Eucharistiefeier in Hattingen-Niederwenigern am 9. November 2001:

Predigt von Weihbischof Franz Grave

in der Pfarrkirche St. Mauritius

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Liebe Schwestern und Brüder!

Die Reichspogromnacht ist der Inbegriff national sozialistischen Terrors und ideologischer Hetzjagd im Dritten Reich. Am 9. November 1938 wurden jüdische Geschäfte zerstört; hemmungsloser Haß brach sich Bahn in vielen Gewalttaten gegen Gebäude und Synagogen, Menschen und Gegenstände. Das Ziel nationalsozialistischer Ideologie wurde unmißverständlich enthüllt: Die systematische Drangsalierung eines ganzen Volkes. Es sollte um Ausrottung gehen. Die Reichspogromnacht setzte das Signal dafür.

Konnte man das ahnen? Konnte man es wissen? Was wußte man? Was hätte man wissen können? Was hätte man wissen müssen? Was wollte man wissen? Viele Diskussionen im Zuge der Aufarbeitung des Dritten Reiches drehen sich um diese Fragen.

Heute müssen wir sagen: Man hätte sehen können. Bei der Beschäftigung mit den Veröffentlichungen von Nikolaus Groß ist mir in den letzten Wochen deutlich geworden, wie klarsichtig und konsequent Nikolaus Groß in der Beurteilung des Nationalsozialismus war. Das Ruhrwort hat vor der Seligsprechung Originalbeiträge aus der Westdeutschen Arbeiterzeitung beziehungsweise aus der Ketteler Wacht dokumentiert, die in dieser Perspektive fast prophetisch zu nennen sind.

1935, drei Jahre vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, schreibt Nikolaus Groß über die den Nazis nahestehende "Deutsche Glaubensbewegung": "Die antichristliche Kampfrichtung der deutschen Glaubensbewegung ist es nicht allein. Viel gefährlicher ist die Verwirrung und Säkularisation religiöser Werte und Begriffe, die sie verschuldet. Sie lehnt das christliche Dogma ab und erhebt gleichzeitig ihre deutsche Welt und Gottschau zur Alleingültigkeit. Sie erklärt das Christentum für artfremd' und darum unvereinbar mit echter deutscher Haltung. (...) Und wenn sie den Glauben an Volk, Rasse, Heimat und an die großen Gestalter deutschen Schicksals auf eine Wertstufe mit dem Glaubens an Gott stellt, so ist bei allem Respekt vor einer ehrlichen anderen Überzeugung doch zu sagen, daß dem Christen der Glaube an Gott und an die ewigen christlichen Wahrheiten etwas wesenhaft anderes ist als der Glaube an Volk, Rasse und Heimat." An vielen anderen Stellen hat Nikolaus Groß die geistigen Wurzeln und die Konsequenzen solchen Denkens messerscharf benannt, zu Beginn offen und direkt, später mehr zwischen den Zeilen, aber gut verständlich für die Leser. 1936 hat er unkommentiert den Hirtenbrief der Niederländischen Bischöfe über die Judenverfolgung in der Westdeutschen Arbeiterzeitung dokumentiert.

Die geistige Auseinandersetzung mit seiner Zeit entwickelt sich zur Lebenslinie für Nikolaus Groß. Er läßt sich ein auf die Welt und ihre Tendenzen. In der Auseinandersetzung damit, die er offen, aber unbestechlich führt, erkennt und entlarvt er den Geist seiner Zeit. Er studiert die Welt und das Denken der Mächtigen, paßt sich aber nicht an. Unverwechselbar bleibt er in seiner Haltung und stellt diese Haltung dem Denken der Macht gegenüber. Die christliche Grundhaltung ist Basis für seine Auseinandersetzung mit der Welt. Der Glaube gibt ihm den Auftrag zu dieser Auseinandersetzung. Er läßt die Welt nicht links liegen und zieht sich zurück, sondern sucht die Offensive der Auseinandersetzung. In der Welt lebt er, ohne einer von der Welt zu werden.

Diese Konsequenz bestimmt seinen Lebensweg und schließlich sein Ende. Es entspringt seiner Religiösität, die Tendenzen, die er erkennt, mit Freimut zu benennen und ihren Geist bloßzustellen. Schweigen wird unmöglich. Nikolaus Groß ist ein Welttüchtiger, kein Weltflüchtiger. Das Risiko ist ihm wohl bewußt, kann ihn aber letztlich nicht beirren. Sein Glaube bewährt sich durch diesen Weg der Konfrontation und mutigen Kritik, der ihn an den Galgen und in den Tod führt.

Nikolaus Groß ist in diesem Punkt klarer gewesen als mancher Bischof und Geistliche. Dies muß heute benannt werden; dies muß heute aufgearbeitet werden. Es war der Laie Nikolaus Groß, der das Zeugnis des Gläubigen gab. Es war der Laie Nikolaus Groß, der sich unbeirrbar auf den Herrn verlies; es war der Laie Nikolaus Groß, der den Mut der Gotteskinder hatte; es war der Laie Nikolaus Groß, der aus einer tiefen christlichen Hoffnung heraus den Weg in den Tod annahm.

Heiligkeit also wächst nicht bloß da, wo ein Altar ist oder ein frommer Wind weht. Heiligkeit gedeiht in einem Menschen, der wirklich auf Gott baut und dem Glauben alles unterordnet. Sie entspringt aus der Reibung mit der Welt und aus der Auseinandersetzung mit der Welt. Die Welt ist dem Christen aufgegeben; in der Welt bewährt sich der Glaube. In der Welt kann der Mensch kein anderer sein als in der Kirche. Der Glaube ist tragender Grund für die ganze Existenz. Nikolaus Groß ist selig, weil er dies tat: den Glauben zum Grund, zum Untergrund und Fundament seines Lebens zu machen. Er tat dies als Ehemann und Vater, als Gewerkschafter, als Journalist. In allem Tun lies er den Willen Gottes durchscheinen. Das macht ihn zum Seligen, zum Vorbild, zur faszinierenden Gestalt für unsere Zeit.

Amen!


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