. Summe eines kurzen, radikal gelebten Lebens. Aber der Satz wendet sich an die Leser: "Hat er nicht alles wunderbar gefügt." - Nicht wahr, so ist es doch: Wer an den Gott des Lebens glaubt und ihm vertraut, den enttäuscht er nicht.


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