Predigt von Weihbischof Franz Grave am 6. April 2000:

Predigt im Schulgottesdienst des Nikolaus-Groß-Abendgymnasiums

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Liebe Schwestern und Brüder!

Wir kennen die Geschichte vom Goldenen Kalb:

Dem Volk war auf seinem langen und entbehrungsreichen Marsch durch die Wüste der Atem ausgegangen. Nur auf das Wort Jahwes hin hatten sie sich auf den Weg gemacht, geführt von Mose, dem Mittler zwischen Jahwe und dem Volk. Aber die Unsichtbarkeit Gottes überforderte das Volk. Als die Strapazen immer schlimmer werden, verlangen sie nach sichtbaren Götter, nach Göttern, die immer zur Verfügung stehen, die mitgetragen, aufgestellt und angebetet werden können. Das Vertrauen war ihnen ausgegangen. Kleinglaube und Ängstlichkeit ergriffen sie, und so schufen sie sich einen Ersatzgott, der ihnen scheinbar gab, was Gott verheißen hatte: Sicherheit, Orientierung, Sinn. Jahwe hatte sein Wort gegeben, aber das Volk mochte sich darauf nicht mehr verlassen. Aber das Kalb erweist sich als das, was es ist: ein Trugbild, ein Selbstbetrug, ein Ersatz. Das Goldene Kalb ist ein schwerer Bundesbruch. Das Volk kündigt darin seinen Glauben auf; es bricht seinen Teil des Bundes, der im bedingungslosen und echten Vertrauen auf Gott besteht. Das Goldene Kalb steht zwischen Mensch und Gott. Es versperrt schließlich die Sicht, so daß der Mensch sein Herz allein an den Ersatzgott hängt. Von etwas Endlichem, einem Teil der Welt, erhofft er irrtümlich, was nur Gott bewirken und schenken kann: Heil, Frieden und Sinn.

Das "goldene Kalb", um das die Israeliten tanzten und das sie anbeteten, ist zu einer sprichwörtlichen Bezeichnung für Götzendienst und Ersatzgötter aller Art geworden. Das Kalb der Israeliten war nicht das erste und nicht das letzte.

Doch Goldene Kälber sind Ersatzkonstruktionen. Sie sind hohl und stehen auf tönernen Füßen. Vordergründig und zunächst stellen sie eine Entlastung dar: die Anstrengung des Vertrauens wird gemildert. Immer stehen Menschen in der Gefahr, Gegenstände, Gedanken oder andere Menschen zu verabsolutieren. Die Versuchung vom Goldenen Kalb ist jedem Menschen aufgegeben. Das Goldene Kalb hat viele Gesichter. Es wird überall da errichtet, wo Menschen Götzendienst verrichten.

Was sind die Goldenen Kälber unserer Zeit? Ich will nur einige wenige nennen.

Zum Beispiel das Goldene Kalb des Konsums. Haben und Besitzen werden für viele zum Synomym für Glück und Sinnerfüllung gemacht. Die Enttäuschung und Ernüchterung ist vorprogrammiert. Menschen verkaufen ihre Seele, um zu haben. Im Wettlauf um den Wohlstand opfern Mütter und Väter Zeit und Kraft, so daß füreinander und für die Familie nichts mehr übrigbleibt. Menschen kreisen um Kursgewinne und Aktienkäufe und träumen vom Geld, das keine Leistung, kein Arbeit erfordert. Der Crash an der Börse wird zur persönlichen, nicht nur finanziellen Katastrophe. Eltern wagen es nicht, ihren Kindern teure Geschenke zu verweigern, damit diese nicht ausgeschlossen und verspottet werden.

Oder das Goldene Kalb Erlebnis. Alles muß zum Erlebnis werden: der Einkauf im Supermarkt, der Ausflug am Wochenende in den Erlebnispark, das Schwimmen findet selbstverständlich im Erlebnisbad statt. Fernsehen kopiert die Wirklichkeit und spielt sie dem Millionenpublikum vor, weil anders kein weiterer Kick der Aufregung zu erreichen ist. Aber wo werden über all dem Erleben Erfahrungen gemacht?

Oder das Goldene Kalb der Macht. Wenn der Mensch sich selbst zum Maßstab der Dinge macht, indem er sich über Gesetze und Regeln stellt, Rat und Beratung mit anderen verweigert und sich nicht mehr für kritisierbar hält, dann wird die Macht, der Einfluß und letztlich das Ego selbst zum Goldenen Kalb. Doch dahinter steckt Selbstüberschätzung, die sich als Fassade erweisen muß, die jederzeit einstürzen kann.

Goldene Kälber gibt es im Leben des Einzelnen wie im Leben der Gemeinschaft. Allen Spielarten ist eines gemeinsam: Das Vorletzte wird zum Letzten erhoben, das Endliche zum Unendlichen verklärt, das Weltliche wird vergöttert und damit zum Götzen. Das ist die Lehre vom Goldenen Kalb: Wo immer in der Welt einer nicht mehr weiß, daß er höchstens der zweite ist, da ist bald der Teufel los. Und wo der Teufel los ist, da geraten selbst die Treuen in Gefahr, das Gleichgewicht zu verlieren. Der Blick verschwimmt. In solchen Situationen erweisen sich die wirklich Entschiedenen, die Bekenner.

Das teuflische Gesicht des Götzendienstes hat Tausende während des Nationalsozialismus geblendet. Die Fratze der Ideologie hat ein furchtbares Gesicht. Personenkult und Rassenwahn verbanden sich zu einer Ersatzreligion, die vielen die Sinne vernebelte. Im Dienst der Ideologie gingen Freundschaft, Mitgefühl und Menschlichkeit verloren. Menschen ließen sich zu Handlungen verführen, für die jedes Verständnis fehlt. Doch Heilsversprechungen zogen die Menschen in ihren Bann, führten zur Verirrung und letztlich zur Unmenschlichkeit.

Die Entschiedenen durchschauten das Spiel und behielten den Blick für die Relationen. Einige wenige fanden den Mut, ihre Einsicht nicht nur zu bewahren, sondern sie auszusprechen und zu bekennen. Nikolaus Groß hat für diesen Mut mit dem Leben bezahlt. Denn sein Zeugnis hat den Kern, den Dreh- und Angelpunkt der nationalsozialistischen Theorie getroffen. Nicht der Einwand gegen dieses oder jenes hat zu seiner Verhaftung und Hinrichtung geführt. Bekenner wie Nikolaus Groß sind deshalb gefährlich für die Mächtigen gewesen, weil sie die Ideologie als solche entlarvten. Sie zeigten den Menschen den Schein, Lug und Betrug auf. Das hat den Nationalsozialismus im Innersten getroffen; daß hinter der Verbrämung und den Heilsversprechungen die Leere und Sinnlosigkeit sichtbar gemacht wurde.

Das Gegenmittel gegen die Versuchungen der Goldenen Kälber ist der Glaube. Wer Gott im Blick behält, für den bleiben auch die Dinge der Welt in ihrer richtigen Relation. Versklavung an irgendeinen Besitz, eine Theorie oder einen Menschen wird überflüssig, wenn wir Gott als Schöpfer erkennen, bekennen und bezeugen. Der Glaube ist die Alternative zum Götzendienst und befreit von der Verehrung der goldenen Kälber. In dieser Perspektive hat das Zeugnis der Christen für unsere Gesellschaft eine befreiende Wirkung. Manches kann entkrampft und innere Freiheit kann erreicht werden, wenn sich der Blick über das Endliche hinaus dem Ewigen wieder zuwendet - nicht immer und nicht ausschließlich. Wir predigen wahrhaftig keine Abkehr von der Welt, aber eine Zuwendung zur Welt in der Perspektive Gottes. Dieses Zeugnis, das die goldenen Kälber als Trug entlarvt und die Menschen wieder zu sich selbst führt, sollten wir nicht vorenthalten. Jeder von uns kann seinen Teil dazu beitragen, indem er schlicht Zeugnis gibt von seinem Glauben, indem er die Transzendenz nicht preisgibt. Die Gottvergessenheit ist eine Gefährdung unserer Zeit. Als Christen sind wir aufgerufen, Gott in Erinnerung zu bringen, damit der Blick für das Wesentliche nicht verloren geht. Der Glaube ist die Therapie gegen den Nebel. Im Glauben gewinnen wir wieder klare Sicht.

Amen!

Weihbischof Franz Grave


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